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»Das eigentliche Problem ist die Kriminalisierung von Flucht und Migration«
Im August 2017 beschlagnahmten die italienischen Behörden das Seenotrettungs-Schiff Iuventa. Das Ermittlungsverfahren mündete in eine Anklage gegen 21 Seenotretter*innen. Am 21. Mai beginnt das Vorverfahren. Kathrin Schmidt, ehemalige Einsatzleiterin und Mitangeklagte, berichtet, worum es ihrer Meinung nach in dem Prozess wirklich geht.
Mit dem Schiff Iuventa habt ihr seit 2016 über 14.000 Menschen aus der Seenot im Mittelmeer gerettet – bis zum 2. August 2017, als die italienischen Behörden euer Schiff aus dem Verkehr gezogen haben. Es war das erste zivile Seenotrettungsschiff, das von staatlicher Seite aus beschlagnahmt wurde. Wie hast du den Tag erlebt?
Es gab an dem Tag bei unserer letzten Mission eine sehr ungewöhnliche Situation, zu der wir durch die Seennotrettungsleitstelle MRCC Rom [Abk. für Maritime Rescue Coordination Center] gerufen wurden. Es sei ein Boot mit nur zwei Personen unterwegs, zu dem wir hinfahren sollten. Vor Ort fanden wir aber nicht das Boot, sondern trafen auf die italienische Küstenwache, die die zwei Personen bereits auf ihr Schiff genommen hatten. Sie übergaben uns die zwei Personen mit dem Auftrag, sie an Land zu bringen. Die Begründung war, dass sie das größere Rettungsschiff haben, und es daher besser sei, wenn sie weiter draußen nach Hilfsbedürftigen Ausschau halten. Im Nachhinein hatten wir den Eindruck, dass das so etwas wie ein fingierter Seenotfall war.
Das MRCC beauftragte uns, nach Lampedusa zu fahren. Vor Lampedusa haben wir darum gebeten, dass die zwei Personen von der italienischen Küstenwache übernommen und an Land gebracht werden, so dass wir direkt wieder runter in unser Einsatzgebiet fahren können. Das wurde uns aber verwehrt, und plötzlich – es war mittlerweile schon dunkel – waren wir von Blaulicht und mehreren Schiffen der italienischen Küstenwache umgeben, die uns in den Hafen von Lampedusa eskortierten.
Und seitdem liegt das Schiff dort?
Ja, seit über 4,5 Jahren. Mittlerweile gleicht es einem Geisterschiff, total verrostet, eingestaubt und nicht auslauffähig. Aus technischer Perspektive wäre es auch Quatsch, es nochmal fit zu machen, das hätte eher symbolischen Charakter.
Mit welcher Begründung ist so eine drastische Maßnahme möglich?
Damals wurden uns drei Begründungen genannt: Erstens, die »Beihilfe zur illegalen Einreise«, das ist der einzige Vorwurf, der heute noch übriggeblieben ist. Dann die »Mitgliedschaft in einem kriminellen Netzwerk«. Und das Dritte war, das haben sie gebraucht in dieser Liste, weil nur mit dieser Drastik können sie solche Maßnahmen wie Schiffe beschlagnahmen überhaupt umsetzen: »Der Besitz von illegalen Schusswaffen«. Nach diesen haben sie auch gesucht – und nichts gefunden.
Wie kann es dann sein, dass das Schiff dennoch seit Jahren beschlagnahmt bleibt?
Das ist so eine Verständnisfrage, die ich auch öfter mal unseren Anwält*innen gestellt habe. Ich habe mir das so erklären lassen: Das Schiff ist sozusagen das Mittel, mit dem wir die uns vorgeworfene Straftat begangen haben könnten. Deswegen bleibt es unter Verschluss, auch wenn der ausschlaggebende Grund für die Beschlagnahmung, nämlich der angebliche Besitz von Schusswaffen, bereits widerlegt ist. Und auch, obwohl längst alle Beweismittel auf dem Schiff gesichert wurden.
