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Dutzende Flüchtlinge protestieren im Herbst 2021 vor dem Büro der Vereinten Nationen in Tripolis, Libyen Foto: picture alliance / Associated Press/ Yousef Murad

Flüchtlinge sind in Libyen in einem Kreislauf aus Gewalt und Perspektivlosigkeit gefangen. Im Oktober 2021 forderten Tausende vor dem Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks in Tripolis ihre Rechte ein. Der selbstorganisierte Protest wurde von den libyschen Behörden brutal unterdrückt – und war in Europa kaum eine Randnotiz. Und heute?

»Der Pro­test ist ent­stan­den, weil die Men­schen den Kreis­lauf der Gewalt nicht län­ger ertra­gen. Und weil wir ver­stan­den haben, dass wir nie­man­den haben, der sich für uns ein­setzt. Es sei denn, wir orga­ni­sie­ren uns selbst.« Mit die­sen Wor­ten erklärt ein jun­ger Mann aus dem Süd­su­dan sein Enga­ge­ment in der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Flücht­lin­ge in Libyen.

Am 13. April lud die Grup­pe »Refu­gees in Libya« zu einem Online-Gespräch über ihre Lage ein. Das Gefühl, von der Welt allein gelas­sen zu wer­den, gepaart mit Ver­zweif­lung, Wut und Ent­schlos­sen­heit, dem Schick­sal die Stirn zu bie­ten, schien immer wie­der durch, als Män­ner und Frau­en aus ver­schie­de­nen afri­ka­ni­schen Län­dern über die kata­stro­pha­le Situa­ti­on vor Ort berich­te­ten. Einer von ihnen, der noch immer in Liby­en lebt, ist der 24-jäh­ri­ge Char­lie. Er heißt eigent­lich anders, will sei­nen ech­ten Namen aber aus Sicher­heits­grün­den nicht öffent­lich machen. »Ich möch­te die Welt dar­an erin­nern, dass wir Men­schen sind, kei­ne Zah­len. Wir sind Men­schen, die  Namen haben, die eine Mut­ter, einen Vater, ein Kind, eine Schwes­ter haben«, sag­te er. »Aber die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft hat ver­sagt, das zu erken­nen. Men­schen wer­den geschla­gen, getö­tet, Frau­en ver­ge­wal­tigt, Män­ner zur Zwangs­ar­beit genö­tigt. All das geschieht in Liby­en unter den Augen der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft, mit den Gel­dern euro­päi­scher Behör­den. Wis­sen die euro­päi­schen Steu­er­zah­ler, dass ihr Geld unschul­di­ge Men­schen kaputt macht, Müt­ter und Väter, die sich nach Frei­heit seh­nen und die ein nor­ma­les Leben füh­ren wollen?«

»Wis­sen die euro­päi­schen Steu­er­zah­ler, dass ihr Geld unschul­di­ge Men­schen kaputt macht, Müt­ter und Väter, die sich nach Frei­heit seh­nen und die ein nor­ma­les Leben füh­ren wollen?«

Char­lie von der Grup­pe »Refu­gees in Libya« 

Im Okto­ber 2021 hat­ten sich Flücht­lin­ge  aus dem Süd­su­dan, Sier­ra Leo­ne, Tschad, Ugan­da, Kon­go, Ruan­da, Burun­di, Soma­lia, Eri­trea, Äthio­pi­en und Sudan in Liby­en zusam­men­ge­schlos­sen, um gegen die men­schen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen zu pro­tes­tie­ren. Trotz Sprach­bar­rie­ren gelang es ihnen, sich zu orga­ni­sie­ren.  In den sozia­len Netz­wer­ken und auf einer eige­nen Home­page infor­mie­ren sie über die Zustän­de in Liby­en und haben in einem Mani­fest ihre For­de­run­gen zusammengestellt.

