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Sym­bol­bild. Foto: Fabi­an Melber

Im Janu­ar 2014 ster­ben elf Men­schen im Schlepp­tau der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che vor der Insel Farm­a­ko­ni­si. Die Über­le­ben­den kla­gen an, doch wenig pas­siert. Erst 2022 ver­ur­teilt der Men­schen­rechts­ge­richts­hof Grie­chen­land in allen zen­tra­len Punk­ten. Der Fall zeigt, wie PRO ASYL mit sei­nen Partner*innen jah­re­lang um Gerech­tig­keit kämpft.

In der stür­mi­schen Nacht des 20. Janu­ar 2014 trifft die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che in der öst­li­chen Ägä­is auf einen Kut­ter mit Flücht­lin­gen aus Syri­en und Afgha­ni­stan. Die Küs­ten­wa­che nimmt das Boot in Schlepp­tau und zieht es mit hoher Geschwin­dig­keit in Rich­tung Tür­kei. Der Anker­punkt am Bug des Boo­tes bricht her­aus. Ein Beam­ter der Küs­ten­wa­che klet­tert auf den Kut­ter und befes­tigt das Seil erneut. Bei die­sem zwei­ten Abschlepp­ver­such wird das Boot so stark beschä­digt, dass es sinkt. Drei Frau­en und acht Kin­der ster­ben, 16 Men­schen über­le­ben. Sie wer­den an grie­chi­sche Soldat*innen auf der Insel Farm­a­ko­ni­si über­ge­ben, die sie dazu nöti­gen, sich in Eises­käl­te vor vie­len Men­schen nackt auszuziehen.

Die grie­chi­sche Jus­tiz geht in der Fol­ge nicht gegen die Küs­ten­wa­che vor, son­dern ver­ur­teilt einen der Über­le­ben­den als angeb­lich schul­di­gen Kapi­tän des Flücht­lings­boots. Im Janu­ar 2015 rei­chen die Über­le­ben­den des Unglücks mit­hil­fe von PRO ASYL Kla­ge beim Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) ein, der Grie­chen­land im Juli 2022 ver­ur­teilt.

PRO ASYL war zum Zeit­punkt des tra­gi­schen Vor­falls bereits seit sie­ben Jah­ren in Grie­chen­land aktiv. Karl Kopp, Lei­ter der Euro­pa-Abtei­lung von PRO ASYL, erin­nert sich: »Wir hat­ten erst weni­ge Wochen zuvor in Brüs­sel den Bericht »Pushed back« über sys­te­ma­ti­sche völ­ker­rechts­wid­ri­ge Zurück­wei­sun­gen in der Ägä­is und an der grie­chisch- tür­ki­schen Land­gren­ze vorgelegt.

»…dann kam der Moment, der unse­re Berich­te auf dra­ma­ti­sche Wei­se bestätigte«

Karl Kopp, PRO ASYL

Wir haben dar­in beschrie­ben, wie mas­kier­te Ein­hei­ten der Küs­ten­wa­che Boots­flücht­lin­ge auf­grei­fen, miss­han­deln, gar fol­tern, und sie auf lebens­ge­fähr­li­che Art und Wei­se zurück­schaf­fen. Wir hat­ten damals schon den Ein­druck, dass hier etwas völ­lig außer Kon­trol­le gerät.« Und dann kam der Moment, der all das auf dra­ma­ti­sche Wei­se bestätigte.

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Die Nacht von Farmakonisi

Es gab auch vor­her zahl­rei­che Todes­fäl­le in der Ägä­is, mit und ohne Push­backs. Aber die­ses Mal han­del­te es sich um ein Boot, das unmit­tel­bar vor dem Unter­gang unstrit­tig unter der Kon­trol­le der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che war. Karl Kopp ord­net ein: »Vie­le der Opfer im Mit­tel­meer wer­den ein­fach weg­ge­schwemmt, ohne Gesicht, ohne jeman­den, der ihnen eine Stim­me leiht. Das war bei Farm­a­ko­ni­si anders. Hier gab es Über­le­ben­de, die erzäh­len, was pas­siert ist. Betrof­fe­ne, die ankla­gen, für sich und für ihre ertrun­ke­nen Frau­en und Kinder.«

Unmit­tel­bar nach­dem die Über­le­ben­den des fata­len Ein­sat­zes am 23. Janu­ar in Pirä­us anka­men, wur­den sie vom UNHCR und einer Rei­he grie­chi­scher Orga­ni­sa­tio­nen unter­stützt. Am 25. Janu­ar ver­an­stal­te­ten die Über­le­ben­den mit Hil­fe des Ver­eins The Greek Forum of Refu­gees eine Pres­se­kon­fe­renz, auf der sie unmiss­ver­ständ­lich deut­lich mach­ten: Das war kei­ne miss­lun­ge­ne Ret­tungs­ak­ti­on. Das war ein ver­such­ter Push­back, bei dem unse­re Liebs­ten umge­kom­men sind.

