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13 Schüsse auf ein Boot voller Schutzsuchender
Beamte der griechischen Küstenwache eröffnen im September 2014 das Feuer auf ein Flüchtlingsboot und treffen zwei Syrer – einen davon tödlich. Mit Unterstützung von PRO ASYL verklagen die Hinterbliebenen Griechenland vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Dieser gibt ihnen nun in allen Punkten Recht.
Pserimos, 22. September 2014. Zwölf Flüchtlinge befinden sich in einem Boot auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland. Morgens um 6:45 Uhr fährt das Boot in eine Bucht der Insel Pserimos ein und wird dabei von einem Schiff der griechischen Küstenwache entdeckt, das in der Gegend patrouilliert. Als das Boot zunächst nicht stoppt, eröffnen die Beamten der Küstenwache das Feuer. Sie verschießen ein ganzes Magazin, insgesamt 13 Schüsse feuern sie direkt auf das Boot ab. Die tragischen Folgen: Belal Tello, ein syrischer Familienvater, erleidet einen Kopfschuss. Nour Khaled*., ein weiterer Syrer, der mit seiner Frau und seiner Tochter auf dem Boot ist, wird von einer Kugel in der Schulter getroffen.
Tödliche Kopfverletzung: Kontakt »nur über die Augen«
Belal wird mit lebensgefährlichen Kopfverletzungen in ein Krankenhaus nach Rhodos gebracht. Er liegt im Koma, die Ärzt*innen kämpfen um sein Leben. Mindestens siebenmal wird er operiert, erst nach einem halben Jahr wird er von der Intensivstation auf die normale Station verlegt. Sein Gesundheitszustand ist weiterhin kritisch: Er atmet über einen Luftröhrenschnitt und wird mit einer Sonde ernährt. Er kann sich nicht bewegen, nicht sprechen und nur über Augenkontakt mit seiner Umgebung kommunizieren.
Marianna Tzeferakou und Natassa Strachini, die heute als Anwältinnen für unsere griechische Partnerorganisation Refugee Support Aegean (RSA) arbeiten, übernehmen zeitnah nach dem Vorfall das Mandat für Belal Tello und Nour Khaled*. Finanziert wird ihre Tätigkeit in dem Fall auch damals schon von PRO ASYL.
Die Ehefrau von Belal, Douaa Alkhatib, befindet sich mit den beiden gemeinsamen Kindern – damals zwei und drei Jahre alt – währenddessen noch in Syrien. Sie befürchtet, dass Belal sterben wird und möchte ihn mit den beiden Kindern zumindest nochmal besuchen. Doch die griechischen Behörden stellen sich quer. Nur Douaa erhält ein Visum und kann für wenige Tage zu ihrem Mann reisen. Ihre beiden Kinder muss sie alleine bei Verwandten in Syrien zurücklassen.
Rückblickend erzählt Douaa:
»Die Tatsache, dass ich keine Papiere für die Einreise meiner Kinder nach Griechenland bekommen konnte, hat mich und meine Kinder am meisten getroffen. Das hat sie traumatisiert – sie hatten ihren Vater verloren und danach verloren sie auch noch ihre Mutter – sie wussten nicht, wo ich war, sie glaubten, ich hätte sie verlassen. Mein Sohn, der noch sehr klein war, weigerte sich lange Zeit, mit mir zu sprechen. Er hatte gerade gesehen, wie sein Vater verreiste und dann nicht wiederkam, und dann sah er mich reisen und dachte, ich würde ihn auch verlassen.
Wenn die Behörden uns Dokumente gegeben hätten, wäre ich mit meinen Kindern gereist, wir wären zusammen gewesen. Das wäre emotional viel einfacher gewesen und die Kinder hätten sich sicher gefühlt, zumindest bei mir. Das erste Verbrechen der griechischen Regierung ist, dass sie meinen Mann erschossen haben, und ihr zweites, dass sie meinen Kindern die Papiere verweigerten, und ich allein gelassen wurde. Zehn Jahre nach dem Vorfall hat meine Tochter immer noch Angst, mich zu verlieren«.
