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Ein tragisches Bild von der griechischen Küste. In Booten wie diesen versuchen Menschen über das Mittelmeer zu fliehen, um in Europa Schutz zu finden. Foto: Pixabay/Jim Black

An den EU-Außengrenzen werden Schutzsuchende und ihre Unterstützer*innen systematisch kriminalisiert. Griechenland: Ein Vater verliert bei einem Bootsunglück seinen kleinen Sohn und wird mit 10 Jahren Haft bedroht. Italien: Freiwillige, die dem Sterben im Mittelmeer nicht tatenlos zusehen wollen, müssen sich ab Samstag vor Gericht verantworten.

Es ist einer der skan­da­lö­ses­ten Bau­stei­ne der Fes­tung Euro­pa: Schutz­su­chen­de, die über den gefähr­li­chen Weg über das Mit­tel­meer nach Euro­pa flie­hen müs­sen, wer­den nach ihrer Ankunft wegen angeb­li­chen Men­schen­schmug­gels inhaf­tiert und ange­klagt. Zivi­le Seenotretter*innen, die Men­schen im Mit­tel­meer aus See­not ret­ten, wer­den immer wie­der für ihre lebens­ret­ten­de Arbeit vor Gericht gestellt.

Am gest­ri­gen Mitt­woch fand ein Pro­zess auf der grie­chi­schen Insel Samos gegen zwei Über­le­ben­de eines Boots­un­glücks statt. Bereits im Novem­ber 2020 hat PRO ASYL hat gemein­sam mit rund 70 zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen in dem Auf­ruf Free the Samos2 die Frei­las­sung der zwei Ange­klag­ten gefor­dert. Dem allein­er­zie­hen­den Vater haben zehn Jah­re Haft wegen Kin­des­wohl­ge­fähr­dung gedroht, weil er sei­nen sechs­jäh­ri­gen Sohn mit auf die Flucht genom­men hat­te. Und Hasan, dem wegen »Bei­hil­fe zur ille­ga­len Ein­rei­se« Mit­an­ge­klag­ten, der das Boot gesteu­ert hat­te, nach­dem die Schlep­per von Bord gegan­gen waren,  droh­ten allei­ne auf­grund die­ses Vor­wurfs 10 Jah­re Haft pro trans­por­tier­ter Per­son – in dem Fall also 230 Jah­re Haft.

Das Urteil fiel nun über­ra­schend mil­de aus: Der Vater des ver­stor­be­nen Kin­des wur­de frei­ge­spro­chen, der angeb­li­che Schlep­per zu einer Bewäh­rungs­stra­fe von einem Jahr und fünf Mona­ten verurteilt.

Trotz des mil­den Urteils ver­deut­licht der Fall die Gefahr, der Schutz­su­chen­de zusätz­lich aus­ge­setzt sind, nach­dem sie die lebens­ge­fähr­li­che Flucht über das Mit­tel­meer über­lebt haben: Ein Vater, der ein Leben in Sicher­heit für sei­nen Sohn sucht, wur­de mit zehn Jah­re Haft wegen Kin­des­wohl­ge­fähr­dung bedroht. Dabei ist bekannt, dass die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che über den Not­fall infor­miert wor­den war, es jedoch meh­re­re Stun­den dau­er­te, bis sie vor Ort ein­traf, und sie selbst dann kei­ne Ret­tungs­ver­su­che unter­nahm. Der Vater selbst, der sei­nen Namen nicht nen­nen möch­te, sagte vor dem Pro­zess: »Sie waren wirk­lich grau­sam zu mir. Ich habe mei­nen Sohn ver­lo­ren. Er ist im Was­ser ertrun­ken. Oben­drein haben sie mich in die­ser schreck­li­chen Situa­ti­on ver­haf­tet und ins Gefäng­nis gesteckt. Sie sagen, das sei das Gesetz. Das kann nicht das Gesetz sein. Das ist unmensch­lich. Das muss ille­gal sein. Wol­len sie mir wirk­lich die Schuld für den Tod mei­nes Soh­nes geben? Er war alles, was ich hat­te. Ich bin eigent­lich nur wegen mei­nes Soh­nes hier­her­ge­kom­men.«