5000 Menschen wurden gefangen genommen, darunter viele Frauen und Kinder

Aus­lö­ser für die Pro­tes­te waren groß ange­leg­te Raz­zi­en der liby­schen Behör­den in Gar­ga­resh, einem Stadt­teil der Haupt­stadt Tri­po­lis, infol­ge­des­sen rund 5000 Men­schen – dar­un­ter vie­le Frau­en und Kin­der – ver­haf­tet und in Lager gebracht wur­den. Tau­sen­de Men­schen demons­trier­ten dar­auf­hin mona­te­lang vor dem Büro des UN-Flücht­lings­hilfs­werks in Tri­po­lis. Auch Char­lie war dabei. Sie for­der­ten Sicher­heit, die Schlie­ßung der berüch­tig­ten Lager und eine fai­re Behand­lung im Ein­klang mit der  Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on. Doch anstatt den Men­schen zu hel­fen, stell­ten die Ver­ein­ten Natio­nen vor­über­ge­hend ihre Arbeit in dem Büro ein und schlos­sen die­ses im Janu­ar ganz. In Char­lies Stim­me lie­gen Ankla­ge und Fas­sungs­lo­sig­keit, als er von die­ser Zeit berich­tet. »Das Flücht­lings­hilfs­werk soll­te sich für unse­re Rech­te ein­set­zen. Statt­des­sen wur­den wir von liby­schen Mili­zen gefol­tert und die kom­men davon, ohne bestraft zu wer­den. War­um schweigt die Welt dazu?«

Nach über 100 Tagen wur­de der Pro­test in der Nacht auf den 10. Janu­ar 2022 von liby­schen Mili­zen gewalt­voll auf­ge­löst. Rund sechs­hun­dert Men­schen wur­den in Gefäng­nis­se ver­schleppt. Der Bot­schaf­ter der EU in Liby­en, José Sab­a­dell, spiel­te bei der Räu­mung eine umstrit­te­ne Rol­le.  Er hat­te die liby­schen Behör­den im Dezem­ber auf Twit­ter mit Blick auf die Pro­test­be­we­gung der Flücht­lin­ge auf­ge­for­dert, die Sicher­heit der Men­schen und des Betriebs­ge­län­des zu gewähr­leis­ten – womit er nicht die Sicher­heit der Geflüch­te­ten gemeint haben dürf­te. Die­se wer­fen ihm vor, er habe den liby­schen Mili­zen damit grü­nes Licht gege­ben, hart durch­zu­grei­fen. »Es ist eine Schan­de für Euro­pa, Men­schen im Stich zu las­sen, die ver­su­chen, in Sicher­heit zu gelan­gen«, sagt Char­lie. »Es ist eine Schan­de, dass Euro­pa nicht aner­kennt, dass wir ein Recht auf Leben und Asyl haben. Dass nie­mand erkennt, dass wir zählen.«

UN- und EU-Berichte belegen schwerste Menschenrechtsverletzungen – doch das bleibt folgenlos

Weder die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Geflüch­te­ten in Liby­en noch deren Unter­drü­ckung und Inhaf­tie­rung wur­de hier­zu­lan­de groß zur Kennt­nis genom­men. Dar­an zeigt sich, dass die Stra­te­gie Euro­pas, den Flücht­lings­schutz aus­zu­la­gern und mög­lichst kei­ne Bil­der zu pro­du­zie­ren, um bloß nicht Empa­thie zu wecken, auf­geht. Die Logik dahin­ter ist ein­fach: Wo es kei­ne Bil­der gibt, gibt es auch kein Mit­ge­fühl – und kei­ne Empö­rung. Von der einen oder ande­ren Zei­tung abge­se­hen, wur­de  kaum über die Pro­test­be­we­gung berich­tet. »Wir haben 100 Tage lang pro­tes­tiert und so viel geweint, aber nie­mand hat uns zuge­hört«, sagt Char­lie ent­täuscht. »Selbst Tie­re wer­den bes­ser behan­delt als wir. Aber wir wer­den wei­ter davon berich­ten, was uns ange­tan wird.«

