Hintergrund
EU-Türkei-Deal: Labor Ägäis – Blaupause für Europa
Der autoritäre, türkische Präsident Erdogan droht regelmäßig, den Flüchtlingsdeal mit der EU aufzukündigen. In der EU herrscht deshalb Sorge, dass wieder mehr Schutzsuchende über Land oder See das EU Territorium erreichen könnten. Alle Beteiligten eint, dass sie Flüchtlinge nur als Manövriermasse sehen und sie zynisch für wechselseitige Erpressungsversuche missbrauchen. Menschenrechte und -würde spielen keine Rolle. Die Bundesregierung und die EU verfolgen mit dem Türkei-Deal lediglich ein Ziel: Schutzsuchende im wahrsten Sinne des Wortes um jeden Preis abzuwehren.
Das Mantra des sicheren Drittstaats
»Die Türkei ist ein sicherer Drittstaat«: So das Mantra aus Brüssel und Berlin, obwohl sich die allgemeine Menschenrechtslage am Bosporus dramatisch verschärft hat. Kern des EU-Türkei-Deals ist, dass Schutzsuchende, die auf den griechischen Inseln anlanden, in der Regel der Zugang zu einem regulären Asylverfahren verwehrt wird. Das heißt, ihr Schutzgesuch wird nicht inhaltlich geprüft. Stattdessen geht es in den sogenannten EU-»Hotspots« lediglich darum, ob die Flüchtlinge in der Türkei bereits sicher waren. In diesem Fall wird ihr Asylgesuch in Europa für unzulässig erklärt. Diese sogenannten Zulässigkeitsverfahren sollen es ermöglichen, Schutz suchende schnell in die Türkei abzuschieben.
Freiluftgefängnisse auf den Inseln
Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals am 20. März 2016 herrscht Ausnahmezustand auf den Inseln in der Ägäis. Sie wurden zu einem Freiluftgefängnis für Tausende Schutzsuchende. Circa 15.000 Flüchtlinge vegetieren in den Lagern unter unmenschlichen Bedingungen vor sich hin.
In den Wintermonaten 2016/17 sind mindestens fünf Menschen aufgrund der katastrophalen Zustände auf Lesbos gestorben. Wie so oft in der europäischen Flüchtlingspolitik übernimmt niemand die politische Verantwortung. In den EU-»Hotspots« gehört die organisierte Verantwortungslosigkeit zum Konzept.
Sackgasse und Endstation
Dass die Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln ausharren müssen, verdanken sie den Mächtigen in Brüssel, Berlin und weiteren europäischen Hauptstädten. Ein Vertreter der EU-Kommission gab am 5. Dezember 2016 bei einer Anhörung im Europäischen Parlament frank und frei zu: Die Weiterreise vieler Flüchtlinge von den Inseln auf das griechische Festland wäre das Ende des EU-Türkei-Deals, denn die Türkei nehme nur Flüchtlinge von den griechischen Inseln zurück.
Anders formuliert: Um den schmutzigen Flüchtlingsdeal am Leben zu halten, werden Elend, Verzweiflung und massive gesellschaftliche Spannungen auf den Inseln bewusst in Kauf genommen. Wer von den Inseln weg will, muss teure Schlepperdienste in Anspruch nehmen, um die »Ausreise«-Kontrollen von Frontex und griechischen Beamten an den See- und Flughäfen zu umgehen.
Druck aus Brüssel und Berlin
Das griechische Asylrecht wurde mehrfach auf Druck aus Brüssel und Berlin verschärft, um es mit dem Türkei-Deal kompatibel zu machen: Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der sich erst im Aufbau befindenden griechischen Asylinstitutionen werden dabei geopfert.