»Das erste Verbrechen der griechischen Regierung ist, dass sie meinen Mann erschossen haben, und ihr zweites, dass sie meinen Kindern die Papiere verweigerten, und ich allein gelassen wurde.«
Belals Situation ist aussichtslos: Er muss rund um die Uhr überwacht und gepflegt werden, was das griechische Gesundheitssystem ohne Unterstützung durch Familienangehörige nicht leisten kann. Speziell auf seine Bedürfnisse angepasste Reha-Maßnahmen gibt es auf Rhodos nicht. Seine Ehefrau Douaa ist mit den beiden Kindern inzwischen vor dem Krieg in Syrien nach Schweden geflohen und hat dort Asyl beantragt.
In einem beispiellosen Verfahren sorgen unsere griechischen Anwältinnen dafür, dass er nach Schweden zu seiner Familie ausgeflogen wird. Die Kosten für den Krankentransport in Begleitung eines Arztes und einer Krankenschwester übernimmt PRO ASYL.
Am 20. August 2015 kommt Belal in Schweden an und wird sofort in die neurologische Reha-Abteilung des Karolinska Universitätsklinikums in Stockholm gebracht. Sein Zustand verschlechtert sich dennoch, er verliert das Bewusstsein. Am 17. Dezember 2015 stirbt er.
Das zweite Opfer: Dauerhafte Behinderung
Auch Nour Khaled* wird an jenem Tag vor Pserimos von den Schüssen der Küstenwache getroffen. So wie Belal flieht auch er vor dem syrischen Bürgerkrieg. Er erzählt:
»Ich habe eine solche Behandlung nicht erwartet, als ich vor dem Krieg in Syrien nach Europa geflohen bin, einem Ort, der für die Menschenrechte stehen soll. Ich war schockiert, als ich erkannte, dass mich in diesem Meer nur der Tod erwartete. Der Küstenwache war klar, dass sich in dem Boot nur unbewaffnete und hilflose Menschen befanden, die nur versuchten, vor dem Krieg zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Das war für sie ganz offensichtlich. Es war sehr grausam, wie sie Menschen behandeln«.
Die Kugel zertrümmert das Schultergelenk von Nour Khaled* und durchtrennt mehrere Muskeln. Bis heute kann er seinen linken Arm nicht richtig verwenden und ist im Alltag auf Unterstützung angewiesen. Unsere Anwältinnen haben Griechenland auf Schadensersatz für Nour Khaled* verklagt. Anfang des Jahres hat das zuständige Gericht die Klage abgewiesen, eine Entscheidung über die eingelegte Berufung steht.
In Griechenland wurde der Fall Pserimos nie vor Gericht verhandelt
Nach den Schüssen in der Bucht von Pserimos leitet die zuständige Staatsanwaltschaft ein vorläufiges Ermittlungsverfahren gegen die beiden Beamten der Küstenwache ein. Das Verfahren weist jedoch gravierende Mängel auf: Zeugenaussagen werden vorgefertigt abgefasst, Belal Tello und Nour Khaled* selbst nie befragt, gerichtsmedizinische und ballistische Gutachten nicht eingeholt. Im Juni 2015 stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren – leider wenig überraschend – ein. Die Begründung: Nicht die Beamten der Küstenwache seien verantwortlich, sondern die Fahrer des Flüchtlingsbootes.
Unsere Anwältinnen reichen daraufhin im Namen von Douaa Alkhatib und ihren beiden Kindern im Dezember 2015 Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ein. Sie rügen eine Verletzung von Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention – dem Recht auf Leben.
Am 16. Januar 2024, fast ein Jahrzehnt nach den tödlichen Schüssen, dann das Urteil, das vor wenigen Tagen rechtskräftig geworden ist (Alkhatib u.a. gegen Griechenland, 3566/16). Die Richter*innen des EGMR geben Douaa Alkhatib und ihren beiden Kindern auf ganzer Linie Recht.
Am 16. Januar 2024, fast ein Jahrzehnt nach den tödlichen Schüssen, geben die Richter*innen des EGMR, Douaa Alkhatib und ihren beiden Kindern auf ganzer Linie Recht.
Sie kommen zu dem Schluss, dass der Schusswaffeneinsatz nicht gerechtfertigt war und die Küstenwache eindeutig unverhältnismäßige Gewalt angewendet hat. Die griechische Regierung konnte in dem Verfahren nicht einmal klare rechtliche Regeln für den Schusswaffeneinsatz durch die Küstenwache vorlegen. Auch bezüglich der griechischen Staatsanwaltschaft fällt das Urteil vernichtend aus: Die von den nationalen Behörden durchgeführte Untersuchung weise »zahlreiche Mängel [auf], die unter anderem zum Verlust von Beweismitteln führten und die Untersuchung unzureichend machten«. Die Richter*innen sprechen Douaa Alkhatib und ihren Kindern eine Entschädigung in Höhe von 80.000€ zu.
