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Tödliches Versagen auf dem Mittelmeer
Die EU und ihre Mitgliedsstaaten betreiben im Mittelmeer Fluchtabwehr um jeden Preis. Das Völkerrecht geht dabei über Bord – zusammen mit Tausenden Menschen, die jedes Jahr bei dem Versuch sterben, Europa übers Meer zu erreichen. Am morgigen Samstag, dem 7.8., sind im ganzen Land Proteste für die Seenotrettung geplant.
Für 257 Flüchtlinge geht das Martyrium nach tagelanger Wartezeit auf dem Meer endlich vorbei: Heute, Am 6. August, erhielt die Sea-Watch 3 die Erlaubnis, den sizilianischen Hafen Trapani anzulaufen. Die Menschen an Bord hoffen nun auf ein neues Leben in Europa: 257 Männer, Frauen und Kinder mit Zukunftsträumen, Erwartungen und Plänen. Zeitgleich warten mehr als 500 Migranten an Bord des Rettungsschiffes Ocean Viking noch immer auf die Zuweisung eines Hafens. Es ist purer Zufall, wer von welchem Schiff geborgen wurde. Und es gleicht einer Glückslotterie, wer es schafft, Europa lebend zu erreichen und wer bei diesem Versuch sein Leben lässt.
Während die Zahl derjenigen, die übers Mittelmeer nach Europa kommen, kaum abreißt, stumpfen viele ab. Schon wieder ein Bootsunglück? Schon wieder hunderte Tote? Oftmals wird das fast achselzuckend zur Kenntnis genommen. Die Betroffenheit, die noch vor ein paar Jahren zu spüren war, als etwa Bilder des an einen Strand gespülten Flüchtlingsjungen Alan Kurdi um die Welt gingen, ist einer erschreckenden Gleichgültigkeit gewichen. Einerseits.
Bundesweite Aktionstage zur Seenotrettung am 7. und 8. August
Andererseits gibt es viele engagierte Einzelpersonen und Organisationen, die sich mit gleichbleibendem Einsatz für die Seenotrettung stark machen. Menschenrechtler*innen und Hilfsorganisationen, darunter auch PRO ASYL, rufen für dieses Wochenende in zahlreichen deutschen Städten zu Demonstrationen auf. Erwartet werden Tausende Teilnehmer*innen in mehr als 15 Städten. Unter dem Motto »Seenotrettung ist #unverhandelbar« stellen die Menschen sich gegen das Sterbenlassen im Mittelmeer.
Das ist wichtig, denn das Mittelmeer gilt nach wie vor als größtes Massengrab Europas. Seit 2014 sind laut UNHCR etwa 21.500 Menschen darin ertrunken (Stand 1. August 2021). Das Sterben im Mittelmeer ist »das Resultat einer gescheiterten Migrationspolitik, in der Menschenrechte nicht im Zentrum stehen und die schon zu lange von einem Mangel an Solidarität geprägt ist«, stellt die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet in ihrem im Mai veröffentlichten Bericht »Lethal Disregard« über die zentrale Mittelmeerroute klar. Bootsflüchtlinge »sind nicht anders – und keineswegs weniger wertvoll oder weniger würdig – als Sie oder ich«, betonte Bachelet bereits 2019. Doch die Praxis sieht vielerorts anders aus.
Die humanitäre und politische Krise erstreckt sich über alle drei Mittelmeerregionen, von der Ägäis über das zentrale Mittelmeer bis zum westlichen Mittelmeer und der Atlantik-Route.
Im Januar 2021 wurde Italien im Fall eines Schiffbruchs vor Lampedusa 2013 vom UN-Menschenrechtskomitee für die unterlassene Seenotrettung verurteilt. Recherchen des Journalisten Fabrizio Gatti, Menschenrechtspreisträger von PRO ASYL, hatten damals maßgeblich zur Aufklärung des Falls beigetragen. »Italien hat es versäumt, das Recht auf Leben zu schützen«, heißt es in der Entscheidung des Menschenrechtskomitees. Konsequenzen hat das nicht: Acht Jahre nach dem Vorfall haben sich Italien, Malta und die EU noch weiter aus der Seenotrettung zurückgezogen. Die humanitäre und politische Krise erstreckt sich über alle drei Mittelmeerregionen, von der Ägäis über das zentrale Mittelmeer bis zum westlichen Mittelmeer und der Atlantik-Route.