»Sogar der italienische Geheimdienst hat gegen uns ermittelt.«
Euch wurde ja nicht nur das Schiff abgenommen, sondern gegen euch wird auch ermittelt.
Genau. Und das begann nicht erst mit der Festsetzung der Iuventa, sondern schon seit September 2016, wie wir später erst erfuhren. Als wir in die über 200 Seiten dicken Beschlagnahmungsprotokolle schauten, ist uns klargeworden: da sind Mitschnitte von Gesprächen drin, die wir in der Vergangenheit geführt hatten, und zwar seit Mai 2017.
Ihr wurdet abgehört?
Das, was da schon im Vorhinein passiert ist, ist unglaublich umfangreich gewesen und hat mehrere Ermittlungsbehörden involviert – unter anderem auch den italienischen Geheimdienst und die italienische Staatsanwaltschaft. Die Strafakte ist fast 29.000 Seiten lang, dazu um die 400 CDs mit abgehörten Gesprächen. Unsere Brücke [Anm. Steuerraum] wurde verwanzt, es waren verdeckte Ermittler im Einsatz und es wurden Telefonate mit Klient*innen, Anwält*innen und Journalist*innen abgehört, die nicht hätten abgehört werden dürfen. Letztlich mussten diese Gesprächsprotokolle aus der Akte entfernt werden, aber es gab keine weiteren Folgen gegen diese illegalen Ermittlungspraktiken
Das alles ist eine Hausnummer, finde ich. Gleichzeitig sagt´s mir aber auch, wenn so viele Maßnahmen notwendig sind, steckt anscheinend nicht so viel drin, was sie bräuchten, um uns nachzuweisen, dass wir irgendetwas Anderes gemacht haben, als was wir eben getan haben: Menschen aus Seenot zu retten.
Wie kam es dann zur Anklage gegen euch?
Erst im Sommer 2018 sickerte durch, dass gegen fast 30 Leute, die mit auf verschiedenen Schiffen operiert haben, ermittelt wurde. Das betraf zehn Personen aus unserem Team und weitere mit uns auf dem Wasser operierende Kolleg*innen von Save the Children und Ärzte ohne Grenzen (MSF). Im Januar 2021 erfuhren wir, dass das Ermittlungsverfahren beendet wurde und es für 21 Menschen in die Anklage geht, darunter vier von uns. Außerdem wurden auch die Organisationen Save the Children und MSF und die Reederei Vroon Offshore Services, die Schiffe an die zwei anderen Organisationen vermietet hatte, angeklagt.
Bei der Anklage geht es um angebliche Beihilfe zur unerlaubten Einreise während einer Mission im September 2016 und einer im Juni 2017. Kurz nach der Beschlagnahmung arbeiteten Expert*innen die Geschehnisse der zwei Missionen umfangreich mit den uns verfügbaren Daten und Informationen auf. Die Analyse widerlegt die an uns gerichteten Vorwürfe. Wir reichten sie bei der Staatsanwaltschaft ein und beantragten die Einstellung des Ermittlungsverfahrens – vergeblich.
Wie hat die Organisation Jugend rettet, denen ja die Iuventa gehört, auf die Beschlagnahmung ihres Schiffes reagiert?
Die haben bis in die höchsten italienischen Instanzen geklagt, dass dieses Schiff freigelassen werden muss. Aber das wurde abgelehnt, vom Kassationsgerichtshof in Italien.
Was macht der Prozess mit dir?
Ich habe einen großen Drang danach weiterhin und jetzt erst recht politische Arbeit zu machen und aktiv zu sein. Sei es auf dem Mittelmeer, oder an anderen Außengrenzen. Ich glaube, gerade weil der Prozess und die Aufarbeitung davon sehr anstrengend sind, möchte ich diesem Wirken von Repression irgendetwas entgegensetzen. Denn: Repression funktioniert natürlich. Das ist zermürbend, das zehrt unglaublich, das kostet Zeit, Geld und es lähmt auch zu einem gewissen Maße. Ich wünsche mir aber, dass es nicht nur scheiße ist, sondern irgendwie auch etwas Positives daraus generiert werden kann. Daher der Mut und die neue Energie für weitere Projekte. Und die Bemühungen, Aufmerksamkeit für ein Thema zu generieren, was viel zu wenig Aufmerksamkeit abbekommt.
