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Schutz-Roulette in der Ägäis: Zwei Jahre nach dem Deal mit der Türkei
Wie dramatisch die Auswirkungen des EU-Flüchtlingsdeals sind, zeigt der Fall des 19-jährigen Humam aus Syrien. Er floh gemeinsam mit seinem kranken Vater. In der Türkei wurden sie in Haft misshandelt und an der Grenze beschossen. Endlich in Griechenland angekommen, droht Humam die Abschiebung in die Türkei. Ein Fall aus der Arbeit von PRO ASYL/RSA.
Humam (Name geändert) berichtet: »Ich habe nur sehr wenige Erinnerungen an mein Leben vor dem Krieg. Ich erinnere mich nur noch an meine Schule, die zu Kriegsbeginn den Betrieb einstellte. Sie wurde durch Bombardierungen zerstört.« Bis zu dem Tag, an dem er mit seinem Vater Syrien verließ, erlebte Humam täglich die verheerenden Folgen des Krieges. Er wurde Zeuge von Morden, Bombenanschlägen und willkürlichen Verhaftungen. Ihn quälen die Erinnerungen an seine Großeltern, die er im März 2017 verlor.
Bombenterror in Syrien
»Wir wurden am Morgen von Nachbarn über den tragischen Vorfall informiert. Mein Großvater stand früh am Morgen auf und verließ sein Haus, um in der Moschee zu beten. Er wurde von einem Scharfschützen erschossen. Sobald er auf den Boden fiel, rannte meine Großmutter an die Vordertür und wurde auch von dem Scharfschützen erschossen. Stundenlang lagen ihre Körper nebeneinander und niemand wagte es, näher zu kommen. In den folgenden Tagen schickten uns die Nachbarn ihre Leichen.«
Im Alter von 13 Jahren wurde Humam von einer bewaffneten Gruppe mehrfach gezwungen, für sie zu arbeiten. In dieser Zeit wurde er durch diese Milizionäre fortwährend Opfer von Misshandlungen. Er lebte in ständiger Angst und verließ das Haus nicht mehr – bis es im September 2016 während eines Bombardements zerstört wurde. Im Juni 2017 floh Humam schließlich mit seinem kranken Vater aus Syrien. Nach neun gescheiterten Versuchen, bei denen sie auch von türkischen Grenzschützern beschossen wurden, gelangten sie in die Türkei.
»Als wir die eingezäunte Mauer erreichten, begannen türkische Soldaten direkt auf uns zu schießen.«
Misshandlungen in der Türkei
In der Türkei blieben sie lediglich wenige Tage. Während dieses kurzen Aufenthalts wurden sie in einer Polizeistation festgehalten. »Um uns zu demütigen, zwangen sie uns, die Toiletten und andere Räume der Station zu reinigen. Als mein Vater einen Befehl verweigerte, wurde er mit einem elektrischen Stab geschlagen. Während der gesamten Haftzeit waren unsere Hände hinter dem Rücken mit Kabelbindern gefesselt. Sogar kleine Kinder wurden mit Kabelbindern gefesselt.«
Mit seinem Vater, der unter schweren kardiologischen und orthopädischen Problemen leidet, reiste Humam im Juni 2017 mit dem Boot nach Griechenland. Anfang Juli stellen sie dort ihren Asylantrag. Das Europäische Asylunterstützungsbüro EASO stufte Humams Aussagen als glaubwürdig in Bezug auf seine Misshandlung in der Türkei ein. Mit seiner syrischen Fluchtgeschichte befassten sie sich nicht.
Die Asylanträge von Vater und Sohn wurden unabhängig voneinander geprüft. Ein gefährliche Konsequenz des Türkei-Deals: Familien können jederzeit im Verfahren auseinander gerissen werden. Im September 2017 erfolgten Abschiebungsentscheidungen ohne individuelle Fallprüfung: Asylantrag »unzulässig«, weil in ihrem Fall die Türkei ein »sicherer Drittstaat« sei.
Kein Schutz in Griechenland
Im November 2017 wurde Humams Asylantrag auch vom Beschwerdeausschuss als »unzulässig« abgewiesen. Humam wurde von der Polizei zur Vollstreckung der Abschiebung in die Türkei inhaftiert.
Der gleiche Beschwerdeausschuss verschob die Entscheidung bezogen auf Humams Vater. Er wurde an Ärzte überwiesen, die seine körperliche Verfassung einschätzen sollten. Im Dezember 2017 wurde er endlich als »vulnerabler« (= verletzlich und daher besonders schutzbedürftig) Fall eingestuft. Damit hat er Zugang zu einem regulären Asylverfahren in Griechenland.
Sein Sohn Humam war währenddessen vierzig Tage lang in einer Polizeistation inhaftiert. Dann erfolgte die Anordnung, die Haft zu beenden und ihn zur zwangsweisen Behandlung in ein psychiatrisches Krankenhaus auf das griechische Festland zu überführen. Die harten Bedingungen der Haft und das Fehlen jeglicher psychosozialen Unterstützung haben seine bereits vorher angeschlagene psychische Gesundheit dramatisch verschlimmert.
Es gab klare Hinweise darauf, dass Humam Opfer von Gewalt und Misshandlungen wurde und dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Dennoch wurde er während des gesamten (Asyl-) Zulässigkeitsverfahrens nicht ein einziges Mal medizinisch bzw. psychiatrisch untersucht. Auch die »besondere Verletzlichkeit« seines Vaters, der direkt von Humams Hilfe abhängig ist, wurde sehr spät festgestellt.
Die griechischen Behörden behandelten Humams Fall und den seines Vaters auf widersprüchliche und unmenschliche Weise. Sie gefährdeten damit die physische und psychische Gesundheit der beiden Schutzsuchenden. Trotz der erfahrenen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei wurden die Flüchtlingsrechte von Vater und Sohn in einem Verfahren, das nichts mit einem fairen Asylverfahren gemein hat, grob verletzt.
(rsa / dm / kk)