Hintergrund
Reform des EU-Asylsystems: Auslagerung eines Grundrechts

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit plant die EU die Aushöhlung des Rechts auf Asyl, das auf EU-Ebene in Artikel 18 der Grundrechte-Charta verbrieft ist. Nach dem Motto »Schutz ja, aber nicht bei uns« soll das europäische Asylrecht nun so reformiert werden, dass der Zugang zu einem fairen Asylverfahren in der EU kaum noch durchsetzbar wäre.
Die EU-Kommission hat seit dem Frühjahr 2016 weitreichende Änderungen an der Dublin-Verordnung, der EURODAC-Verordnung sowie den EU-Richtlinien zum Asylverfahren, den Anerkennungsvoraussetzungen und den Aufnahmebedingungen vorgeschlagen. Ende Juni sollen auf dem EU-Gipfel, dem Treffen der Staats- und Regierungschefs, die neuen Regelungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) diskutiert werden.
Bevor die vorgeschlagenen Asylrechtsverschärfungen in Kraft treten können, müssen sowohl der Europäische Rat als auch das Europäische Parlament zustimmen. Das Europäische Parlament hat sich zu den vorgeschlagenen, gravierenden Einschnitten in Teilen bereits kritisch positioniert. Der Europäische Rat, in dem die Innenministerien der Mitgliedstaaten federführend verhandeln, drängt hingegen auf eine härtere Gangart im Umgang mit Flüchtlingen.
Pflicht zur Abweisung in Drittstaat
Nach Vorstellung der Europäischen Kommission sollen die EU-Mitgliedstaaten künftig verpflichtet werden, Asylsuchende vorrangig in vermeintlich »sichere Drittstaaten« abzuweisen. Im Klartext heißt das: Erreicht ein Schutzsuchender etwa die Küste Italiens, hätte dieser weder Zugang zum Asylverfahren in Italien, noch könnte er geltend machen, beispielsweise zu seiner Familie nach Deutschland überstellt zu werden. Stattdessen müsste Italien lediglich prüfen, ob der Flüchtling nicht auf einen anderen Staat verwiesen werden kann.
In einem sogenannten Zulässigkeitsverfahren soll lediglich geprüft werden, ob schutzsuchende Menschen überhaupt einen Asylantrag in der EU stellen dürfen. Sollten sie durch einen sogenannten sicheren Drittstaat gereist sein, soll ihnen dieses Recht künftig verweigert werden. Die Fluchtgründe, deren Prüfung bislang ausschlaggebend für die Gewährung von Schutz in der EU war, spielen dann keine Rolle mehr.
Faktisch wurde Griechenland durch den EU-Türkei-Deal bereits dazu gedrängt, aus der Türkei eingereiste Flüchtlinge aufgrund von Drittstaatenregelungen abzuweisen. Das Europäische Parlament lehnt ein solches verpflichtendes Zulässigkeitsverfahren ab. Die Regierungen der Mitgliedstaaten unterstützen derweil die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes und drängen darauf, dass Staaten immer leichter als »sicher« deklariert werden können und somit eine Abweisung dorthin möglich ist.
So soll ein Drittstaat nach Vorstellung einiger EU-Mitgliedstaaten auch dann in Gänze als sicher gelten, wenn er nur in Teilen seines Staatsgebietes oder nur für bestimmte Gruppen Schutz gewährt. Weiterhin soll es in Zukunft irrelevant sein, wie die Flüchtlinge in dem Drittstaat ihr Leben fristen: Weder das Recht auf einen legalen Wohnsitz, noch auf Familiennachzug, noch auf Zugang zum Arbeitsmarkt sollen garantiert sein.
Kettenabschiebungen bis in den Verfolgerstaat?
Die Reformvorschläge der Kommission sind mit der zugleich beteuerten Absicht, eine wirksame Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) auf EU-Ebene sicherstellen zu wollen, nicht vereinbar. Die zentrale Garantie der GFK ist der Schutz vor Refoulement, also vor Zurückweisung in Länder, in denen einer geflüchteten Person die Gefahr droht, wegen ihrer Religion, politischen Überzeugung oder aus anderen Gründen verfolgt zu werden. Mit der flächendeckenden Anwendung von Drittstaatenregelungen steigt die Gefahr, dass auch schutzbedürftige Personen, denen in ihren Herkunftsländern Verfolgung, Folter oder Krieg drohen, ohne Berücksichtigung ihrer Gefährdungslage in den Drittstaat abgeschoben werden könnten.
Kommt es in dem vermeintlich »sicheren Drittstaat« zu einer Weiterschiebung ins Herkunftsland, trüge auch die EU für diese Kettenabschiebung die Verantwortung. Eine solche ist indes mit dem Refoulementschutz aus Art. 33 GFK nicht zu vereinbaren und wäre zudem ein Verstoß gegen das Folterverbot nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der auch vor Kettenabschiebung in den Herkunftsstaat schützt. Die Schutzverweigerung in der EU wäre in einem solchen Fall eine eklatante Verletzung des Völkerrechts.
