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Zwei Jahre nach der Katastrophe von Pylos: Kampf um Gerechtigkeit und Aufklärung geht weiter

Vor zwei Jahren ertranken rund 650 Geflüchtete vor der griechischen Stadt Pylos, nachdem die Küstenwache über Stunden Hilfe verweigert hatte. Im Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit erzielten Überlebende nun einen wichtigen Teilerfolg: Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen 17 Bedienstete der Küstenwache erhoben
Dass die griechische Küstenwache dem Leben von schutzsuchenden Menschen nicht viel Wert beimisst, ist leider nichts Neues. Seit Jahren gibt es unzählige Berichte über systematische und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, bei denen die Küstenwache den Tod von Geflüchteten mindestens billigend in Kauf nimmt: Rettungsschiffe rücken erst aus, wenn es schon zu spät ist. Beamt*innen der Küstenwache eröffnen das Feuer auf voll besetzte Flüchtlingsboote und treffen Insassen tödlich. Menschen werden auf dem offenen Meer ausgesetzt oder gar ins Wasser geworfen. Maskierte Männer versuchen mit Schnellbooten, Flüchtlingsboote abzudrängen, abzuschleppen oder zum Kentern zu bringen. Schon 2007 hat PRO ASYL gemeinsam mit griechischen Kolleg*innen sogar einen Fall dokumentiert, in dem ein Geflüchteter von Beamt*innen der Küstenwache gefoltert wurde.
Was sich vor zwei Jahren vor der Küste der Hafenstadt Pylos im Südwesten von Griechenland abspielte, stellt jedoch eine ganz neue Dimension dar. Ein mit rund 750 Menschen völlig überladener Fischkutter namens Adriana sinkt in den frühen Morgenstunden des 14. Juni 2023. Die Menschen unter Deck haben keine Chance, sie werden mit in die Tiefe gerissen. Nur 104 Männer werden lebend aus dem Wasser gezogen. Von den zahlreichen Frauen und Kindern, die sich an Bord befanden, überlebt niemand.
Als am 13. Juni 2023 die italienische Seenotrettungsleitstelle gegen 11 Uhr die griechische Küstenwache über die Adriana informiert, sind die Menschen an Bord bereits seit vier Tagen auf dem offenen Meer, auf dem Weg von der libyschen Küste Richtung Italien. Die Vorräte sind weitgehend aufgebraucht, das Schiff kann nicht mehr richtig navigiert werden. In der Meldung aus Italien an die griechische Küstenwache ist die Rede von zwei toten Kindern an Bord. Auch Frontex meldet sich kurz darauf bei der griechischen Küstenwache, übermittelt erste Luftaufnahmen der Adriana und bietet mehrfach Unterstützung an. Das zivilgesellschaftliche Projekt Watch the Med Alarm Phone, bei dem sich verzweifelte Menschen von der Adriana telefonisch melden und um Rettung bitten, leitet mehrere Hilferufe an Frontex und die Küstenwache weiter.
Die Reaktion der Küstenwache gleicht einer orchestrierten Sterbebegleitung: Statt sofort eine Seenotrettungsoperation mit allen verfügbaren Kräften einzuleiten, tut die Küstenwache zunächst nichts. Die Unterstützungsangebote von Frontex bleiben unbeantwortet, ein für die Rettung von so vielen Menschen geeignetes Schiff, das in der Nähe vor Anker liegt, bleibt im Hafen. Erst Stunden nach der ersten Meldung der italienischen Seenotrettungsleitstelle schickt die griechische Küstenwache ein vollkommen untaugliches Patrouillenboot von der weit entfernten Insel Kreta los. Zwischenzeitlich weist die Leitstelle der Küstenwache nur zwei Tanker an, die Menschen an Bord der Adriana mit Lebensmitteln und Wasser zu versorgen. Als das Patrouillenboot rund elf Stunden nach der ersten offiziellen Meldung aus Italien die Adriana erreicht, ist es bereits dunkel. Überlebende berichten übereinstimmend, dass die Besatzung des Patrouillenbootes sie aufgefordert habe, ihnen in Richtung der italienischen Such- und Rettungszone, also außerhalb der griechischen Zuständigkeit, zu folgen. Schließlich habe die Besatzung ein Tau an der Adriana befestigt und versucht, den Kutter abzuschleppen. Durch die ruckartigen Bewegungen des Taus sei das Schiff schließlich gekentert. Die Adriana sinkt am 14. Juni um 2 Uhr morgens innerhalb weniger Minuten.
