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Frontex-Bericht bestätigt: Griechenland hat mehr als 600 Menschen sterben lassen
Ein Bericht des Grundrechtsbeauftragten von Frontex stellt griechischen Behörden ein vernichtendes Zeugnis aus und bestätigt, dass sie beim Schiffsunglück von Pylos im Juni 2023 keine Maßnahmen ergriffen haben, um die mehr als 750 Schutzsuchenden zu retten. PRO ASYL fordert, dass endlich massive Sanktionen gegen Griechenland eingeleitet werden.
Es ist ein Paukenschlag: Jonas Grimheden, der Grundrechtsbeauftrage der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex, kommt in einem vertraulichen Bericht zu dem Schluss, dass griechische Behörden über 15 Stunden lang keinerlei Rettungsmaßnahmen ergriffen haben, als das Flüchtlingsboot »Adriana« am 14. Juni 2023 vor der griechischen Stadt Pylos sank und mehr als 600 Menschen mit in den Tod riss – obwohl sie nach internationalem und europäischem Recht dazu verpflichtet gewesen wären.
Damit bestätigt erstmals eine europäische Behörde die Vorwürfe, die Überlebende sowie sie unterstützende Organisationen wie Refugee Support Aegean (RSA) und PRO ASYL bereits direkt nach der Katastrophe erhoben haben: Die griechische Küstenwache hat die Menschen an Bord des Schiffes durch Nichtstun sterben lassen.
Mögliche Folgen für Griechenland
Der Bericht könnte für Griechenland drastische Folgen haben: Im Juli 2023 war bekannt geworden, dass die Agentur Frontex ihre Entscheidung zu einem möglichen Rückzug aus Griechenland wegen massiver Menschenrechtsverletzungen der dortigen Behörden im Umgang mit Schutzsuchenden von den Ergebnissen des Berichts abhängig machen möchte. Auch der Stopp von Zahlungen an Griechenland steht im Raum.
Aus Sicht von PRO ASYL sind massive Sanktionen gegen Griechenland längst überfällig!
Aus Sicht von PRO ASYL sind massive Sanktionen gegen Griechenland längst überfällig, der Bericht des Grundrechtsbeauftragten Grimheden verdeutlicht erneut die Dringlichkeit: Frontex muss sich umgehend aus Griechenland zurückziehen, die Bundesregierung muss das deutsche Kontingent mitsamt technischer Ausrüstung aus dem Einsatz abziehen. Die Europäische Kommission muss endlich Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland einleiten, EU-Gelder an Griechenland müssen eingefroren werden.
Grimheden hatte mit seinem Team anlässlich einer internen Meldung direkt nach dem Untergang der Adriana Ermittlungen aufgenommen, um die Rolle von Frontex und den griechischen Behörden zu untersuchen. Sein als vertraulich eingestufter Abschlussbericht ist datiert auf den 1. Dezember 2023, wurde jedoch erst kürzlich durch eine Journalistin veröffentlicht.
Vernichtendes Zeugnis für griechische Behörden
Den griechischen Behörden stellt der Grundrechtsbeauftragte ein vernichtendes Zeugnis aus: »Die griechischen Behörden scheinen die Ausrufung einer Such- und Rettungsoperation bis zum Zeitpunkt des Schiffbruchs hinausgezögert zu haben, als es nicht mehr möglich war, alle Menschen an Bord zu retten, setzten unzureichende und angesichts der Anzahl der Personen an Bord der Adriana ungeeignete Mittel ein und versäumten es, die von Frontex angebotene Unterstützung in Anspruch zu nehmen.« Und weiter: »Nach den tatsächlich eingesetzten Mitteln zu urteilen […] lässt sich schließen, dass der unmittelbare Fokus der Behörden vor der Havarie nicht auf der Rettung lag«.
So habe etwa die griechische Rettungsleitstelle die Besatzung von zwei Tankern angewiesen, die Schutzsuchenden mit Lebensmitteln und Wasser zu versorgen, was aus Sicht von Grimheden nicht hilfreich war. Im Gegenteil: Die Gefahr, dass ein völlig überladener Fischkutter wie die Adriana bei einem solchen Manöver kentert, ist sehr groß. Die Schutzsuchenden wurden dadurch also noch zusätzlich in Gefahr gebracht.
Darüber hinaus setzt er sich auch mit Behauptungen der griechischen Küstenwache auseinander, denen zufolge die Schutzsuchenden an Bord der Adriana, mit denen die Küstenwache Kontakt hatte, Hilfe abgelehnt hätten. Rechtswissenschaftler*innen hatten frühzeitig darauf hingewiesen, dass staatliche Behörden nach internationalem und europäischem Recht in einem solchen Fall dennoch zur Rettung verpflichtet sind. Dieser Auffassung schließt sich auch der Grundrechtsbeauftragte von Frontex an.
