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Der menschenverachtende Deal der EU mit Libyen
12.748 Menschen starben zwischen 1. Januar 2015 und 31. Dezember 2018 im zentralen Mittelmeer. Und was macht Europa? Zivile Seenotrettung verhindern und weiter mit der »libyschen Küstenwache« zusammenarbeiten, damit diese Bootsflüchtlinge abfangen und in die Folterlager Libyens zurückschaffen kann.
Die EU rüstet weiter die sogenannte »libysche Küstenwache« –Milizionäre, Menschenschmuggler und Menschenhändler – aus. In 2017 und 2018 hat die »libysche Küstenwache« mehr als 30.000 Bootsflüchtlinge auf dem Meer aufgegriffen. Im Rahmen ihrer Patrouillen und »Rettungseinsätze« wendet sie Gewalt gegen Männer, Frauen und Kinder an, zwingt die Betroffenen auf ihre Schiffe und bringt sie zurück nach Libyen.
»Küstenwache« aus Warlords und Schmugglern
Wiederholt haben libysche Einheiten zivile Seenotretter*innen mit dem Tode bedroht und deren Schiffe beschossen. »Die Küstenwache besteht aus unterschiedlichen Warlords, die sich den Namen »Küstenwache« gegeben haben, um Geld von Europa zu kriegen«, sagt Nicole Hirt, Wissenschaftlerin am GIGA Institut für Afrika-Studien in Hamburg. »Sie sind selbst in Menschenschmuggel involviert, retten die Flüchtlinge also, damit sie verkauft werden.«
Niemand kontrolliert, was die »Küstenwache« macht
Ungeachtet all dieser Verbrechen wird die »libysche Küstenwache« weiterhin von der EU hofiert, ausgebildet und finanziell unterstützt. Die Ausbildung findet im Rahmen der EUNAVFOR MED Operation »Sophia« statt. In der ersten Hälfte 2018 wurde die Operation von der Bundesregierung mit insgesamt etwa 53 Millionen Euro unterstützt. Zum Mandat gehört neben der Ausbildung der »libyschen Küstenwache« auch ihre Überwachung. Der Kontrollmechanismus könne allerdings seit Mai 2018 aufgrund von »Sicherheits- und administrativen Gründen« nicht ausgeführt werden, so ein »Sophia«-Kommandant im Dezember 2018.
Arbeitsteiliger Völkerrechtsbruch
Die italienische Europaparlamentarierin Barbara Spinelli stellte im Januar 2019 zur Militärmission »Sophia« fest, sie sei ein Instrument der Zurückweisung geworden und diene der Legitimierung straffälliger Milizen. Zurückweisung heißt, Schutzsuchenden den Zugang zu einem fairen Asylverfahren zu verwehren und sie stattdessen in einen Staat zurückzubringen, in dem ihnen unmenschliche Behandlung und Folter droht. Das Folterverbot ist in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Das »Non-Refoulement«-Gebot verbietet die Zurückweisung ebensolche Umstände. Völkerrechtswidrige Zurückweisungen – sogenannte »Push-Backs« – wurden im Februar 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.
Die EU weiß, was in Libyen los ist – und macht weiter
Die EU versucht, die Verletzung des Refoulement-Verbots durch Delegieren an ihre libyschen Stellvertreter zu umgehen. Auch sogenannte »Pull-Backs« – das Abfangen und gewaltsame Zurückbringen von Flüchtlingsbooten nach Libyen durch die »libysche Küstenwache« – verletzen internationales Recht. Nach Libyen zurückgebrachte Bootsflüchtlinge sind systematisch schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Ein Großteil wird direkt inhaftiert und unter grausamsten und unwürdigsten Bedingungen in Lagern und Gefängnissen festgehalten. UN-Berichte dokumentieren Folter, Vergewaltigungen und außergerichtliche Hinrichtungen. (Zur aktuellen Studie des Women Refugee Centre über sexuelle Gewalt gegen männliche Geflüchtete in Libyen geht es hier.)