Seit Jah­ren ist bekannt, dass schutz­su­chen­de Men­schen in den liby­schen Lagern gefol­tert, ver­ge­wal­tigt und getö­tet wer­den. Das pran­gern nicht nur NGOs an, es steht auch in Berich­ten inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen. So leg­te im ver­gan­ge­nen Okto­ber ein von der UN erstell­ter Bericht nahe, es gebe hin­rei­chend Grün­de für die Annah­me, dass die Miss­hand­lung von Migran­ten in Liby­en auf See, in den Zen­tren und durch Men­schen­händ­ler Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit dar­stel­len. Ende Janu­ar berich­te­te die Nach­rich­ten­agen­tur AP über einen ver­trau­li­chen Mili­tär­be­richt der EU, in wel­cher sich die Euro­pä­er für die Fort­set­zung des umstrit­te­nen EU-Pro­gramms zur Aus­bil­dung und Aus­rüs­tung der liby­schen Küs­ten­wa­che aus­spre­chen – obwohl von einem »über­mä­ßi­gen Ein­satz von Gewalt« die Rede ist. Im Bericht wird fest­ge­stellt, dass es schwie­rig ist, in Liby­en poli­ti­sche Unter­stüt­zung für die Durch­set­zung »ange­mes­se­ner Ver­hal­tens­stan­dards im Ein­klang mit den Men­schen­rech­ten, ins­be­son­de­re im Umgang mit irre­gu­lä­ren Migran­ten« zu erhal­ten. Ein Spre­cher der EU-Kom­mis­si­on bestä­tig­te jedoch, dass die EU ent­schlos­sen sei, wei­ter­hin Per­so­nal der liby­schen  Küs­ten­wa­che aus­zu­bil­den. Das EU-Schu­lungs­pro­gramm »bleibt fest auf dem Tisch, um die Kapa­zi­tät der liby­schen Behör­den zur Ret­tung von Men­schen­le­ben auf See zu erhö­hen«, sag­te Peter Sta­no – ver­schwei­gend, dass die liby­sche Küs­ten­wa­che die »geret­te­ten« Men­schen zurück in die Höl­le der Lager bringt. Eine Frau aus Kame­run, die in Liby­en sexu­ell aus­ge­beu­tet wur­de, fin­det dafür tref­fen­de Wor­te: »Sie nen­nen es Leben ret­ten? Wie kann es Leben ret­ten, wenn die­se Leben gefol­tert wer­den, nach­dem sie geret­tet wurden?«

Seit 2015 wur­den rund 455 Mil­lio­nen Euro aus dem EU-Treu­hand­fonds für Afri­ka (eigent­lich ein Instru­ment der Ent­wick­lungs­hil­fe) für Liby­en bereit­ge­stellt, wovon ein erheb­li­cher Teil in die Finan­zie­rung von Migra­ti­on und Grenz­schutz floss.

Schlaglichter einer fatalen Allianz

Nach Anga­ben der Inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on wur­den im ver­gan­ge­nen Jahr mehr als 32.000 Men­schen von der EU-finan­zier­ten, liby­schen Küs­ten­wa­che abge­fan­gen und zurück­ge­bracht in die Lager – die Zahl hat sich im Ver­gleich zu 2020 mehr als verdreifacht.

Seit 2015 wur­den rund 455 Mil­lio­nen Euro aus dem EU-Treu­hand­fonds für Afri­ka (eigent­lich ein Instru­ment der Ent­wick­lungs­hil­fe) für Liby­en bereit­ge­stellt, wovon ein erheb­li­cher Teil in die Finan­zie­rung von Migra­ti­on und Grenz­schutz floss. Die Bun­des­re­gie­rung steu­er­te rund 121,6 Mil­lio­nen Euro bei. Auch Deutsch­land betei­lig­te sich jah­re­lang an der Aus­bil­dung der liby­schen Küstenwache.

Die EU und Ita­li­en haben der soge­nann­ten liby­schen Küs­ten­wa­che Patrouil­len­schif­fe zur Ver­fü­gung gestellt, damit sie Flücht­lings­boo­te abfan­gen und sie in liby­sche Gefäng­nis­se zurück­brin­gen kann. Im Okto­ber 2020 nahm EU-Bot­schaf­ter Sab­a­dell an einer Zere­mo­nie in Tri­po­lis teil, als der liby­schen Küs­ten­wa­che  zwei wei­te­re Schif­fe über­ge­ben wur­den, die mit EU-Gel­dern repa­riert und auf­ge­rüs­tet wor­den waren.

Im Dezem­ber 2021 hat die liby­sche Küs­ten­wa­che aus Ita­li­en eine mobi­le See­not­leit­stel­le erhal­ten. Die in Con­tai­nern instal­lier­te Infor­ma­ti­ons- und Über­wa­chungs­tech­nik soll hel­fen, Geflüch­te­te in Boo­ten auf dem Mit­tel­meer zu ent­de­cken und anschlie­ßend nach Liby­en zurück­zu­schaf­fen. . Die Finan­zie­rung erfolgt im Rah­men des EU-Pro­jekts »Unter­stüt­zung der inte­grier­ten Grenz- und Migra­ti­ons­ver­wal­tung in Liby­en«  Zudem erhält die Küs­ten­wa­che wei­te­re drei Patrouil­len­schif­fe aus Ita­li­en, und das ita­lie­ni­sche Innen­mi­nis­te­ri­um soll laut Medi­en­an­ga­ben liby­sches Per­so­nal zur Bedie­nung der Tech­nik ausbilden.