Ob die Küstenwache den Untergang der Adriana durch einen Abschleppversuch selbst verursacht hat, lässt sich aus Sicht des Grundrechtsbeauftragten mangels ausreichender Informationen nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Angesichts von übereinstimmenden Berichten von Überlebenden äußert er jedoch massive Zweifel an der Version der Küstenwache und kritisiert, dass die meisten Fragen, die er im Rahmen seiner internen Ermittlungen an die griechischen Behörden gestellt hat, von diesen nicht beantwortet wurden.
Chronik einer vermeidbaren Katastrophe
Der Fischkutter Adriana war mit rund 750 Schutzsuchenden aus Syrien, Pakistan, Ägypten und den palästinensischen Autonomiegebieten in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 2023 gegen 2 Uhr im ionischen Meer südwestlich der griechischen Halbinsel Peloponnes gesunken – im Zuständigkeitsbereich der griechischen Küstenwache. Nur 104 Menschen überlebten, 84 Leichen wurden geborgen, alle anderen wurden mit in die Tiefe gerissen und gelten bis heute offiziell als vermisst.
Dabei wussten die griechischen Behörden mindestens rund 15 Stunden vor dem Untergang von dem Schiff. Denn am 13. Juni um 11 Uhr vormittags ging eine offizielle Meldung der italienischen Seenotrettungsleitstelle samt exakter Koordinaten der Adriana bei der zuständigen griechischen Rettungsleitstelle in Piräus ein. Die Meldung, die in Kopie auch an Frontex ging, hätte bei den griechischen Behörden sämtliche Alarmglocken klingeln lassen müssen: Ein mit etwa 750 Menschen überladener Fischkutter, der seit mehreren Tagen auf dem Meer unterwegs ist, befindet sich in der griechischen Rettungszone, zwei Kinder an Bord seien bereits gestorben.
Etwa zwei Stunden nach dieser Meldung sichtete ein Aufklärungsflugzeug von Frontex das Schiff und übermittelte erste Aufnahmen und weitere Informationen an die griechische Rettungsleitstelle. Statt sofort einen Seenotrettungsfall auszurufen und Rettungsschiffe der griechischen Küstenwache zu mobilisieren, schickte diese zunächst nur einen Hubschrauber, der das Schiff gegen halb 4 Uhr nachmittags erreichte, Fotos machte und wieder abdrehte. Mehrere Unterstützungsangebote von Frontex an die griechische Rettungsleitstelle blieben unbeantwortet.
Die PPLS920 erreichte den Kutter erst kurz vor 22 Uhr abends – elf Stunden nach der ersten Meldung der italienischen Seenotrettungsleitstelle.
Ein für die Rettung von so vielen Menschen geeignetes Schiff der griechischen Küstenwache, die »Aigaion Pelagos«, die nicht weit entfernt im Hafen von Gythio vor Anker lag, wurde nicht losgeschickt. Stattdessen machte sich ein deutlich kleineres Schiff der Küstenwache, die »PPLS920« auf den Weg. Das Problem: Das Schiff ist für die Rettung von so vielen Menschen nicht ausgestattet und hatte nur 43 Rettungswesten an Bord. Zudem startete es von der rund 150 Seemeilen entfernten Insel Kreta und musste dem Fischkutter stundenlang hinterherfahren. Zwischenzeitlich wies die griechische Rettungsleitstelle nur zwei Tanker an, die Schutzsuchenden mit Nahrungsmitteln und Wasser zu versorgen.
Die PPLS920 erreichte den Kutter erst kurz vor 22 Uhr abends – elf Stunden nach der ersten Meldung der italienischen Seenotrettungsleitstelle (nach Angaben der griechischen Küstenwache sogar noch eine Stunde später). Darüber, was dann geschah, gibt es widersprüchliche Aussagen: Überlebende berichten übereinstimmend, dass die Besatzung der Küstenwache ein Tau an der Adriana befestigte und versuchte, das Boot abzuschleppen. Das ruckartige Abschleppmanöver habe letztlich den Kutter zum Kentern gebracht. Die Küstenwache hingegen behauptete zunächst, dass zu keinem Zeitpunkt ein Tau an der Adriana befestigt worden sei – später gab sie aber zu, ein Tau befestigt zu haben, allerdings nur zum Stabilisieren des Kutters. Einen Abschleppversuch habe es nicht gegeben, die Küstenwache habe die Situation nur beobachtet.
Was definitiv feststeht: Die Besatzung der PPLS920 ergriff zu keinem Zeitpunkt Maßnahmen zur Rettung der Menschen an Bord, nicht einmal Rettungswesten wurden verteilt. Eine Seenotrettungsoperation wurde von den griechischen Behörden erst ausgerufen, als das Flüchtlingsboot schon gekentert war.
