News
Aussetzung der Dublin-Fristen: Erst Chaos, dann Klagewelle
Nach der Aussetzung von Dublin-Überstellungen kommt das BAMF mit einem Trick um die Ecke: Aussetzung der Überstellungsfrist. So soll verhindert werden, dass Asylsuchende hier ein Asylverfahren bekommen. Damit verursacht das BAMF Chaos bei Beratungsstellen und bereitet eine neue Klagewelle bei den Verwaltungsgerichten vor.
Am 18. März 2020 beschloss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), aufgrund der Corona-Pandemie keine Dublin-Überstellungen mehr durchzuführen (PRO ASYL berichtete auf dem Corona-Ticker). Angesichts der dramatischen gesundheitlichen Lage in vielen Mitgliedstaaten der EU und um das Corona-Virus nicht weiter zu verbreiten, eine richtige Entscheidung, die auch PRO ASYL gefordert hatte. Italien, das aktuell am härtesten von der Corona-Krise getroffene Land der Welt, ist zum Beispiel normalerweise mit einem Drittel der Überstellungen Hauptziel von Dublin-Überstellungen aus Deutschland.
Update, 16.04.2020: Die EU-Kommission stellt in ihrer Kommunikation zu Covid-19 und der Asylpolitik fest, dass eine Aussetzung der Überstellungsfristen aufgrund einer Pandemie keine Rechtsgrundlage in der Dublin-III-Verordnung hat und bestätigt damit die Rechtsauffassung von PRO ASYL. Entsprechend müssen laut Kommission die Fristen weiterlaufen und die Verantwortung nach Fristablauf auf den Mitgliedstaat übergehen, in dem sich die Person aktuell aufhält.
Update Mai 2020: In mehreren Entscheidungen wurde vom VG Schleswig-Holstein die Unterbrechung der Frist als europarechtswidrig beurteilt und nach Fristablauf die Zuständigkeit Deutschlands festgestellt. Siehe beispielsweise VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.05.2020, Az. 10 A 596/19
Keine Überstellungen, aber bloß nicht für die Asylverfahren zuständig werden!
Anscheinend will das Bundesamt aber alles tun um zu verhindern, dass Asylsuchende aufgrund von Fristablauf in Deutschland bleiben könnten. Zum Hintergrund: eins der Grundprinzipien der europäischen Dublin-III-Verordnung ist, dass eine Person in dem aktuellen Mitgliedstaat bleiben darf und dort ihr Asylverfahren durchlaufen kann, wenn sie nicht innerhalb von in der Regel sechs Monaten in den Ersteinreisestaat überstellt wird. Die Verordnung ist am sog. Beschleunigungsgebot ausgerichtet, um für Betroffene nach einer bestimmten Zeit endlich Rechtssicherheit zu schaffen.
Insgesamt findet nur in weniger als einem Drittel der Dublin-Fälle (28%) eine Überstellung aus Deutschland in einen anderen Mitgliedstaat statt. Dies kann verschiedene Gründe haben, zum Beispiel wenn Deutschland sich aus humanitären Gründen für zuständig erklärt (Selbsteintritt) – wobei das mittlerweile immer seltener vorkommt und in 2019 nur in 3.070 Fällen geschehen ist (2018 wurde noch in 7.809 Fällen das Selbsteintrittsrecht genutzt). Oftmals sind es auch die Gerichte, die aus rechtlichen Gründen im Eilverfahren eine Überstellung stoppen (Zahlen zu finden hier). Statistisch wird nicht erfasst, wie häufig Deutschland aufgrund von Fristablauf für einen Asylantrag zuständig wird, aber diese Zahl dürfte erheblich sein.
Anstatt während der Corona-Krise Fälle durch einen Selbsteintritt oder zumindest durch Fristablauf sich von selbst erledigen zu lassen, hat das Bundesamt nun die Aussetzung der Frist aus dem Hut gezaubert
Anstatt während der Corona-Krise Fälle durch einen Selbsteintritt oder zumindest durch Fristablauf sich von selbst erledigen zu lassen, hat das Bundesamt nun die Aussetzung der Frist gemäß § 80 Abs. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung aus dem Hut gezaubert – und Beratungsstrukturen damit in Aufruhr versetzt. Denn bislang war der Versuch einer solche Aussetzung in Dublin-Verfahren bis auf wenige Ausnahmefälle nicht bekannt.
Zermürbende Hängepartie widerspricht Europarecht
In dem Schreiben des BAMF, das aktuell an alle Dublin-Fälle verschickt wird, wird angeführt, dass aufgrund der Corona-Krise Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten seien und die Überstellung ausgesetzt ist. Zudem wird die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung angekündigt. Nach einer solchen Aussetzung soll die Überstellungsfrist komplett neu zu laufen beginnen. Wenn also jemand eigentlich schon vier Monate der Frist rum hat, hat das Bundesamt nach Ende der Aussetzung also erneut sechs Monate Zeit, um die Rückführung zu organisieren. Für die Betroffenen eine zermürbende Hängepartie, die so noch mehr in die Länge gezogen wird.
Für die Betroffenen eine zermürbende Hängepartie, die so noch mehr in die Länge gezogen wird.