»Offensichtlich ist, dass das ein völlig aufgeblasener, politischer Schauprozess ist.«
Worum glaubst du, geht es in dem Prozess wirklich?
Offensichtlich ist, dass das ein völlig aufgeblasener, politischer Schauprozess ist. Einerseits soll wohl diese Kriminalisierung von Seenotrettung und von Menschen, die sich solidarisch mit Geflüchteten verhalten, eine Abschreckungswirkung entfalten. Andererseits haben sie natürlich de facto sehr praktisch und technisch ein Schiff aus dem Verkehr gezogen. Und darüber hinaus glaube ich, dass sie mit diesem übertriebenen Aufwand gegen uns davon ablenken wollen, dass diese Art von Prozessen ja schon seit vielen Jahren durchgezogen werden. Und zwar gegen Geflüchtete selbst, in oft unfairen und kurzen Gerichtsverfahren, teilweise ohne Übersetzung und kaum Zeugen – ohne öffentliche Aufmerksamkeit, wie bei uns.
In dem Prozess drohen dir bis zu 20 Jahre Haft. Aber trotzdem siehst du den eigentlichen Skandal woanders?
Ich glaube, das Hauptproblem ist nicht die Kriminalisierung von Seenotrettung, sondern das, was dahintersteht: die Kriminalisierung von Flucht und Migration selbst. Daher ist für mich wichtig, dass wir es nicht bei der Forderung nach Beendigung der Kriminalisierung von Solidarität belassen. Weil hier geht es nicht um uns – nicht primär. Da sind tausende Schutzsuchende in italienischen und griechischen Gefängnissen, die wegen des gleichen Vorwurf zu unglaublich langen Haftstrafen verurteilt wurden. Dafür, dass sie sich selbst in Seenot befindend ein Steuer übernommen haben, weil es sonst keiner getan hätte
In Griechenland wurden in den vergangenen Jahren tausende Schutzsuchende wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ verurteilt. Der Vorwurf gegen Schutzsuchende wird mit einer Systematik vorgetragen, dass die verurteilten „Kapitäne“ von Flüchtlingsbooten mittlerweile die zweitgrößte Häftlingsgruppe in griechischen Gefängnissen ausmachen.
In Italien gibt es keine offiziellen Zahlen, wie viele Schutzsuchende wegen vermeintlicher Schlepperei verurteilt wurden. Berichten zufolge wurden in den letzten zehn Jahren mehr als 1.000 Fälle dieser Art verhandelt.
Auch in Malta werden Schutzsuchende kriminalisiert und mit drakonischen Haftstrafen bedroht, wie der skandalöse Gerichtsprozess gegen die „El Hiblu 3“ zeigt. In dem Fall droht drei aus Seenot Geretteten unter anderem wegen Terrorismusvorwürfen lebenslange Haft.
Das heißt, eigentlich interviewen wir hier gerade die Falsche?
Wir sind halt diejenigen, die in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erhalten. Wir sind weiße Gesichter, die mit ihren Geschichten und Emotionen eher Empathie wecken, als das bei People of Color und Geflüchteten funktioniert, die oft auch unpersonalisiert dargestellt werden. Also ja, ich find das problematisch, weil ich das nicht reproduzieren möchte. Aber wir müssen diese Bühne, die uns gegeben wird, auch nutzen. Für den Prozess selbst, aber vor allem, um Aufmerksamkeit auf die vielen unfairen Verfahren gegen Geflüchtete selbst zu richten.
»Mittlerweile gibt es Fälle von Pushbacks, die man als Mord bezeichnen muss.«
Italiens ehemaliger Innenminister Matteo Salvini hat in seiner Amtszeit 2018–2019 eine besonders flüchtlingsfeindliche Politik der geschlossenen Häfen betrieben. Hat sich seit dem politischen Wechsel für euch die Situation entspannt?
