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Kein Fristablauf: Die Uhr wurde vom Bundesamt bei Dublin-Verfahren nun gestoppt. Foto: Jan Vašek auf Pixabay

Nach der Aussetzung von Dublin-Überstellungen kommt das BAMF mit einem Trick um die Ecke: Aussetzung der Überstellungsfrist. So soll verhindert werden, dass Asylsuchende hier ein Asylverfahren bekommen. Damit verursacht das BAMF Chaos bei Beratungsstellen und bereitet eine neue Klagewelle bei den Verwaltungsgerichten vor.

Am 18. März 2020 beschloss das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF), auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie kei­ne Dub­lin-Über­stel­lun­gen mehr durch­zu­füh­ren (PRO ASYL berich­te­te auf dem Coro­na-Ticker). Ange­sichts der dra­ma­ti­schen gesund­heit­li­chen Lage in vie­len Mit­glied­staa­ten der EU und um das Coro­na-Virus nicht wei­ter zu ver­brei­ten, eine rich­ti­ge Ent­schei­dung, die auch PRO ASYL gefor­dert hat­te. Ita­li­en, das aktu­ell am här­tes­ten von der Coro­na-Kri­se getrof­fe­ne Land der Welt, ist zum Bei­spiel nor­ma­ler­wei­se mit einem Drit­tel der Über­stel­lun­gen Haupt­ziel von Dub­lin-Über­stel­lun­gen aus Deutschland.

Update, 16.04.2020: Die EU-Kom­mis­si­on stellt in ihrer Kom­mu­ni­ka­ti­on zu Covid-19 und der Asyl­po­li­tik fest, dass eine Aus­set­zung der Über­stel­lungs­fris­ten auf­grund einer Pan­de­mie kei­ne Rechts­grund­la­ge in der Dub­lin-III-Ver­ord­nung hat und bestä­tigt damit die Rechts­auf­fas­sung von PRO ASYL. Ent­spre­chend müs­sen laut Kom­mis­si­on die Fris­ten wei­ter­lau­fen und die Ver­ant­wor­tung nach Frist­ab­lauf auf den Mit­glied­staat über­ge­hen, in dem sich die Per­son aktu­ell aufhält.

Update Mai 2020: In meh­re­ren Ent­schei­dun­gen wur­de vom VG Schles­wig-Hol­stein die Unter­bre­chung der Frist als euro­pa­rechts­wid­rig beur­teilt und nach Frist­ab­lauf die Zustän­dig­keit Deutsch­lands fest­ge­stellt. Sie­he bei­spiels­wei­se VG Schles­wig-Hol­stein, Urteil vom 15.05.2020, Az. 10 A 596/19

Keine Überstellungen, aber bloß nicht für die Asylverfahren zuständig werden!

Anschei­nend will das Bun­des­amt aber alles tun um zu ver­hin­dern, dass Asyl­su­chen­de auf­grund von Frist­ab­lauf in Deutsch­land blei­ben könn­ten. Zum Hin­ter­grund: eins der Grund­prin­zi­pi­en der euro­päi­schen Dub­lin-III-Ver­ord­nung ist, dass eine Per­son in dem aktu­el­len Mit­glied­staat blei­ben darf und dort ihr Asyl­ver­fah­ren durch­lau­fen kann, wenn sie nicht inner­halb von in der Regel sechs Mona­ten in den Erst­ein­rei­se­staat über­stellt wird. Die Ver­ord­nung ist am sog. Beschleu­ni­gungs­ge­bot aus­ge­rich­tet, um für Betrof­fe­ne nach einer bestimm­ten Zeit end­lich Rechts­si­cher­heit zu schaffen.

Ins­ge­samt fin­det nur in weni­ger als einem Drit­tel der Dub­lin-Fäl­le (28%) eine Über­stel­lung aus Deutsch­land in einen ande­ren Mit­glied­staat statt. Dies kann ver­schie­de­ne Grün­de haben, zum Bei­spiel wenn Deutsch­land sich aus huma­ni­tä­ren Grün­den für zustän­dig erklärt (Selbst­ein­tritt) – wobei das mitt­ler­wei­le immer sel­te­ner vor­kommt und in 2019 nur in 3.070 Fäl­len gesche­hen ist (2018 wur­de noch in 7.809 Fäl­len das Selbst­ein­tritts­recht genutzt). Oft­mals sind es auch die Gerich­te, die aus recht­li­chen Grün­den im Eil­ver­fah­ren eine Über­stel­lung stop­pen (Zah­len zu fin­den hier). Sta­tis­tisch wird nicht erfasst, wie häu­fig Deutsch­land auf­grund von Frist­ab­lauf für einen Asyl­an­trag zustän­dig wird, aber die­se Zahl dürf­te erheb­lich sein.