Ein Beispiel: Als klar wurde, dass die griechischen Asylausschüsse in zweiter Instanz die Türkei in den meisten Fällen nicht als »sicher« einstuften und damit nicht die von der EU und Berlin gewünschten Entscheidungen lieferten, griff Brüssel ein: Nach wiederholten Bemühungen durch den griechischen Minister für Migration und die EU-Kommission, die renitenten Asylausschüsse auf Linie zu bringen, wurden die Ausschüsse abgeschafft und die Prüfung der Zulässigkeit auf die neu eingerichteten, willfährigen »Unabhängige Berufungsausschüsse« übertragen.
In den ersten zwölf Monaten konnten die PRO ASYL-Anwält*innen auf Lesbos, Chios und in Athen verhindern, dass auch nur ein einziger syrischer Flüchtling aufgrund der vermeintlichen Drittstaatssicherheit in die Türkei abgeschoben wurde. Auch die griechischen Behörden leisteten Anfang April 2017 an zentralen Punkten noch Widerstand: Nach griechischem Recht dürfen Schutzsuchende, die Familienangehörige in der EU haben, sowie besonders verletzliche Flüchtlingsgruppen nicht dem sogenannten Zulässigkeitsverfahren auf den griechischen Inseln unterworfen werden.
Sie sind damit nicht unmittelbar der Gefahr ausgesetzt, in die Türkei zurückgeschickt zu werden. Die EU-Kommission fordert in einem Aktionsplan vom Dezember 2016 das bestehende Gesetz zu verschärfen und auch diese Gruppen auf den Inseln festzuhalten und im Schnellverfahren in die Türkei abzuschieben.
In der Ägäis lässt sich quasi unter Laborbedingungen beobachten, wie die Europäisierung der Asylpolitik künftig aussehen könnte.
Kein europäisches Land steht flüchtlingspolitisch so unter der Kontrolle der EU und einzelner Mitgliedsstaaten wie Griechenland. Alles, was in Hellas passiert, ist überwiegend von der EU finanziert und das Elend der dort gestrandeten Flüchtlinge ist von der EU-Kommission und den Regierungen in Berlin, Den Haag und anderswo maßgeblich mit verursacht.
Elend als Konzept
Flüchtlingshaftlager wie Moria auf Lesbos oder Vial auf Chios und andere sind Teil eines knallharten Abschreckungskonzepts. So wie der Türkei-Deal die Blaupause für weitere schäbige Abkommen ist, sind die EU-»Hotspots« auf den Ägäis-Inseln eine großangelegte, zynische EU-Versuchsreihe: Eine zentrale Fluchtroute wird verschlossen und tausende, gestrandete Flüchtlinge werden zur Abschreckung in Elend und Verzweiflung gestürzt.
In der Ägäis lässt sich quasi unter Laborbedingungen beobachten, wie die Europäisierung der Asylpolitik künftig aussehen könnte. EU-Akteure wie Frontex und Europol sind vor Ort und stellen sicher, dass alle Schutzsuchenden umfassend erfasst und registriert werden.
Die EU-Behörden bekommen auch immer mehr Zugriff auf die Verfahren, denen Flüchtlinge unterworfen sind. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), für das auch Mitarbeiter* innen des BAMF tätig sind, dominiert beispielsweise die sogenannten Zulässigkeitsverfahren bei syrischen Flüchtlingen. Egal, was vorgetragen wird, meist empfiehlt EASO, den Antrag als unzulässig abzulehnen.
Blackbox Türkei
Nach Angaben der »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« haben türkische Soldat*innen im Jahr 2016 an der Grenze zu Syrien 163 Flüchtlinge erschossen, darunter 30 Kinder. Aber auch diejenigen, die es auf türkisches Territorium schaffen, laufen Gefahr, postwendend abgeschoben zu werden.
Zwar waren völkerrechtswidrige Push- Backs auch vor dem EU-Türkei-Deal Alltag, die Brutalität der Vorgehensweis an der Grenze hat sich aber verschärft. Und Europa? Brüssel schweigt zu den eklatanten Menschenrechtsverletzungen.