»Aus den Berich­ten ergab sich für uns der Auf­trag, alles zu tun, um den Vor­fall auf­zu­klä­ren und den Men­schen zu ihrem Recht zu ver­hel­fen«, erläu­tert Karl Kopp rück­bli­ckend die Moti­va­ti­on von PRO ASYL. Die Rechts­an­wäl­tin Mari­an­na Tze­fera­kou, eine lang­jäh­ri­ge Koope­ra­ti­ons­part­ne­rin von PRO ASYL, über­nahm gemein­sam mit Maria Papa­mi­na (Grie­chi­scher Flücht­lings­rat) und ande­ren Anwält*innen das Man­dat für die Überlebenden.

»Bit­te unter­stüt­zen Sie uns. Las­sen Sie nichts unver­sucht, um den Tod unse­rer Liebs­ten vor Gericht zu bringen.«

Appell der Über­le­ben­den der Fami­li­en Ahma­di, Azi­zi und Safi nach­dem die grie­chi­schen Behör­den den Fall im Juli 2014 zu den Akten gelegt hatten

Zunächst galt es, zu errei­chen, dass alle Ertrun­ke­nen gebor­gen wer­den. Es war den Hin­ter­blie­be­nen ein gro­ßes Anlie­gen, ihre Ange­hö­ri­gen wür­dig bestat­tet zu kön­nen. Die Leich­na­me einer Frau und ihres Soh­nes wur­den am nächs­ten Tag an der tür­ki­schen Küs­te gefun­den, kur­ze Zeit spä­ter auch der Kör­per eines Babys am Strand von Samos/Griechenland. Die wei­te­ren acht Toten befan­den sich ein­ge­keilt im Schiffs­rumpf auf dem Mee­res­grund. Die Über­le­ben­den und die, unter ande­rem auch in Deutsch­land leben­den, Ange­hö­ri­gen for­der­ten die Ber­gung des gesun­ke­nen Boo­tes und ihrer Toten. Erst Wochen spä­ter – nach mas­si­vem öffent­li­chen Druck auf die grie­chi­sche Regie­rung – wur­den die acht Lei­chen im Schiff geborgen.

PRO ASYL über­nahm einen gewich­ti­gen Kos­ten­an­teil rund um die Auf­klä­rung des Farm­a­ko­ni­si-Falls, stell­te z.B. den Über­le­ben­den über Mona­te hin­weg Dol­met­schen­de ihres Ver­trau­ens zur Sei­te, leis­te­te unmit­tel­ba­re huma­ni­tä­re Hil­fe und finan­zier­te Gut­ach­ten zu dem Schiffs­un­glück. Mit anwalt­li­cher Hil­fe sowie den Gut­ach­ten unter­stütz­te PRO ASYL die juris­ti­sche Auf­ar­bei­tung der Katastrophe.

Wenn Opfer zu Tätern gemacht werden

Das in der Fol­ge ein­ge­lei­te­te Straf­ver­fah­ren der grie­chi­schen Behör­den wies erheb­li­che Män­gel auf. Es exis­tier­ten kei­ner­lei tech­ni­sche Auf­zeich­nun­gen und Doku­men­ta­tio­nen von dem töd­li­chen Ein­satz, es gab staat­li­cher­seits Dol­met­scher­pro­ble­me, die zu Falsch­do­ku­men­ta­tio­nen führ­ten. Der zustän­di­ge Staats­an­walt stell­te das Ver­fah­ren bereits im Juni 2014 mit der lapi­da­ren Begrün­dung ein, dass Push­backs als Pra­xis nicht exis­tie­ren wür­den. Es sei daher »unnö­tig und über­flüs­sig«, die Behaup­tun­gen der Über­le­ben­den zu berück­sich­ti­gen, da ihre Ver­si­on der Ereig­nis­se auf die­ser Annah­me beru­hen würde