Das widerspricht auch dem der Dublin-III-Verordnung zu Grunde liegenden Beschleunigungsgebot, nach der die Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats und damit auch der Zugang zum inhaltlichen Asylverfahren schnell erfolgen soll. Denn grundsätzliches Ziel der Dublin-Verordnung ist es, für jede/n Asylsuchende*n einen zuständigen Mitgliedstaat zu definieren und so das Phänomen der »refugees in orbit« (Flüchtlinge ohne zuständigen Staat) zu verhindern. So beschreibt es selbst die Verordnung in ihrem Erwägungsgrund 5:
»(…) Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.«
Ohne Rechtsgrundlage – das BAMF verschickt Aussetzung an alle Dublin-Fälle
Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach der Verwaltungsgerichtsordnung ist nur dann rechtlich möglich, wenn der Dublin-Bescheid noch nichts bestandskräftig ist, d.h. wenn noch fristrecht Klage erhoben werden kann oder eben schon erhoben wurde. Auch die Regelung in der Dublin-III-Verordnung, auf die sich das Bundesamt beruft, bezieht sich auf anhängige Klageverfahren.
Im Verwaltungsverfahrensgesetz, welches nicht die Verfahren vor Gericht, sondern vor den Behörden regelt, gibt es eine solche Möglichkeit nicht. Das Bundesamt agiert aber offensichtlich nach dem Gießkannenprinzip und verschickt an alle Personen, bei denen ein Dublin-Verfahren läuft oder irgendwann mal lief, das bereits genannten Schreiben und damit auch an Personen, bei denen kein Klageverfahren läuft oder ein Eilantrag schon gewonnen wurde – Rechtsgrundlage egal.
Diese neue Praxis kommt in einer Zeit, in der Beratungsstrukturen ausgedünnt sind. Rechtsanwält*innen arbeiten vielfach von zu Hause und versuchen teils neben Kinderbetreuung noch so gut wie möglich ihre Mandant*innen zu vertreten. Essentielle Gespräche mit den Betroffenen sind nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt möglich. Rechtsberatungsstellen machen zwar oft noch Telefonberatung, aber auch bei ihnen sind die Kapazitäten und Zugänge zu den Betroffenen extrem begrenzt.
Das Bundesamt erkennt diese Problematik selbst an und hat deswegen angekündigt, keine ablehnenden Bescheide mehr zu verschicken. Bei Dublin-Verfahren wird dies aber plötzlich nicht mehr berücksichtigt und Bescheide auch weiterhin verschickt. Die neue Regelung ist dabei eine zusätzliche Herausforderung für Berater*innen, da sie den meisten so noch nicht bekannt ist und die rechtliche Unterstützung der Expert*innen ebenfalls durch die derzeitigen Umstände leidet.
PRO ASYL und Equal Rights Beyond Borders haben deswegen erste Beratungshinweise zur Einordnung der neuen Vorgehensweise und zur Erstorientierung veröffentlicht. Im Einzelfall – insbesondere zur Frage einer Klagerücknahme – ist aber die Beratung durch fachkundige Rechtsanwält*innen unerlässlich.
Auch die Verwaltungsgerichte sehen sich unnötiger zusätzlicher Arbeit ausgesetzt. Teils verschicken sie Hinweise an das Bundesamt, dass die Aussetzung bei bereits gewonnenem Eilverfahren nicht greift – überflüssige Tätigkeiten in einer herausfordernden Zeit. Wenn das Bundesamt nicht noch von seiner aktuellen Linie abweicht, dürften auch jetzt neu entstehende Praxis- und Rechtsfragen die Verwaltungsgerichte noch länger beschäftigen. Während die Politik oft über die Überlastung der Verwaltungsgerichte klagt, verursacht eine Bundesbehörde sehendes Auge eine neue Klagewelle.
PRO ASYL fordert Selbsteintritt, mindestens aber Fristweiterlauf
Aus Sicht von PRO ASYL ist es erforderlich, dass das Bundesamt aktuell in Dublin-Fällen sich für die Asylverfahren als zuständig erklärt. Schließlich sieht die Verordnung selbst für besondere Fälle den sog. Selbsteintritt vor, Deutschland hat also auch rechtlich die Möglichkeit – und Pflicht –, hier für Rechtssicherheit zu sorgen.
Die Dublin-Verordnung sieht für besondere Fälle den sog. Selbsteintritt vor, Deutschland hat also auch rechtlich die Möglichkeit – und Pflicht –, hier für Rechtssicherheit zu sorgen.
Denn wirklich absehbar ist es schließlich nicht, wie sich die Corona-Pandemie weiterentwickelt und ab wann wieder in einen Mitgliedstaat wie Italien überstellt werden kann. Damit verzögert sich auch die inhaltliche Bearbeitung eines Asylantrags auf den Sankt Nimmerleinstag – und das eigentliche Ziel der Dublin-Verordnung, einen zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen und »refugees in orbit« zu verhindern, wird unterlaufen. Unter den derzeitigen Umständen verursacht dieses Verhalten zusätzlich Ängste bei den Betroffenen. Deswegen sollte jetzt für alle Beteiligte Klarheit geschaffen werden und diese gerade nicht noch verzögert werden.
Mindestens sollten bei Überstellungsverfahren aber die Fristen weiterlaufen. Aus den gleichen Gründen, aus denen das Bundesamt ablehnende Bescheide nicht mehr verschickt, sollte dies auch bei neuen Dublin-Bescheiden der Fall sein – denn eine Rechtsberatung ist aktuell nur schwierig zu organisieren.
(wj / beb)