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»Der Tod hat uns gefunden, bevor wir das Leben fanden«
Naeef S. überlebte den Untergang des Flüchtlingsbootes Adriana vor der griechischen Stadt Pylos im Juni 2023, bei dem über 600 Menschen in den Tod gerissen wurden. Er sah Menschen sterben, während die griechische Küstenwache und Frontex stundenlang zusahen und nicht halfen. Heute setzt er sich dafür ein, dass die Verantwortlichen verurteilt werden.
Naeef, kannst du dich kurz vorstellen und uns erklären, warum du aus Syrien fliehen musstest?
Ich heiße Naeef und wurde 1996 in Daraa al-Balad geboren. Meine Heimatstadt gilt als die Wiege der syrischen Revolution, weil hier 2011 die Proteste gegen das Assad-Regime begannen. Jahrelang bombardierte die Armee meine Stadt, Tausende wurden getötet. Ich war von Beginn an regelmäßig bei den Demonstrationen dabei und wurde dreimal verletzt. 2018 übernahmen die Regierungstruppen die Kontrolle über Daraa und ich sollte zum Militärdienst eingezogen werden. Sie kesselten uns wochenlang ein und schnitten uns von der Außenwelt ab. Sie wollten, dass wir in die Armee eintreten, um unschuldige Menschen zu töten. Das konnte ich niemals tun, ich weigerte mich und wurde mit anderen Oppositionellen in den Norden Syriens abtransportiert.
Nach einigen Monaten floh ich in die Türkei und lebte in der Region Mersin. Dort konnte ich nicht sicher leben, es gab nur Rassismus, Diskriminierung und Beleidigungen. Ich musste die Türkei verlassen.
Wie bist du auf die Adriana gekommen? Gab es keine anderen Möglichkeiten für dich, nach Europa zu fliehen?
Einen legalen Weg nach Europa gab es für mich nicht, für den Weg über die Balkanroute fehlte mir das Geld. Also ging ich nach Libyen. Die Schlepper hielten uns dort in einem Stall fest. Dann ging es eines Nachts los. Wir fuhren zum Meer und die Schlepper zwangen uns mit Waffen, auf kleine Boote zu steigen, die uns zu einem größeren Schiff brachten. Meinen Rucksack mit Wasser, Essen und Hygieneartikeln nahmen sie mir ab.
»Für mich bedeutete die Flucht, dem Krieg zu entkommen, weg von Zerstörung, Tod und Bombenangriffen.«
Natürlich wusste ich, wie gefährlich die Überfahrt ist, aber ich hatte keine Wahl. Für mich bedeutete die Flucht, dem Krieg zu entkommen, weg von Zerstörung, Tod und Bombenangriffen. Ich wollte leben. Das war für mich wichtiger als die Risiken der Reise. Aber der Tod hat uns gefunden, bevor wir das Leben fanden.
Wie war die Situation auf dem Schiff?
Die Situation war katastrophal. Wir waren mehrere Tage unterwegs, hatten weder Essen noch Wasser. Mehrere Menschen um mich herum starben. Irgendwann sagte der Kapitän, dass wir uns auf See verirrt hätten. Dann begannen sie, Notsignale und Hilferufe zu senden.
Gab es irgendeine Reaktion auf die Notsignale? Wurde Hilfe geschickt?
Nach einigen Stunden sahen wir ein Flugzeug, nochmal einige Stunden später einen Hubschrauber. Als der Hubschrauber kam, hatten wir so große Hoffnungen und winkten, um auf unsere Situation aufmerksam zu machen. Erst später habe ich erfahren, dass der Hubschrauber nur Fotos von uns gemacht hat und dann wieder abgedreht ist.
Wir sahen auch viele Schiffe. Irgendwann näherte sich ein Tanker. Wir fingen an, mit unseren Kleidern zu winken. Sie warfen uns Wasser zu und fuhren weiter. Einige Zeit später näherte sich ein weiterer Tanker. Wir baten sie um Hilfe. Auch sie wollten uns mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgen. Wir versuchten ihnen zu erklären, dass wir an Bord geholt und gerettet werden wollen. Die Lage war kritisch, das Schiff schwankte nach rechts und links und stieß gegen das große Schiff und beschädigte es, wir mussten deshalb weiterfahren. Dann kam die griechische Küstenwache zu uns.
Wie war die Situation, als die griechische Küstenwache ankam?
Als die Küstenwache kam, dachte ich, dass sie uns endlich retten würden. Ich dachte, dass wir es geschafft haben und dass wir nun leben würden. Wir würden unser Leben fortsetzen und unsere Familien wiedersehen. Wir wussten nicht, dass uns der Tod bevorstand.
Zuerst forderten sie uns auf, ihrem Schiff hinterherzufahren. Irgendwann warfen sie ein Seil auf unser Schiff und banden es fest. Wir dachten, dass sie uns jetzt retten würden, aber letztlich hat ihr Manöver dazu geführt, dass das Schiff kenterte. Ich sprang ins Wasser, dabei traf noch etwas meinen Rücken.