Der grie­chi­sche Staat ver­wei­ger­te also nicht nur die rechts­staat­li­che Auf­ar­bei­tung die­ser töd­lich ver­lau­fen­den Ope­ra­ti­on, son­dern mach­te Opfer zu ver­meint­li­chen Tätern: Unmit­tel­bar nach Anlan­dung der Über­le­ben­den wur­de ein damals 21-jäh­ri­ger syri­scher Flücht­ling fest­ge­nom­men, der sech­zehn­te Über­le­ben­de. Er sol­le das Boot gelenkt und für den Tod der Men­schen ver­ant­wort­lich sein. Er selbst beteu­er­te sei­ne Unschuld und auch die ande­ren Über­le­ben­den ver­si­cher­ten: Er ist ein Flücht­ling wie wir, es gab über­haupt kei­nen Schlep­per an Bord. Trotz­dem wur­de er als angeb­li­cher Kapi­tän des Boo­tes für den Tod der elf Men­schen zu einer Haft­stra­fe von über 120 Jah­ren sowie zu einer Geld­stra­fe von 570.050 Euro ver­ur­teilt. Oben­drauf kam eine Haft­stra­fe von 25 Jah­ren für den angeb­li­chen ille­ga­len Transport.

Gewalt an der grie­chi­schen Gren­ze. Jetzt in unse­ren Pod­cast reinhören!

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Last Exit: Straßburg 

Der Skan­dal hät­te an die­ser Stel­le enden kön­nen – ohne Kon­se­quen­zen, ohne Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen an die Über­le­ben­den und ohne Ver­ur­tei­lung der Ver­ant­wort­li­chen. Aber die Über­le­ben­den lie­ßen nicht locker und leg­ten ein Jahr nach dem Vor­fall, im Janu­ar 2015, Beschwer­de beim Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te ein. Unter­stützt wur­den sie dabei vom einem Anwält*innenteam.

Der EGMR urteil­te mehr als sie­ben Jah­re spä­ter im Juli 2022 ein­stim­mig: Das Recht auf Leben wur­de ver­letzt. Grie­chen­land ist ver­ant­wort­lich für den elf­fa­chen Tod. Die Über­le­ben­den wur­den unmensch­lich und ernied­ri­gend behandelt.

Der EGMR urteil­te mehr als sie­ben Jah­re spä­ter im Juli 2022 ein­stim­mig: Das Recht auf Leben wur­de ver­letzt. Grie­chen­land ist ver­ant­wort­lich für den elf­fa­chen Tod. Die Über­le­ben­den wur­den unmensch­lich und ernied­ri­gend behan­delt. Es fand kei­ne rechts­staat­li­che Unter­su­chung des töd­li­chen Vor­gangs auf See in Grie­chen­land statt, viel­mehr wur­de ver­tuscht. Zudem ver­ur­teil­te der Gerichts­hof Grie­chen­land zu einer Ent­schä­di­gungs­zah­lung an die Über­le­ben­den von ins­ge­samt 330.000 Euro.

Auch den als angeb­li­chen Schlep­per ver­ur­teil­ten 16. Über­le­ben­den unter­stütz­te PRO ASYL dabei, gegen das dra­ko­ni­sche Urteil in Beru­fung zu gehen. Im Juni 2017 wur­de er vom Gericht in Rho­dos von der Ver­ant­wor­tung für den Tod der elf Men­schen frei­ge­spro­chen, denn – so das Gericht – nie­mand an Bord des Boo­tes hät­te den töd­li­chen Aus­gang ver­hin­dern kön­nen. Zudem wur­de sei­ne Stra­fe wegen des angeb­lich »ille­ga­len Trans­ports« redu­ziert. Kur­ze Zeit spä­ter kam er nach über drei Jah­ren in Haft frei.

Neben der recht­li­chen Auf­ar­bei­tung des Vor­falls setz­te sich PRO ASYL schließ­lich auch für lega­le Wege der Über­le­ben­den zu ihren Ver­wand­ten in ande­re euro­päi­sche Län­der ein. In Bezug auf die Über­le­ben­den mit Ver­bin­dun­gen nach Deutsch­land ist das nach mona­te­lan­gen Ver­hand­lun­gen gelun­gen, sodass sie im Novem­ber 2014 mit huma­ni­tä­ren Visa ein­rei­sen konn­ten. Für das in Deutsch­land ein­ge­lei­te­te Asyl­ver­fah­ren finan­zier­te PRO ASYL einen Asyl­an­walt, der sie erfolg­reich dabei unter­stütz­te, einen Schutz­sta­tus zu erhalten.