Douaa hat uns gegenüber betont, wie wichtig die Entscheidung für sie und ihre Kinder ist:
»Es ist sehr wichtig für uns, dass wir gewonnen haben, denn erstens bringt dies Gerechtigkeit für mich und meine Kinder, aber auch für meinen Mann, der gestorben ist, Belal, der erschossen wurde. Zweitens ist dies ein Beweis dafür, dass es nicht nur gegen diese eine Person, sondern gegen viele Menschen Gewalt gegeben hat. Für Belal haben wir vor Gericht Recht bekommen, denn es wurde festgestellt, dass ein Verstoß vorlag. Viele Menschen bekommen keine Gerechtigkeit, und das ist ein Zeichen dafür, dass hier etwas falsch läuft.
»Es ist sehr wichtig für uns, dass wir gewonnen haben, denn erstens bringt dies Gerechtigkeit für mich und meine Kinder, aber auch für meinen Mann, der gestorben ist, Belal, der erschossen wurde.«
Für unsere Kinder ist es wirklich wichtig zu wissen, was mit ihrem Vater passiert ist und was das Problem war, wer die Schuldigen waren. Das ist eine gewisse Entschädigung für das, was sie verloren haben. Natürlich entschädigt uns das nicht vollständig. Diese Entscheidung bringt ihren Vater nicht zurück, aber zumindest wissen sie jetzt, was passiert ist. Wir haben bewiesen, dass die Ermittlungen der Behörden unzureichend waren und dass sie sich die Geschichten über Belal nur ausgedacht haben«.
Kein Einzelfall, sondern ein systemisches Problem
Die tragische Geschichte von Belal Tello und seiner Familie reiht sich ein in eine ganze Kette an Fällen, in denen die griechische Küstenwache schutzsuchende Menschen misshandelt oder ihren Tod billigend in Kauf nimmt. Er steht exemplarisch für die Willkür, mit der griechische Behörden gegen Schutzsuchende vorgehen. Und er illustriert erneut den Unwillen der griechischen Justiz, Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten in einem rechtsstaatlichen Verfahren aufzuarbeiten und die Verantwortlichen im Staatsdienst zur Rechenschaft zu ziehen.
Unsere griechischen Kolleg*innen von RSA haben in den letzten Jahren gemeinsam mit PRO ASYL zahlreiche Schutzsuchende vertreten, die über ähnlich schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Operationen der Küstenwache berichten. In drei dieser Fälle sind aktuell Beschwerden vor dem EGMR anhängig (Almukhlas und Al-Malik gegen Griechenland, 22776/18; Alnassar gegen Griechenland, 43746/20; F.M. und Andere gegen Griechenland, 17622/21).
Erst im Juli 2022 hat der Menschenrechtsgerichtshof Griechenland in einem wegweisenden Urteil wegen des Todes von elf Schutzsuchenden vor der Insel Farmakonisi im Rahmen einer Pushback-Operation der griechischen Küstenwache im Januar 2014 in allen zentralen Punkten verurteilt (Safi und Andere gegen Griechenland, 5418/15). Auch in diesem Fall hat der Gerichtshof die mangelhafte Aufarbeitung des Vorfalls durch die griechische Justiz gerügt – die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen gegen die Beamten der Küstenwache ähnlich wie im Fall von Pserimos sehr schnell eingestellt. PRO ASYL hat auch dieses Verfahren maßgeblich unterstützt.
Es ist ein großer Erfolg und das Ergebnis eines aufwendigen und jahrelangen Verfahrens, dass der Europäische Menschenrechtsgerichtshof Griechenland nun erneut verurteilt hat. Doch das systemische Problem bleibt: Viele Opfer der griechischen Behörden erhalten nie Gerechtigkeit. Und auch die einschlägigen Urteile des EGMRs halten griechische Behörden nicht davon ab, weitere Katastrophen mit weiteren Toten zu verursachen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen deshalb endlich sämtliche Mittel ausschöpfen, um Griechenland zu sanktionieren und weitere Tote zu verhindern!
(rsa / ame, mk, jo)
*Name zum Schutz geändert