Anstatt wäh­rend der Coro­na-Kri­se Fäl­le durch einen Selbst­ein­tritt oder zumin­dest durch Frist­ab­lauf sich von selbst erle­di­gen zu las­sen, hat das Bun­des­amt nun die Aus­set­zung der Frist aus dem Hut gezaubert

Anstatt wäh­rend der Coro­na-Kri­se Fäl­le durch einen Selbst­ein­tritt oder zumin­dest durch Frist­ab­lauf sich von selbst erle­di­gen zu las­sen, hat das Bun­des­amt nun die Aus­set­zung der Frist gemäß § 80 Abs. 4 Ver­wal­tungs­ge­richts­ord­nung (VwGO) in Ver­bin­dung mit Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-Ver­ord­nung aus dem Hut gezau­bert – und Bera­tungs­struk­tu­ren damit in Auf­ruhr ver­setzt. Denn bis­lang war der Ver­such einer sol­che Aus­set­zung in Dub­lin-Ver­fah­ren bis auf weni­ge Aus­nah­me­fäl­le nicht bekannt.

Zermürbende Hängepartie widerspricht Europarecht

In dem Schrei­ben des BAMF, das aktu­ell an alle Dub­lin-Fäl­le ver­schickt wird, wird ange­führt, dass auf­grund der Coro­na-Kri­se Dub­lin-Über­stel­lun­gen nicht zu ver­tre­ten sei­en und die Über­stel­lung aus­ge­setzt ist. Zudem wird die Aus­set­zung der Voll­zie­hung der Abschie­bungs­an­ord­nung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-Ver­ord­nung ange­kün­digt. Nach einer sol­chen Aus­set­zung soll die Über­stel­lungs­frist kom­plett neu zu lau­fen begin­nen. Wenn also jemand eigent­lich schon vier Mona­te der Frist rum hat, hat das Bun­des­amt nach Ende der Aus­set­zung also erneut sechs Mona­te Zeit, um die Rück­füh­rung zu orga­ni­sie­ren. Für die Betrof­fe­nen eine zer­mür­ben­de Hän­ge­par­tie, die so noch mehr in die Län­ge gezo­gen wird.

Für die Betrof­fe­nen eine zer­mür­ben­de Hän­ge­par­tie, die so noch mehr in die Län­ge gezo­gen wird.

Das wider­spricht auch dem der Dub­lin-III-Ver­ord­nung zu Grun­de lie­gen­den Beschleu­ni­gungs­ge­bot, nach der die Bestim­mung des zustän­di­gen Mit­glieds­staats und damit auch der Zugang zum inhalt­li­chen Asyl­ver­fah­ren schnell erfol­gen soll. Denn grund­sätz­li­ches Ziel der Dub­lin-Ver­ord­nung ist es, für jede/n Asylsuchende*n einen zustän­di­gen Mit­glied­staat zu defi­nie­ren und so das Phä­no­men der »refu­gees in orbit« (Flücht­lin­ge ohne zustän­di­gen Staat) zu ver­hin­dern. So beschreibt es selbst die Ver­ord­nung in ihrem Erwä­gungs­grund 5:

»(…) Sie soll­te ins­be­son­de­re eine rasche Bestim­mung des zustän­di­gen Mit­glied­staats ermög­li­chen, um den effek­ti­ven Zugang zu den Ver­fah­ren zur Gewäh­rung des inter­na­tio­na­len Schut­zes zu gewähr­leis­ten und das Ziel einer zügi­gen Bear­bei­tung der Anträ­ge auf inter­na­tio­na­len Schutz nicht zu gefährden.«

Ohne Rechtsgrundlage – das BAMF verschickt Aussetzung an alle Dublin-Fälle

Die Aus­set­zung der Voll­zie­hung der Abschie­bungs­an­ord­nung nach der Ver­wal­tungsgerichtsord­nung ist nur dann recht­lich mög­lich, wenn der Dub­lin-Bescheid noch nichts bestands­kräf­tig ist, d.h. wenn noch frist­recht Kla­ge erho­ben wer­den kann oder eben schon erho­ben wur­de. Auch die Rege­lung in der Dub­lin-III-Ver­ord­nung, auf die sich das Bun­des­amt beruft, bezieht sich auf anhän­gi­ge Klageverfahren.

Im Ver­wal­tungs­ver­fah­rens­ge­setz, wel­ches nicht die Ver­fah­ren vor Gericht, son­dern vor den Behör­den regelt, gibt es eine sol­che Mög­lich­keit nicht. Das Bun­des­amt agiert aber offen­sicht­lich nach dem Gieß­kan­nen­prin­zip und ver­schickt an alle Per­so­nen, bei denen ein Dub­lin-Ver­fah­ren läuft oder irgend­wann mal lief, das bereits genann­ten Schrei­ben und damit auch an Per­so­nen, bei denen kein Kla­ge­ver­fah­ren läuft oder ein Eil­an­trag schon gewon­nen wur­de – Rechts­grund­la­ge egal.