Salah Marghani, ehemaliger Justizminister in der libyschen Nachbürgerkriegsregierung stuft die Rückführungen von Flüchtlingen und Migrant*innen als völkerrechtswidrig ein. »Libyen ist kein sicherer Ort. Sie werden Opfer von Mord werden. Sie werden gefoltert werden. Das ist dokumentiert … Und Europa weiß es.«
Keiner geht ans Telefon in Tripolis
Doch Europa setzt weiter auf den Deal mit Libyen. Im Sommer 2018 gab Italien die Verantwortung für ein großes Seegebiet an Libyen ab. Die libysche Such- und Rettungszone erstreckt sich nunmehr auf 76 Seemeilen vor der libyschen Küste. Seitdem verweist die Leitstelle in Rom bei Seenotfällen an die »Seenotleitstelle« in Tripolis. Doch dort geht in der Regel niemand ans Telefon. Internationale Vorschriften besagen aber: Koordinierungsstellen müssen rund um die Uhr besetzt sein.
Der Bundesregierung seien »Berichte über Schwierigkeiten bei der elektronischen oder telefonischen Erreichbarkeit (…) der libyschen Küstenwache bekannt«, heißt es lapidar in einer Bundestagsdrucksache im Februar 2019. Die Leitstelle in Tripolis befinde sich »noch im Aufbau«.
Häfen dicht in Europa: Die »Ausschiffungskrise«
Auf Anweisung des rechtsradikalen Innenministers Matteo Salvini wurden Italiens Häfen im Sommer 2018 für Schutzsuchende geschlossen. Mehrmals mussten Schiffe wochenlang ausharren, bis ihnen erlaubt wurde, die Geretteten an Land zu bringen.
Noch während die italienischen Häfen für die »Diciotti« geschlossen waren, wurden Fälle dokumentiert, in denen kommerzielle Schiffe Menschen nicht aus Seenot retteten, weil sie ein ähnliches Szenario befürchteten.
Die Erlaubnis zur Ausschiffung machen Italien und Malta seitdem immer wieder von der Zusage anderer europäischer Staaten abhängig, die Schutzsuchenden aufzunehmen. Schnell wurde klar, dass sich Salvinis Politik gegen jede Form der Rettung von Flüchtlingen und Migrant*innen richtet. Am 14. August 2018 rettete ein Schiff der italienischen Küstenwache namens »Diciotti« 177 Menschen. Salvini untersagte die Anlandung und drohte, die Geretteten nach Libyen zurückzuschicken. Dieser angedrohte Völkerrechtsbruch ist nur ein Beispiel von vielen für die Rechtsstaatsfeindlichkeit des italienischen Innenministers.
Zehn Tage harrten die Menschen auf der »Diciotti« aus. Sie durften erst an Land, als ein Staatsanwalt Ermittlungen wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch gegen Salvini aufnahm. Der Vorfall schreckte ab: Noch während die italienischen Häfen für die »Diciotti« geschlossen waren, wurden Fälle dokumentiert, in denen kommerzielle Schiffe Menschen nicht aus Seenot retteten, weil sie ein ähnliches Szenario befürchteten.
Notfallplan für Bootsflüchtlinge
Der fortlaufende eklatante Völkerrechtsbruch im Mittelmeer muss sofort beendet und die blutige Arbeitsteilung mit den Kommandos der »libyschen Küstenwache« gestoppt werden. Die verbrecherische Blockade der zivilen Seenotrettung muss ein Ende haben. Die EU hat die Pflicht, einen robusten, flächendeckenden EU-Seenotrettungsdienst aufzubauen. Auswege aus dem humanitären Desaster im Mittelmeer bieten nur legale und sichere Fluchtwege nach Europa. Den Bootsflüchtlingen muss nach Anlandung in einem sicheren europäischen Hafen eine menschenwürdige Aufnahme und Zugang zu einem fairen Asylverfahren gewährt werden.
Aufnahme im Rahmen eines Relocation-Programms
Der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE) hat dazu einen praktikablen Vorschlag gemacht: Eine Koalition der aufnahmebereiten Staaten soll sich unter Koordinierung der EU-Kommission zusammenschließen und die Schutzsuchenden unter Anwendung der Humanitären Klausel der Dublin-Verordnung nach einem vorher festgelegten Proporz umverteilen (»Relocation«). Die Aufnahme würde so automatisch gewährleistet und lebensgefährdende ad-hoc-Aktionen zur Übernahme der Geflüchteten für jedes einzelne Schiff, das Menschen in Seenot gerettet hat, verhindert. Zahlreiche Städte, Regionen und Gemeinden in Deutschland und Europa haben bereits ihre Aufnahmebereitschaft signalisiert. Für sie muss die Möglichkeit geschaffen werden, Bootsflüchtlinge im Rahmen eines Relocation-Programms aufzunehmen.
(kk/dm)