Wie wurdest du gerettet?
Es hat sehr lange gedauert, bis die Küstenwache angefangen hat, Leute im Wasser zu retten. Sie waren weit entfernt von uns, wir mussten zu ihnen hinschwimmen. Erst als ein größeres Schiff dazu kam, ließen sie ein Rettungsboot ins Wasser und fuhren zu uns.
Als das größere Schiff näherkam, begannen sie, uns aus dem Wasser zu ziehen. Aber sie retteten nur die Leute, die auf ihrer Seite des Schiffes sichtbar waren und ließen die anderen, die sich hinter dem gesunkenen Schiff befanden, im Wasser zurück. Ich kannte etwa 35 Leute auf dem Schiff. Sie kamen alle aus meiner Gegend. Wir waren alle eine Gruppe. Nur vier von uns haben überlebt.
»Wir sollen vergessen, aber wir können nicht vergessen. Das ist unmöglich.«
Wo haben sie euch dann hingebracht?
Sie brachten uns in eine Lagerhalle, dort lagen Matratzen auf dem Boden. Polizei und Armee waren da und entkleideten uns. Noch bevor sie unseren Gesundheitszustand checkten, nahmen sie uns unsere Handys weg und legten sie in einen Sack. Wir haben sie bis heute nicht zurückbekommen. Nach einigen Tagen brachten sie uns in ein geschlossenes Lager in der Nähe von Athen.
Sie sagten uns, dass wir in Sicherheit seien, dass wir es nach Griechenland geschafft hätten und nun in einem sicheren Land seien. Wir sagten ihnen, dass wir uns nicht sicher fühlten, sondern dass wir jemandem, der so viele Menschen hat ertrinken lassen, nicht vertrauen konnten.
Ich hatte Angst, ich wusste nicht, was sie mit uns machen würden. Ich hatte Angst vor denen, die unser Leben gerettet hatten. In den Augen der Gesellschaft sind sie diejenigen, die uns gerettet haben. In Wirklichkeit sind sie diejenigen, die uns getötet haben. Sie haben das Verbrechen begangen. Wir hatten Frauen, Kinder und ältere Menschen bei uns. Viele Menschen starben und sie schien es nicht zu kümmern.
Wann bist du nach Deutschland gekommen und wie ist deine Situation jetzt?
Da ein Bruder von mir in Deutschland lebt, hat meine Anwältin in Griechenland dafür gesorgt, dass ich nach Deutschland kommen konnte. Im September landete ich mit dem Flugzeug in Frankfurt.
Die Situation in Deutschland war anders, als wir es gehört hatten. Wir dachten, dass man uns human behandelt, uns eine menschenwürdige Unterkunft gibt und uns hilft, dass unsere Familien zu uns kommen können.
Aber als wir ankamen, mussten wir in Lagern leben und durften unsere Familien nicht herholen. Niemand kümmerte sich um uns und unsere Bedürfnisse. Niemand zeigte Interesse für das, was uns widerfahren ist. Es war so, als ob man uns sagte: »Ihr seid jetzt in Deutschland, vergesst alles, was passiert ist, beginnt ein neues Leben, vergesst eure Freunde, vergesst eure Familien, vergesst all diejenigen, die ertrunken sind.« Wir sollen vergessen, aber wir können nicht vergessen. Das ist unmöglich.
Angesichts dessen, was mit euch passiert ist: Was bedeutet für dich Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit bedeutet ein Leben in Würde. Wenn es Gerechtigkeit gibt, lebt man ein würdevolles und glückliches Leben. Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, lebt man verzweifelt. Gerechtigkeit bedeutet, dass die griechische Regierung für die Toten zur Rechenschaft gezogen wird, dass diejenigen, die uns zum Ertrinken gebracht haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Wir sind nicht die Ersten. Vor uns gab es viele Menschen, die ertrunken sind, und viele Menschen, die in den Wäldern auf dem Weg nach Europa gestorben sind. Es wird auch nach uns Menschen geben, denen dasselbe passieren wird.
»Gerechtigkeit bedeutet, dass die griechische Regierung für die Toten zur Rechenschaft gezogen wird, dass diejenigen, die uns zum Ertrinken gebracht haben, zur Rechenschaft gezogen werden.«
Du beteiligst dich mit anderen Überlebenden an einer Klage gegen die griechische Küstenwache. Zum Jahrestag der Katastrophe am 14. Juni veranstaltet ihr mit PRO ASYL eine Gedenkveranstaltung in Berlin. Was ist eure Motivation?
Wir tun das in erster Linie für die Menschen nach uns und für die Verstorbenen. Die Verstorbenen haben Kinder und Familien. Die meisten, die fliehen, tun dies, um eine Zukunft für ihre Kinder zu sichern. Armut, Bombenangriffe, Hunger und Zerstörung – das soll nicht die Zukunft der Kinder sein. Wenn wir so etwas erleben und fliehen müssen, wie soll dann ein kleines Kind das alles ertragen? Wir haben unser Land verlassen, um zu leben. Doch uns begegnete nur der Tod.