Die­se neue Pra­xis kommt in einer Zeit, in der Bera­tungs­struk­tu­ren aus­ge­dünnt sind. Rechtsanwält*innen arbei­ten viel­fach von zu Hau­se und ver­su­chen teils neben Kin­der­be­treu­ung noch so gut wie mög­lich ihre Mandant*innen zu ver­tre­ten. Essen­ti­el­le Gesprä­che mit den Betrof­fe­nen sind nicht mehr oder nur noch sehr ein­ge­schränkt mög­lich. Rechts­be­ra­tungs­stel­len machen zwar oft noch Tele­fon­be­ra­tung, aber auch bei ihnen sind die Kapa­zi­tä­ten und Zugän­ge zu den Betrof­fe­nen extrem begrenzt.

Das Bun­des­amt erkennt die­se Pro­ble­ma­tik selbst an und hat des­we­gen ange­kün­digt, kei­ne ableh­nen­den Beschei­de mehr zu ver­schi­cken. Bei Dub­lin-Ver­fah­ren wird dies aber plötz­lich nicht mehr berück­sich­tigt und Beschei­de auch wei­ter­hin ver­schickt. Die neue Rege­lung ist dabei eine zusätz­li­che Her­aus­for­de­rung für Berater*innen, da sie den meis­ten so noch nicht bekannt ist und die recht­li­che Unter­stüt­zung der Expert*innen eben­falls durch die der­zei­ti­gen Umstän­de leidet.

PRO ASYL und Equal Rights Bey­ond Bor­ders haben des­we­gen ers­te Bera­tungs­hin­wei­se zur Ein­ord­nung der neu­en Vor­ge­hens­wei­se und zur Erst­ori­en­tie­rung ver­öf­fent­licht. Im Ein­zel­fall – ins­be­son­de­re zur Fra­ge einer Kla­ge­rück­nah­me – ist aber die Bera­tung durch fach­kun­di­ge Rechtsanwält*innen unerlässlich.

Auch die Ver­wal­tungs­ge­rich­te sehen sich unnö­ti­ger zusätz­li­cher Arbeit aus­ge­setzt. Teils ver­schi­cken sie Hin­wei­se an das Bun­des­amt, dass die Aus­set­zung bei bereits gewon­ne­nem Eil­ver­fah­ren nicht greift –  über­flüs­si­ge Tätig­kei­ten in einer her­aus­for­dern­den Zeit. Wenn das Bun­des­amt nicht noch von sei­ner aktu­el­len Linie abweicht, dürf­ten auch jetzt neu ent­ste­hen­de Pra­xis- und Rechts­fra­gen die Ver­wal­tungs­ge­rich­te noch län­ger beschäf­ti­gen. Wäh­rend die Poli­tik oft über die Über­las­tung der Ver­wal­tungs­ge­rich­te klagt, ver­ur­sacht eine Bun­des­be­hör­de sehen­des Auge eine neue Klagewelle.

PRO ASYL fordert Selbsteintritt, mindestens aber Fristweiterlauf

Aus Sicht von PRO ASYL ist es erfor­der­lich, dass das Bun­des­amt aktu­ell in Dub­lin-Fäl­len sich für die Asyl­ver­fah­ren als zustän­dig erklärt. Schließ­lich sieht die Ver­ord­nung selbst für beson­de­re Fäl­le den sog. Selbst­ein­tritt vor, Deutsch­land hat also auch recht­lich die Mög­lich­keit – und Pflicht –, hier für Rechts­si­cher­heit zu sorgen.

Die Dub­lin-Ver­ord­nung sieht für beson­de­re Fäl­le den sog. Selbst­ein­tritt vor, Deutsch­land hat also auch recht­lich die Mög­lich­keit – und Pflicht –, hier für Rechts­si­cher­heit zu sorgen.

Denn wirk­lich abseh­bar ist es schließ­lich nicht, wie sich die Coro­na-Pan­de­mie wei­ter­ent­wi­ckelt und ab wann wie­der in einen Mit­glied­staat wie Ita­li­en über­stellt wer­den kann. Damit ver­zö­gert sich auch die inhalt­li­che Bear­bei­tung eines Asyl­an­trags auf den Sankt Nim­mer­leins­tag – und das eigent­li­che Ziel der Dub­lin-Ver­ord­nung, einen zustän­di­gen Mit­glied­staat zu bestim­men und »refu­gees in orbit« zu ver­hin­dern, wird unter­lau­fen. Unter den der­zei­ti­gen Umstän­den ver­ur­sacht die­ses Ver­hal­ten zusätz­lich Ängs­te bei den Betrof­fe­nen. Des­we­gen soll­te jetzt für alle Betei­lig­te Klar­heit geschaf­fen wer­den und die­se gera­de nicht noch ver­zö­gert werden.

Min­des­tens soll­ten bei Über­stel­lungs­ver­fah­ren aber die Fris­ten wei­ter­lau­fen. Aus den glei­chen Grün­den, aus denen das Bun­des­amt ableh­nen­de Beschei­de nicht mehr ver­schickt, soll­te dies auch bei neu­en Dub­lin-Beschei­den der Fall sein – denn eine Rechts­be­ra­tung ist aktu­ell nur schwie­rig zu organisieren.

(wj / beb)