Ägäis: systematische Pushbacks von Schutzsuchenden
Pushbacks in Griechenland sind nichts Neues, doch seit März 2020, nachdem das Erdogan-Regime den EU-Türkei-Deal einseitig aufgekündigt hatte, führt die griechische Küstenwache Pushbacks in einer bisher ungekannten Systematik durch – unter den Augen und mit Hilfe der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Inwiefern die in die illegalen Zurückweisungen verwickelt ist, hat jüngst der Bericht eines Untersuchungsausschusses im EU-Parlament offenbart. Doch die Täter werden kaum zur Verantwortung gezogen.
Journalist*innen und NGOs haben die Praktiken umfassend dokumentiert: Die griechische Küstenwache zerstört die Motoren von Flüchtlingsbooten oder treibt diese in türkische Gewässer zurück. Auch Schutzsuchende, die bereits eine griechische Insel erreicht haben, können häufig keinen Asylantrag stellen, sondern müssen fürchten, auf aufblasbaren, manövrierunfähigen Rettungsinseln wieder in der Ägäis ausgesetzt zu werden.
Ende März 2021 verurteilte der UNHCR die Pushbacks durch Griechenland. Seit April 2020 konnten lediglich 3.448 Schutzsuchende Griechenland über die Ägäis erreichen und einen Asylantrag stellen (Stand 30. Juni 2021).
Zentrales Mittelmeer: Unterlassene Hilfeleistung und Aufrüstung libyscher Milizen
2021 kamen bisher 19.971 Schutzsuchende über die zentrale Mittelmeerroute in Europa an, rund dreiviertel von ihnen setzten von Libyen nach Italien über.
In den berüchtigten libyschen Haftlagern herrschen furchtbare Zustände. Aufgrund der Gewalt gegen Schutzsuchende und Sicherheitsbedenken für ihre Mitarbeiter*innen hat die Menschenrechtsorganisation Ärzte Ohne Grenzen am 22. Juni ihre Mission in zwei Haftlagern in Tripolis beendet. Die Menschenrechtsverletzungen in Libyen sind der EU hinlänglich bekannt, dennoch rüstet sie weiter die libysche Küstenwache aus, die mit lokalen Warlords kooperiert. Circa 13.000 Schutzsuchende hat die Küstenwache allein in der ersten Hälfte dieses Jahres abgefangen und nach Libyen zurückgeschleppt – zurück in Folter, Vergewaltigungen und willkürliche Erschießungen.
Dass Schutzsuchende auf diese tödliche Route ausweichen, ist ein Resultat der europäischen Politik der Auslagerung.
Spanien: Schutzsuchende auf der gefährlichen Atlantik-Route
Aufgrund verschärfter Kontrollen an den spanischen Enklaven Melilla und Ceuta und der nördlichen Küstenregion Marokkos nehmen immer mehr Schutzsuchende die viel gefährlichere Route über den Atlantik Richtung Kanarische Inseln. Seit 2020 erreichen mehr Schutzsuchende Spanien über die Atlantik-Route als über die wesentlich kürzere, westliche Mittelmeerroute. Nach offiziellen Zahlen sind auf diesem Weg im vergangenen Jahr 850 Menschen ertrunken. Die Dunkelziffer liegt laut NGOs jedoch deutlich höher.
Dass Schutzsuchende auf diese tödliche Route ausweichen, ist ein Resultat der spanischen und europäischen Politik der Auslagerung. Die Abwehr von flüchtenden Menschen beginnt für Europa bereits in Afrika – afrikanische Diktatoren werden zu Türstehern der EU.
Appell für eine europäische Seenotrettungsmission
Der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli, machte vor wenigen Wochen deutlich: »Es ist unsere Pflicht, Leben zu retten. Wir brauchen eine europäische Seenotrettungsmission.« Das fordern Organisationen wie PRO ASYL schon seit Jahren. Doch Europas Politiker*innen schaffen es noch nicht einmal, die aus Seenot Geretteten aufzunehmen und solidarisch zu verteilen.
»Es ist unsere Pflicht, Leben zu retten. Wir brauchen eine europäische Seenotrettungsmission.«
Deutschland ist da keine Ausnahme: Seit September vergangenen Jahres hat die Bundesregierung keine aus Seenot geretteten Migranten mehr aufgenommen. Das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. Umso wichtiger ist es, dass die Zivilgesellschaft für den Schutz der Menschenrechte eintritt, wo die Politik versagt!
(dm/er)