Frontex hätte selbst Notruf absetzen müssen
Wie aber sieht es mit der Verantwortung von Frontex selbst aus? Klar ist, dass auch Frontex die Meldung der italienischen Seenotrettungsleitstelle erhalten hat und somit von Anfang an im Bilde war. Frontex schickte zwar ein Aufklärungsflugzeug los, das die Adriana gesichtet und die gesammelten Informationen an die griechische Rettungsleitstelle weitergeleitet hat, stufte den Vorgang jedoch nicht als Notfall ein und setzte auch keinen Mayday-Ruf ab.
Ein Mayday-Ruf hätte alle Schiffe und Flugzeuge im Umkreis der Adriana erreicht, die verpflichtet gewesen wären, sich zum Fischkutter zu begeben, um Hilfe bei der Rettung zu leisten. Stattdessen überließ Frontex die Entscheidung, ob es sich um einen Seenotrettungsfall handelt, den griechischen Behörden und bot lediglich Unterstützung an.
Der Bericht des Grundrechtsbeauftragten Grimheden legt nahe, dass es bei Frontex offenbar keine klaren Kriterien gibt, wann ein Schiff als Notfall eingestuft wird und ein Mayday-Ruf abgesetzt wird. Formell habe sich die zuständige Teamleitung bei Frontex richtig verhalten, indem sie alle Informationen an die griechische Rettungsleitstelle weitergeleitet und sich darauf verlassen habe, dass dort die notwendigen Maßnahmen eingeleitet werden. Die Einleitung und Koordinierung von Seenotrettungsoperationen liege ausschließlich bei den zuständigen nationalen Behörden.
Allerdings hat die zuständige Teamleitung sich offenbar kein umfassendes Bild von der Situation gemacht. Das wäre aus Sicht von Grimheden jedoch notwendig gewesen, um zu erkennen, dass »die Personen an Bord der Adriana von einer ernsten und unmittelbaren Gefahr bedroht waren und sofortige Hilfe benötigten«.
Der Grundrechtsbeauftragte mahnt daher an, dass Frontex klare Kriterien entwickeln muss, um zukünftig genauer und umfassender zu prüfen, ob sich ein Schiff in Seenot befindet und ein Mayday-Ruf abgesetzt werden muss. Dies gelte vor allem für Situationen, in denen von der zuständigen nationalen Rettungsleitstelle keine Rückmeldung kommt, ob angemessene Maßnahmen zur Seenotrettung eingeleitet werden.
Für PRO ASYL ist klar: Es handelt sich um organisierte Verantwortungslosigkeit europäischer Behörden, die in der Nacht des 14. Juni 2023 zum Tod von mehr als 600 Menschen geführt hat.
Organisierte Verantwortungslosigkeit
Die Schilderungen des Grundrechtsbeauftragten Grimheden, wie griechische Behörden Rettungsmaßnahmen über mehrere Stunden hinausgezögert und erst gerettet haben, als es zu spät war, sind zutiefst schockierend – und erinnern an ähnliche Vorgänge, etwa beim Schiffsunglück vor der Insel Farmakonisi 2014. Für PRO ASYL ist klar: Es handelt sich um organisierte Verantwortungslosigkeit europäischer Behörden, die in der Nacht des 14. Juni 2023 zum Tod von mehr als 600 Menschen geführt hat. Für die Überlebenden und die Familien der Opfer ist der Bericht sehr wichtig, denn auch acht Monate nach der Katastrophe hat die zuständige Staatsanwältin am Marinegericht von Piräus immer noch nicht entschieden, ob Anklage gegen Bedienstete der griechischen Küstenwache und der Rettungsleitstelle erhoben wird. Von einer rechtsstaatlichen Aufklärung sämtlicher Vorwürfe kann in Griechenland weiterhin keine Rede sein.
Im Gegenteil: Griechenland wurde bereits mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wegen mangelnder Aufklärung von Vorwürfen gegen die griechische Küstenwache verurteilt. Es kann gut sein, dass auch dieses Mal den Überlebenden und den Familien der Verstorbenen eine jahrelange juristische Auseinandersetzung bevorsteht. PRO ASYL und RSA werden sie dabei weiterhin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen.
Die Empfehlungen des Grundrechtsbeauftragten an Frontex können als vorsichtige Selbstkritik an der Grenzagentur verstanden werden. Ob bei Frontex Konsequenzen aus dem Bericht gezogen werden, bleibt abzuwarten – der Grundrechtsbeauftragte kann nur beraten und Empfehlungen aussprechen.
(ame)