Ein Monitoring der Situation Zurückgeschobener findet nicht statt.
Die EU-Kommission berichtete am 2. März 2017, dass seit dem Inkrafttreten des Deals 1.487 Menschen »freiwillig« oder zwangsweise in die Türkei rückgeführt worden seien. Jedoch: Ein Monitoring der Situation Zurückgeschobener findet nicht statt.
UNHCR hat in einem Schreiben vom 23. Dezember 2016 an eine PRO ASYL-Anwältin in Athen eingestanden, dass auch UNHCR in der Türkei nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu den aus Griechenland abgeschobenen Flüchtlingen hat.
Der EU-Kommission ist lediglich bekannt, dass 417 der aus Griechenland abgeschobenen Personen bis zum 8. Dezember 2016 weiter in ihre Herkunftsstaaten, unter anderem nach Afghanistan und in den Irak, abgeschoben wurden.
Push-Backs an den Landgrenzen
Versuche, dem Martyrium in der Ägäis zu entgehen und über die Landgrenze nach Griechenland oder Bulgarien zu fliehen, scheitern an dem hochgerüsteten Grenzregime und der brutalen Zurückweisungspolitik. Irritierende Relationen: 29.000 Bootsflüchtlinge kamen in den ersten drei Monaten des Jahres in Europa an, davon 4.056 in Griechenland. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) gibt aber an, dass nur 693 Schutzsuchende über die EU-Landgrenzen eingereist seien. Diese Gegenüberstellung lässt erahnen, was an den Landgrenzen Bulgariens und Griechenlands täglich geschieht: Schutzsuchende werden abgewiesen, zurückgedrängt, zum Teil zurückgeprügelt.
Legale Weiterreise ermöglichen
PRO ASYL fordert, sich endlich vom schäbigen Deal zu Lasten der Flüchtlingsrechte zu verabschieden. Die Türkei ist kein sicherer Drittstaat. Sogenannte Zulässigkeitsverfahren, um schnellstmöglich Schutzsuchende in die Türkei zurückzuschicken, müssen eingestellt werden.
Das menschenverachtende Experiment auf den griechischen Inseln muss unverzüglich beendet werden. Dort Festsitzende müssen auf das Festland gebracht werden und die zügige, legale Weiterreise in andere EU-Staaten muss ermöglicht werden.
Im Frühjahr 2017 lebten in ganz Griechenland etwa 57.000 Flüchtlinge unter prekären, elenden bis katastrophalen Bedingungen. Tausende von ihnen haben Verwandte in anderen EU-Staaten. Doch die Verfahren zur Familienzusammenführung dauern quälend lange: Auf griechischer Seite fehlt Personal, die Zielländer verschleppen die Verfahren. Es fehlt der politische Wille, Schutzsuchenden schnell einen Weg zu ihren Familien zu eröffnen.
Auch die Umverteilung (Relocation) von Schutzsuchenden aus Griechenland verläuft schleppend. Deutschland hat sich verpflichtet, 17.200 Schutzsuchende aus Griechenland bis September 2017 aufzunehmen. Beschämende Zwischenbilanz: Bis Anfang März wurden erst 2.862 Flüchtlinge aufgenommen.
In Deutschland und Europa wollen viele Städte, Regionen und Initiativen dem Flüchtlingselend in Griechenland nicht mehr tatenlos zusehen. Unter dem Motto »Let’s bring them here« kamen im Februar 2017 in Barcelona 160.000 Menschen zusammen, um für die unbürokratische Aufnahme Schutzsuchender unter anderem aus Griechenland zu demonstrieren. Anders als die politisch Verantwortlichen reden sie nicht nur von europäischen Werten wie Solidarität, Humanität und Würde, sondern lösen sie ein.
Karl Kopp, PRO ASYL
(Dieser Artikel erschien zuerst im Juni 2017 im »Heft zum Tag des Flüchtlings 2017«)