»Sie waren wirk­lich grau­sam zu mir. Ich habe mei­nen Sohn ver­lo­ren. Er ist im Was­ser ertrun­ken. Oben­drein haben sie mich in die­ser schreck­li­chen Situa­ti­on ver­haf­tet und ins Gefäng­nis gesteckt. Sie sagen, das sei das Gesetz. Das kann nicht das Gesetz sein.«

Auch Hasan war die Fas­sungs­lo­sig­keit vor dem Pro­zess anzu­mer­ken: »Das muss ein Ende haben. Ich küm­me­re mich um mei­ne Fami­lie und muss sie unter­stüt­zen, denn mei­ne Mut­ter ist gelähmt, ich habe eine sehr jun­ge Schwes­ter und mein Bru­der hat psy­chi­sche Pro­ble­me. Ich muss wirk­lich bei ihnen sein, ich bin ihre ein­zi­ge Bezugs­per­son.«

Systematische Kriminalisierung und rechtsstaatlich fragwürdige Gerichtsprozesse

Es ist nicht unüb­lich, dass Geflüch­te­te wie Hasan von Schleu­sern dazu gezwun­gen wer­den, ein Boot zu navi­gie­ren und dann in Euro­pa des­halb im Gefäng­nis lan­den. »Wie vie­le Geflüch­te­te als Schlep­per ange­klagt oder ver­ur­teilt in grie­chi­schen Gefäng­nis­sen sit­zen, lässt sich nicht genau bezif­fern. Weder das grie­chi­sche Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um noch das Migra­ti­ons­mi­nis­te­ri­um waren zu einem Inter­view bereit«, heißt es in einem aus­führ­li­chen Bericht des Deutsch­land­funk über den aktu­el­len Fall der bei­den auf Samos ange­klag­ten Män­ner. Den letz­ten offi­zi­el­len Zah­len des grie­chi­schen Jus­tiz­mi­nis­te­ri­ums aus dem Jahr 2019 zufol­ge stel­len Asyl­su­chen­de, die wegen Men­schen­schmug­gels ver­ur­teilt wur­den, die zweit­größ­te Kate­go­rie von Inhaf­tier­ten in Grie­chen­land dar.

Der Ver­ein Bor­der­mo­ni­to­ring hat den Kampf gegen ver­meint­li­che Schleu­ser auf den grie­chi­schen Inseln aus­führ­lich unter­sucht. Dabei wird deut­lich, dass  die grie­chi­schen Geset­ze gegen Schleu­se­rei am stärks­ten Schutz­su­chen­de selbst tref­fen, die die Boo­te bei der Über­que­rung von der Tür­kei nach Grie­chen­land steu­ern. »Häu­fig sind sie von der Gesell­schaft mar­gi­na­li­siert und ras­sis­tisch aus­ge­grenzt und fin­den des­halb kaum Rück­halt oder Unter­stüt­zung«, heißt es in einer Stu­die. Und wei­ter: »Ver­ur­tei­lun­gen basie­ren oft auf der Aus­sa­ge einer ein­zi­gen Per­son – häu­fig ein Offi­zier der Küs­ten­wa­che, der erklärt, den Ange­klag­ten bei einem vie­le Mona­te zurück­lie­gen­den Ereig­nis erkannt zu haben. Die Richter*innen berück­sich­ti­gen kaum die per­sön­li­chen Umstän­de der Ange­klag­ten (…) Zudem haben die Gerich­te in allen Fäl­len davon abge­se­hen, die von den Ange­klag­ten erho­be­nen Vor­wür­fe der gewalt­sa­men Über­grif­fe durch die Küs­ten­wa­che oder die grie­chi­sche Poli­zei zu unter­su­chen. Dar­in zeigt sich, dass die Umset­zung der Anti-Schleu­se­rei-Gesetz­ge­bung auf den grie­chi­schen Inseln von der Fest­nah­me bis in den Gerichts­saal durch gro­be Grund­rechts­ver­let­zun­gen gekenn­zeich­net ist.«