Scharfe Sanktionen bei Weiterwanderung
Das Dublin-System soll künftig vor allem einem Zweck dienen: der Sanktion der Sekundärmigration. Die irreguläre Weiterwanderung von Schutzsuchenden in andere EU-Staaten, die nicht für das Asylverfahren zuständig sind, soll nach Vorstellung der EU-Kommission scharf sanktioniert werden. Die Strafmaßnahmen reichen von der Aushöhlung von Verfahrensrechten, über den verweigerten Zugang zum Arbeitsmarkt, bis hin zur Unterschreitung des Rechts auf ein Existenzminimum und auf einen ausreichenden Gesundheitsschutz.
Die Vorschläge der EU-Kommission hätten eine zunehmende Illegalisierung und Prekarisierung von Asylsuchenden zur Folge.
Das Europäische Parlament lehnt diesen Sanktionskatalog ab. Die Vorstöße der EU-Kommission wären auch mit dem in Deutschland verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art. 1 und 20 GG) nicht zu vereinbaren. Die Erfahrung zeigt zudem, dass sich Asylsuchende nicht durch Sanktionen von der Weiterwanderung abhalten lassen, wenn sie im Erstaufnahmestaat keine Existenzmöglichkeit für sich sehen oder dort massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Die Vorschläge der EU-Kommission hätten somit eine zunehmende Illegalisierung und Prekarisierung von Asylsuchenden zur Folge.
Starre Zuständigkeitsfestlegung
Anders als im bisherigen Dublin-System soll es keine zeitliche Begrenzung für die Zuständigkeit des Erstaufnahmestaats mehr geben. Einmal getroffene Zuständigkeitsfestlegungen sollen für immer gelten.
Bislang muss der Mitgliedstaat, in dem sich ein Asylsuchender aufhält, innerhalb gewisser Fristen das Dublin-Verfahren durchführen, andernfalls wird er selbst zuständig für das Asylverfahren. Im künftigen Dublin-System soll es derartige Regelungen nicht mehr geben, mit der Folge, dass es zu einer dauerhaften Diskrepanz zwischen Aufenthaltsort und zuständigem Staat kommen kann. Diese starre Zuständigkeitsregel soll auch gelten, wenn eine Überstellung aus Gründen nicht erfolgt, die die Asylsuchenden nicht zu vertreten haben, etwa weil eine Erkrankung vorliegt oder der zuständige Staat die Aufnahme verweigert. So genannte »refugees in orbit« könnten in der Folge zum Massenphänomen werden – Schutzsuchende, die keinen Zugang mehr zum Asylverfahren finden, da sich kein Staat der Prüfung ihres Schutzgesuchs annimmt.
Schließlich sollen nach Vorstellung der Kommission auch das Selbsteintrittsrecht und der Rechtsschutz im Dublin-Verfahren beschränkt werden. Bisher konnte ein EU-Mitgliedstaat über das Selbsteintrittsrecht freiwillig die Verantwortung für die Durchführung eines Asylverfahrens übernehmen, für das er nicht zuständig war. Künftig soll dies nur noch bei familiären Konstellationen möglich sein. Das Europäische Parlament hat sich zu Recht auch gegen diese Vorschläge ausgesprochen. Es will an dem bisherigen weiten Anwendungsbereich des Selbsteintrittsrechts festhalten und den Rechtsschutz unangetastet wissen. Nur so können humanitäre Spielräume auch in Zukunft gewahrt bleiben.
Europa kündigt Solidarität auf
Hinter dem neutralen Begriff »GEAS-Reform« steckt in Wirklichkeit ein Paradigmenwechsel im europäischen Schutzsystem für Flüchtlinge. Der Zugang zum Asylverfahren soll ausgehebelt und die Hauptverantwortung für Flüchtlinge an Drittstaaten ausgelagert werden. Dieser Externalisierung des Flüchtlingsschutzes auf Herkunfts- und Transitregionen stellt nicht nur das individuelle Asylrecht in der EU in Frage, sondern auch das Gebot der internationalen Solidarität.
In ihrer Präambel verpflichtet die GFK die Unterzeichnerstaaten auf eine internationale Zusammenarbeit, um »schwere Belastungen für einzelne Länder« zu vermeiden. Würden die Pläne der Kommission verwirklicht, wäre dies der Ausstieg der EU-Staaten aus dieser von der GFK geforderten Solidarität beim internationalen Flüchtlingsschutz.
Marei Pelzer
(Dieser Artikel erschien erstmals im Heft zum Tag des Flüchtlings 2018.)