Die Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex führt Über­wa­chungs­flü­ge über dem zen­tra­len Mit­tel­meer durch und gibt die Daten an die liby­sche Küs­ten­wa­che wei­ter, damit die­se Flücht­lings­boo­te auf­spü­ren kann. Die EU  gibt enor­me Sum­men aus, um die­se Über­wa­chung aufrechtzuerhalten.

Kurz­um: Die EU finan­ziert seit Jah­ren  die Akteu­re und die Infra­struk­tur,  um  Tau­sen­de von Boots­flücht­lin­gen abzu­fan­gen und will­kür­lich in Haft zu nehmen.

Lichtblick mit Einschränkungen 

Ende März ent­schied sich die Bun­des­re­gie­rung für eine Ver­län­ge­rung des Bun­des­wehr-Ein­sat­zes vor der liby­schen Küs­te im Rah­men der EU-Mis­si­on IRINI. Zwar haben die Ampel-Koali­tio­nä­re die umstrit­te­ne Aus­bil­dung der liby­schen Küs­ten­wa­che aus dem Auf­ga­ben­ka­ta­log gestri­chen – ein längst über­fäl­li­ger Schritt! – und fest­ge­hal­ten, dass die Bun­des­re­gie­rung sich dafür ein­setzt, »die Lage von Flücht­lin­gen und Migran­ten in Liby­en an Land zu ver­bes­sern«. Doch die­sen Wil­lens­be­kun­dun­gen müs­sen nun Taten in Form von euro­päi­schen Initia­ti­ven folgen.

Dass die Bun­des­wehr im Ein­satz für IRINI vor der liby­schen Küs­te jetzt offi­zi­ell ein Man­dat zur See­not­ret­tung hat, wird von der Bun­des­re­gie­rung als Fort­schritt ver­kauft. Doch das ver­schlei­ert gleich zwei­er­lei: Ers­tens ist die See­not­ret­tung ohne­hin eine völ­ker­recht­li­che Pflicht! Und zwei­tens befin­det sich das Ein­satz­ge­biet von IRINI vor der öst­li­chen Küs­te Liby­ens – das ist weit­ab der Rou­ten, die Geflüch­te­te nor­ma­ler­wei­se nehmen.

Char­lie und sei­ne Mit­strei­ter hof­fen, dass Euro­pa die Zusam­men­ar­beit mit Liby­en been­det und die gefan­ge­nen und gemar­ter­ten Men­schen eva­ku­iert. Auch PRO ASYL erhebt seit Jah­ren immer wie­der die For­de­rung nach Eva­ku­ie­rung und Relo­ca­ti­on-Pro­gram­men für die Flücht­lin­ge in Libyen.

Golgatha ist heute auch in Libyen

Gol­ga­tha, die Kreu­zi­gungs­stät­te Jesu, sei »heu­te in But­scha, Mariu­pol, Char­kiw«, erklär­te Annet­te Kur­schus, die Rats­vor­sit­zen­de der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land, in ihrer Kar­frei­tags­bot­schaft. Was sie nicht sag­te: Gol­ga­tha ist auch im liby­schen Haft­la­ger Ain Zara.

»Wir sehen, dass sehr vie­le Ukrai­ner in den euro­päi­schen Mit­glieds­staa­ten auf­ge­nom­men wur­den«, sagt Char­lie. »Aber die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft soll­te nicht nach Haut­far­be, Her­kunft oder Bil­dung ent­schei­den. Auch wir zäh­len. Weil wir Men­schen sind. Die Medi­en berich­ten nicht über uns, aber wir haben das­sel­be durch­ge­macht wie die Ukrainer.«

»Sagen Sie Ihren Poli­ti­kern, dass unse­re Leben genau­so wich­tig sein wie ihre. Wir zäh­len auf jeden Ein­zel­nen von Ihnen. Bit­te hel­fen Sie uns.«

Char­lie von der Grup­pe »Refu­gees in Libya« 

Und dann hat er noch eine Bit­te an die Men­schen in Deutsch­land: »Klä­ren Sie alle dar­über auf, was mit uns geschieht. Ver­brei­ten Sie die Nach­richt in Kir­chen, Ver­ei­nen, bei Ihren Poli­ti­kern. Sie leben in einer Demo­kra­tie! Sei­en Sie unse­re Ohren, Hän­de und Stim­men in Ihren Län­dern. Sagen Sie Ihren Poli­ti­kern, dass unse­re Leben genau­so wich­tig sein wie ihre. Wir zäh­len auf jeden Ein­zel­nen von Ihnen. Bit­te hel­fen Sie uns.«

(er)