Nach über­mä­ßig lan­ger Inhaf­tie­rung in Unter­su­chungs­haft wer­den die meis­ten der Ange­klag­ten in Gerichts­ver­fah­ren, die durch­schnitt­lich gera­de ein­mal eine hal­be Stun­de dau­ern, zu dra­ko­ni­schen Haft­stra­fen ver­ur­teilt. Die­se Ver­fah­ren ver­sto­ßen häu­fig gegen die grund­le­gen­den Stan­dards eines fai­ren Pro­zes­ses: Es gibt kei­ne ein­ge­hen­de Beweis­auf­nah­me, den Ange­klag­ten wer­den kei­ne Infor­ma­tio­nen zur Ver­fü­gung gestellt, und oft ist die Über­set­zung völ­lig unzu­rei­chend. In vie­len Fäl­len wer­den die Ange­klag­ten inner­halb von nur 15 Minu­ten für schul­dig befun­den und zu einer lebens­lan­gen Haft­stra­fe verurteilt.

Prozess gegen die Samos2 ist kein Einzelfall 

Tat­säch­lich ist der Pro­zess um die Samos2 kei­ne Aus­nah­me, und in den meis­ten Fäl­len geht es für die Ange­klag­ten nicht so gut aus wie für Hasan und den Vater: Anfang Mai wur­den die Paros3, die syri­schen Fami­li­en­vä­ter Abdal­lah, Moha­mad und Khei­ral­din, zu ins­ge­samt 439 Jah­ren Haft ver­ur­teilt. Abdal­lah hat Fami­lie in Öster­reich, Moha­mad in Deutsch­land, Khei­ral­din in Deutsch­land und Finn­land. Khei­ral­din beschloss, sei­ne bei­den Kin­der und sei­ne Frau in der Tür­kei vor­über­ge­hend zurück­zu­las­sen und sich selbst auf die gefähr­li­che Rei­se übers Meer zu machen, weil sei­ne zwei­jäh­ri­ge Toch­ter eine Ope­ra­ti­on benö­tigt, die sie in der Tür­kei nicht bekom­men kann. Er hoff­te, in Euro­pa Asyl zu bean­tra­gen und sei­ne Toch­ter nach­ho­len zu dür­fen. An Hei­lig­abend 2021 sank das Boot in der Nähe der Insel Paros. Nun muss er genau wie die bei­den ande­ren in den Knast, weil sie ver­such­ten, das Boot zu steu­ern.  Zwar erkann­te das Gericht auf der grie­chi­schen Insel Syros an, dass die drei Syrer kei­ne Schmugg­ler sind, denen es um Pro­fit gin­ge, und die Ankla­ge wegen Mit­glied­schaft in einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung wur­de fal­len­ge­las­sen. Doch die­se dra­ko­ni­sche Stra­fe erhiel­ten sie, weil sie »Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se« leisteten.

Weder ist Kri­mi­na­li­sie­rung von Schutz­su­chen­den ein Ein­zel­fall, noch ist sie auf Grie­chen­land beschränkt: In Ita­li­en wur­den in den ver­gan­ge­nen Jah­ren tau­sen­de Schutz­su­chen­de als ver­meint­li­che Schlep­per ver­ur­teilt. In Mal­ta sind im ElHi­blu3-Pro­zess drei Jugend­li­che ange­klagt (sie­he auch Inter­view mit dem Anwalt Neil Falzon).