Dass die Küstenwache über 15 Stunden hinweg keinerlei Maßnahmen zur Rettung der Menschen an Bord der Adriana eingeleitet hat, wurde schnell klar. Und es ist inzwischen durch mehrere unabhängige Untersuchungen – darunter durch den griechischen Ombudsmann und den Grundrechtsbeauftragten von Frontex – bestätigt. Doch damit nicht genug: Die Küstenwache hat offenbar von Anfang an versucht, ihre Verantwortung zu verschleiern und belastende Beweise zu vernichten. High-Tech Kameras und weitere Überwachungstechnik an Bord des Patrouillenschiffs waren ausgeschaltet. Die Kommunikation des Patrouillenschiffs mit der Einsatzzentrale wurde nicht aufgezeichnet. Handys von Überlebenden, die Fotos und Videos von der Situation kurz vor dem Untergang der Adriana enthalten, wurden von der Küstenwache konfisziert und waren wochenlang verschwunden. Auch die Behauptung der Küstenwache, die Menschen auf der Adriana hätten eine Rettung abgelehnt, weil sie nach Italien weiterfahren wollten, wurde inzwischen als Lüge entlarvt. Geleakte Audio-Mitschnitte aus der Rettungsleitstelle belegen, dass die Küstenwache diese Version der Geschichte selbst konstruiert hat. Während sie den Menschen auf der Adriana befahl, der Besatzung eines Tankers mitzuteilen, dass sie nicht nach Griechenland möchten, wies sie den Kapitän des Tankers kurz danach an, in seinem Logbuch festzuhalten, dass die Schutzsuchenden nach Italien weiterfahren wollten.
Küstenwache musste bisher nie Konsequenzen fürchten
Bisher musste die Küstenwache für ihre illegalen, gewalttätigen und viel zu oft tödlichen Aktionen keine strafrechtlichen Konsequenzen fürchten. Zu einer rechtskräftigen Verurteilung von Bediensteten der Küstenwache ist es noch nie gekommen. Entsprechende Ermittlungsverfahren hat die zuständige Staatsanwaltschaft am Marinegericht in Piräus in aller Regel eingestellt.
Betroffenen blieb in solchen Fällen nur die Möglichkeit, ein langwieriges und aufwändiges Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) zu führen. Dieser hat Griechenland inzwischen schon mehrfach wegen Einsätzen der Küstenwache verurteilt, bei denen Menschen zu Tode gekommen sind oder unmenschlich behandelt wurden. Auch die mangelhafte rechtsstaatliche Aufarbeitung von Vorwürfen gegen die Küstenwache durch die griechische Justiz hat der EGMR dabei stets gerügt. Mehrere dieser Entscheidungen haben Anwält*innen der griechischen Schwesterorganisation von PRO ASYL, Refugee Support Aegean (RSA), erstritten (Safi u.a. gegen Griechenland, 5418/15; Alkhatib u.a. gegen Griechenland, 3566/16; Almukhlas u.a. gegen Griechenland, 22776/18).
Umso bemerkenswerter ist, dass die zuständige Staatsanwältin am Marinegericht von Piräus im Fall des Schiffsunglücks vor Pylos kürzlich Anklage gegen insgesamt 17 Bedienstete der Küstenwache wegen schwerer Verbrechen erhoben hat – darunter auch gegen hochrangige Offiziere aus der Führungsebene der Küstenwache. Ins Rollen gekommen war das Ermittlungsverfahren durch eine Strafanzeige von 40 Überlebenden im September 2023, der sich inzwischen weitere Überlebende angeschlossen haben. Etwa die Hälfte der an dem Verfahren beteiligten Überlebenden wird von Anwält*innen von RSA vertreten.