Ja und nein. Aus Perspektive der Seenotrettung werden uns seither etwas weniger Steine in den Weg gelegt. Aber mit Blick auf die Gesamtsituation geht es seit dem Libyen-Deal 2017 kontinuierlich bergab. Die Zusammenarbeit mit den Behörden im Mittelmeer war früher deutlich besser.
Die Leitstelle MRCC Rom zum Beispiel, die eigentlich dafür zuständig ist, Seenotrettungsfälle zu koordinieren, macht mittlerweile eigentlich nichts anderes, als Pullbacks von der libyschen Küstenwache einzufädeln. Und ihr kennt die Bilder von deren skrupellosen Vorgehensweisen. Das ist für uns manchmal ein Wettlauf gegen die Zeit, zu verhindern, dass Menschenrechtsverletzungen auf dem Wasser stattfinden.
Auch die Seenotleitstelle in Malta ist eine, die ganz selten nur den Hörer abnimmt und meistens den Milizen aus Libyen das Feld überlässt. Auch die Pushbacks übers Wasser von Griechenland in die Türkei sind nicht nur mehr geworden, sondern haben an Brutalität zugenommen. Die Menschen wurden irgendwann auf Rettungsinseln ausgesetzt. Mittlerweile gibt es Fälle, bei denen sogar ohne diese Rettungsinseln zurückgepusht wurde, was man als Mord bezeichnen muss.
Es gibt Berichte dazu, dass Schutzsuchende mit Kabelbindern gefesselt einfach über Bord geschmissen werden. Mit einigen, die das überleben konnten, haben wir gesprochen. Dieses Vorgehen wäre vor ein paar Jahren undenkbar gewesen. Das ist eine Entwicklung, da dreht sich mir einfach nur noch der Magen um. Und die EU stellt sich hin und sagt Danke, dass ihr unser Schutzschild sein.
Im Koalitionsvertrag bekennt sich die Ampelregierung dazu, dass zivile Seenotrettung nicht behindert werden darf und kündigt an, dass sie sich für eine staatlich koordinierte, europäische Seenotrettung im Mittelmeer einsetzen und Maßnahmen wie den Malta-Mechanismus bei der Verteilung auf die EU-Staaten weiterentwickeln will. Auch soll sichergestellt werden, dass Menschen nach der Rettung an sichere Orte gebracht werden – also nicht nach Libyen. Wie zuversichtlich stimmen dich die Ankündigungen?
Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Eigentlich bin ich nicht sehr zuversichtlich, weil mir dieser Lösungsansatz auch sagt, dass sie das Problem noch nicht ganz erfasst haben. Es ist natürlich zu problematisieren, dass es keine staatliche Seenotrettung gibt und die zivile behindert wird. Aber das eigentliche Problem ist, dass Menschen keine legalen Fluchtwege haben. Es ist in der Asyl- und Migrationspolitik von Europa nicht vorgesehen, dass Menschen aus weniger privilegierten Nationen nach Europa kommen können, ohne sich selbst und ihre Familien in Gefahr zu bringen. Und dass dieses Problem in den nächsten Jahren und Jahrzehnten größer werden wird, dürfte eigentlich klar sein.
Deutschland und andere Industrienationen haben über Jahrzehnte auf den Rücken anderer Staaten ihren Wohlstand auf- und ausgebaut und das sind die Konsequenzen. Dafür muss Europa und dafür muss Deutschland Verantwortung übernehmen. Dass wir den Menschen, denen wir keine legalen Einreisemöglichkeiten geben, dann eine staatlich organisierte Seenotrettung anbieten, find ich einfach zu kurz gedacht.
Zur Person
Kathrin Schmidt ist seit 2016 in der Seenotrettung aktiv – auf dem Schiff, in der Luft und an Land. Unter anderem war sie ein Jahr lang mit der Iuventa auf Mission, hat für das Aufklärungsflugzeug Moonbird gearbeitet und hat in der Türkei von Pushbacks Betroffene versorgt. Aktuell arbeitet sie für das Rettungsschiff Louise Michel.
(fw)