PRO ASYL: Der Einzelfall zählt! Und was daraus folgt!

Karl Kopp gene­rell zum Ein­satz PRO ASYL – auch im Fall Farm­a­ko­ni­si: »Wir blei­ben an der Sei­te der Betrof­fe­nen bis zum Schluss. Der Ein­zel­fall zählt – das ist unse­re DNA. Es bedeu­tet, dass wir in dem Moment, in dem wir ein­stei­gen, den Betrof­fe­nen von A bis Z beistehen.«

Gemein­sam mit den Über­le­ben­den will PRO ASYL dafür sor­gen, dass das Urteil nun auch ordent­lich umge­setzt wird. PRO ASYL wird gemein­sam mit den grie­chi­schen Kolleg*innen die Ent­wick­lung für den Euro­pa­rat doku­men­tie­ren und plant zudem mit den Über­le­ben­den Zivil­kla­gen einzureichen.

Gemein­sam mit den Über­le­ben­den will PRO ASYL dafür sor­gen, dass das Urteil nun auch ordent­lich umge­setzt wird.

Karl Kopp: »Wir gehen den Weg wei­ter. Die recht­li­che Aus­ein­an­der­set­zung ist noch nicht zu Ende, und die poli­ti­sche fängt jetzt erst rich­tig an. Die Straf­frei­heit an den euro­päi­schen Außen­gren­zen, die Gewalt, die Nor­ma­li­tät von Völ­ker­rechts­brü­chen, all das wol­len wir angrei­fen. Es darf nicht sein, dass Men­schen schwers­te Straf­ta­ten bege­hen und trotz­dem wei­ter ihren Job machen. Nur wenn Euro­pa das been­det, haben wir über­haupt die Chan­ce, Poli­tik im Ein­klang mit dem Völ­ker­recht, der Men­schen­wür­de, den Men­schen­rech­te und den euro­päi­schen Wer­ten zu betreiben.«

PRO ASYL for­dert schon lan­ge, dass der töd­li­chen Grenz­po­li­tik Grie­chen­lands und ande­rer Län­der an der EU-Außen­gren­ze Ein­halt gebo­ten wird. Ein ver­läss­li­cher Über­wa­chungs­me­cha­nis­mus an den EU-Außen­gren­zen muss instal­liert wer­den, durch den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen sofort erkannt, zeit­nah auf­ge­ar­bei­tet und straf­recht­lich ver­folgt wer­den. Solan­ge schwe­re Straf­ta­ten unge­sühnt blei­ben oder Urtei­le wie im Farm­a­ko­ni­si-Fall erst jah­re­lang gegen gro­ße Wider­stän­de erkämpft wer­den müs­sen, ent­steht kei­ne Abschre­ckungs­wir­kung für sol­che gewalt­vol­len Prak­ti­ken. In einer von der Stif­tung PRO ASYL mit­fi­nan­zier­ten Stu­die wur­den der EU- Kom­mis­si­on und dem EU-Par­la­ment im Mai 2022 bereits Vor­schlä­ge zur Ein­rich­tung eines sol­chen unab­hän­gi­gen Men­schen­rechts­me­cha­nis­mus‘ an den EU-Außen­gren­zen unterbreitet.

(fw / kk)

PRO ASYL und seine griechischen Partner*innen

PRO ASYL ist seit 2007 in Grie­chen­land prä­sent und arbei­tet mit Initia­ti­ven in Athen, Chi­os, Samos und Les­bos zusam­men. Wäh­rend der gemein­sa­men Ein­sät­ze ent­stand die Idee einer neu­en und zusam­men­füh­ren­den Orga­ni­sa­ti­on: Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA). Karl Kopp erläu­tert: »Wir woll­ten sta­bi­le Struk­tu­ren mit unse­ren lang­jäh­ri­gen Part­ner *innen – Jurist*innen, Sozialarbeiter*innen und Dolmetscher*innen – auf­bau­en. Ziel war es, dass unse­re Kolleg*innen, die unter äußerst schwie­ri­gen Ver­hält­nis­sen agie­ren, fai­re Arbeits­be­din­gun­gen haben.« So kam es schließ­lich im Jahr 2017 zur Grün­dung von RSA, heu­te besteht die Orga­ni­sa­ti­on aus einem enga­gier­ten Team mit 16 Personen.