Verfahren gegen Seenotretter*innen: «Ein juristischer und politischer Schauprozess»

Sol­che Gerichts­pro­zes­se gegen Schutz­su­chen­de wer­den in der Öffent­lich­keit außer­halb einer men­schen­recht­lich enga­gier­ten Sze­ne kaum wahr­ge­nom­men. Anders sieht es aus, wenn Europäer*innen auf der Ankla­ge­bank sit­zen. Das wird ab Sams­tag der Fall sein, wenn im ita­lie­ni­schen Tra­pa­ni  vier zivi­le Seenotretter*innen vor Gericht ste­hen wer­den. Ihnen wird »Bei­hil­fe zur ille­ga­len Ein­rei­se« vor­ge­wor­fen.  Bis zur Beschlag­nah­mung ihres Schif­fes »Iuven­ta« im August 2017 ret­te­te die Crew ins­ge­samt 14.000 Men­schen aus dem Mit­tel­meer. Im schlimms­ten Fall dro­hen den Ange­klag­ten bis zu 20 Jah­re Haft. Die dama­li­ge Ein­satz­lei­te­rin Kath­rin Schmidt sieht dar­in einen poli­ti­schen Zweck. »Offen­sicht­lich ist, dass das ein völ­lig auf­ge­bla­se­ner juris­ti­scher und poli­ti­scher Schau­pro­zess ist. Die Kri­mi­na­li­sie­rung von See­not­ret­tung und von Men­schen, die sich soli­da­risch mit Geflüch­te­ten ver­hal­ten, soll eine Abschre­ckungs­wir­kung ent­fal­ten«, sagt sie im Inter­view mit PRO ASYL.

Auch der Fall der Iuven­ta ist kein Ein­zel­fall: So war etwa die Kapi­tä­nin Caro­la Racke­te in Ita­li­en ange­klagt, bevor Ita­li­ens obers­tes Gericht ihre Frei­las­sung bestä­tig­te. In Grie­chen­land saßen 24 Mitarbeiter*innen der Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on »Emer­gen­cy Respon­se Cen­ter Inter­na­tio­nal« auf der Ankla­ge­bank, und in Mal­ta wur­de Claus-Peter Reisch, ehe­ma­li­ger Kapi­tän der »Life­line«, zu einer Geld­stra­fe verurteilt.

Europas moralischer Kompass hat versagt

All die­se Pro­zes­se gegen Geflüch­te­te und Seenotretter*innen zei­gen ein­mal mehr: in Euro­pa ent­steht eine ver­kehr­te Welt, in der nicht die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den, die auf­grund der Mili­ta­ri­sie­rung der Gren­zen und der immer schär­fe­ren Abschot­tung das mas­sen­haf­te Ster­ben an den EU-Außen­gren­zen zu ver­ant­wor­ten haben – son­dern die Schutz­su­chen­den selbst und ihre Helfer*innen. Euro­pas mora­li­scher Kom­pass – so es ihn je gab – hat versagt.

PRO ASYL for­dert die sofor­ti­ge Ein­stel­lung der Gerichts­ver­fah­ren, sowohl im Fal­le der Iuven­ta-Crew als auch gegen die ElHiblu3 sowie ähn­li­cher Fäl­le. Die Kri­mi­na­li­sie­rung von Flucht und die Inhaf­tie­rung von Schutz­su­chen­den muss ein Ende haben. Schutz­su­chen­de, die wegen des Steu­erns eines Boo­tes inhaf­tiert sind, müs­sen umge­hend frei­ge­las­sen wer­den. Und: Die Basis für die restrik­ti­ve natio­na­le Gesetz­ge­bung (etwa in Grie­chen­land) sind die EU-Ver­ord­nun­gen zur Bekämp­fung von Schleu­se­rei. Sie las­sen den Mit­glied­staa­ten viel Spiel­raum bei der Umset­zung und gehö­ren drin­gend überarbeitet

Anstatt Schutz­su­chen­de und ihre Unterstützer*innen zu kri­mi­na­li­sie­ren, muss gegen die sys­te­ma­ti­schen Push­backs und Gewalt gegen Schutz­su­chen­de an Euro­pas Gren­zen vor­ge­gan­gen wer­den, um das Recht auf Asyl zu ver­tei­di­gen. Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an Euro­pas Gren­zen müs­sen unter­sucht und die Ver­ant­wort­li­chen ange­klagt wer­den. Ein ers­ter Schritt ist die längst über­fäl­li­ge Ein­rich­tung unab­hän­gi­ger Menschenrechtsbeobachtungsmechanismen.

(er)