»Gerechtigkeit bedeutet, dass die griechische Regierung für die Toten zur Rechenschaft gezogen wird, dass diejenigen, die uns zum Ertrinken gebracht haben, zur Rechenschaft gezogen werden.«
Anklage auch gegen Führungsriege
Die Anklage der Staatsanwältin richtet sich gegen den Kapitän eines Patrouillenboots der Küstenwache, das in den letzten Stunden vor dem Untergang der Adriana in der Nähe war. Ihm wirft die Staatsanwaltschaft die »Verursachung eines Schiffsunglücks mit Todesfolge«, »gefährliche Beeinträchtigung des Seeverkehrs mit Todesfolge«, sowie unterlassene Hilfeleistung vor. Der restlichen Crew des Patrouillenboots wird Mittäterschaft bei diesen Taten vorgeworfen.
Die gesamte Crew sowie der damalige Chef der Küstenwache, der Leiter der nationalen Seenotrettungsleitstelle und zwei am Tag des Schiffsunglücks diensthabende Offiziere werden außerdem wegen »Aussetzung in hilfloser Lage mit Todesfolge« (griechisch: έκθεση) angeklagt. Dabei handelt es sich um einen Straftatbestand im griechischen Recht, bei dem jemand eine Person in eine lebensbedrohliche Lage bringt, obwohl man rechtlich für den Schutz dieser Person verantwortlich ist. Nach der Anklageerhebung durch die zuständige Staatsanwältin wird im nächsten Schritt ein Untersuchungsrichter im Rahmen einer Hauptuntersuchung über die Zulässigkeit der Anklage entscheiden.
Die Ermittlungsverfahren gegen vier weitere hochrangige Offiziere der Küstenwache, darunter auch den aktuellen Chef der Küstenwache, hat die Staatsanwaltschaft hingegen eingestellt. Aus ihrer Sicht waren sie zum Zeitpunkt der Katastrophe rechtlich nicht verantwortlich für den Einsatz der Küstenwache. Die Anwält*innen der Überlebenden haben bereits angekündigt, gegen die Einstellung dieser Verfahren Beschwerde einzulegen. Alle vier Offiziere waren in den Stunden vor dem Schiffsunglück nachweislich in der Leitstelle der Küstenwache anwesend und in die strategische Planung des Einsatzes involviert.
»Gerechtigkeit bedeutet ein Leben in Würde«
Dass die Staatsanwältin gegen 17 Bedienstete der Küstenwache Anklage erhoben hat, bedeutet noch lange nicht, dass die Verantwortlichen für die Katastrophe von Pylos zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist aber ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Gerechtigkeit für all jene Menschen, die an diesem Tag ihr Leben verloren haben, sowie für ihre Angehörigen und die Überlebenden. Einer der Überlebenden, Naeef Alsaiasna, hat vor einem Jahr zu Protokoll gegeben, was Gerechtigkeit für ihn bedeutet. Naeef beteiligt sich an der Strafanzeige gegen die griechische Küstenwache und gehört zu den Überlebenden, die wir von PRO ASYL auch in Deutschland unterstützen.
» Gerechtigkeit bedeutet ein Leben in Würde. Wenn es Gerechtigkeit gibt, lebt man ein würdevolles und glückliches Leben. Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, lebt man verzweifelt. Gerechtigkeit bedeutet, dass die griechische Regierung für die Toten zur Rechenschaft gezogen wird, dass diejenigen, die uns zum Ertrinken gebracht haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Wir sind nicht die Ersten. Vor uns gab es viele Menschen, die ertrunken sind, und viele Menschen, die in den Wäldern auf dem Weg nach Europa gestorben sind. Es wird auch nach uns Menschen geben, denen dasselbe passieren wird. «
(ame)