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»Wir sind der Verfassungsschutz« – 35 Jahre PRO ASYL
Vor 35 Jahren, am 8. September 1986, wurde PRO ASYL in Frankfurt am Main gegründet. Geschäftsführer Günter Burkhardt schaut zurück und nach vorn, spricht über Erfolge und Niederlagen, Zeltstädte und AnkER-Zentren, Artikel 16 und das Recht auf Asyl, Hungerstreik und europäische Vernetzung, Pushbacks und Afghanistan.
Wie kann man sich die Gründung von PRO ASYL vor 35 Jahren, im Jahr 1986, vorstellen? Ein spontaner Einfall von Menschen, die zusammen saßen? Du warst ja selbst dabei.
Das war ein Prozess. PRO ASYL wurde initiiert von Dr. Jürgen Micksch, langjährig bei der Evangelischen Kirche in Deutschland. Eine herausragende Rolle spielte der katholische Pfarrer Herbert Leuninger, er war charismatischer Sprecher von PRO ASYL. Gegründet wurde die bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL von 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen. Das Ziel war, nachhaltig für die Menschenrechte von Flüchtlingen einzutreten. Ich selbst war damals als Geschäftsführer des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses (ÖVA) zur Woche des ausländischen Mitbürgers, wie die Interkulturelle Woche damals noch hieß, dabei und wurde gefragt, ob ich auch die Geschäftsführung von PRO ASYL übernehme.
Herbert Leuninger war bei der Sitzung aber selbst nicht dabei. Warum?
Der 8. September war sein Geburtstag – und er war genau zu diesem Tag in den Hungerstreik getreten aus Protest gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Zelten. Diese Unterbringung war und ist menschenunwürdig. Heute müssen die Schutzsuchenden in Deutschland zwar nicht mehr in Zelten leben – aber die Unterbringung in AnkER-Zentren und ähnlichen Einrichtungen entrechtet die Menschen ebenfalls.
»Heute haben wir erreicht, dass sich eine Zivilgesellschaft in Deutschland formierte, die überall nachhaltig für die Rechte von Geflüchteten eintritt.«
Was stand nach der Gründung zunächst im Mittelpunkt bei PRO ASYL?
Die 80er Jahre waren geprägt von harten Wahlkämpfen auf dem Rücken von Geflüchteten. Es wurde Stimmung gemacht und versucht, rechte Stimmen zu gewinnen. Heute haben wir es an vielen Stellen erreicht, dass sich eine Zivilgesellschaft in Deutschland formierte, die auf Bundes‑, Landes- und Kommunalebene überall nachhaltig für die Rechte von Geflüchteten eintritt. Im Vergleich zu den 80er Jahren ist es auch gelungen, die Instrumentalisierung der Flüchtlingsthematik in den Wahlkämpfen durch Konservative einzudämmen – allerdings übernimmt diese Instrumentalisierung nun zunehmend eine rechtsextreme Partei, die erschreckend hohen Zuspruch erfährt. Wir kämpfen nicht nur für Flüchtlingsrechte, sondern auch für unsere Werte: die Menschenrechte einer demokratischen und freien Gesellschaft
PRO ASYL ist finanziell völlig unabhängig und kann auf ein großes Netzwerk zurückgreifen. Trägt diese Struktur zum Erfolg bei?
Ja. PRO ASYL kann nur funktionieren, weil wir laut und deutlich für Menschenrechte eintreten, ohne Rücksicht nehmen zu müssen. Dies gelingt, weil wir finanziell unabhängig sind, weil 25.000 Mitglieder und Spender*innen uns finanzieren. Und wir stützen uns auf ein Netzwerk aus landesweiten Flüchtlingsinitiativen, aus Flüchtlingsräten, zahlreichen aktiven Kirchengemeinden und Verbänden, die, weil sie täglich mit Schutzsuchenden arbeiten, aus der Praxis konkrete Forderungen für eine bessere Flüchtlingspolitik formulieren können.
Es gibt ja nicht nur Erfolge. Was war die größte Niederlage?
Von den 80er Jahren bis 1993 war der Hauptangriffspunkt das individuelle Recht auf Asyl. Das deutsche Grundgesetz garantierte im Artikel 16 politisch Verfolgten ohne jeden einschränkenden Zusatz: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Dieser Rechtsanspruch wurde beseitigt, trotz der von PRO ASYL und vielen anderen organisierten Großdemonstrationen, Protesten und Aktionen gegen die Grundgesetzänderung im Mai 1993. Herbert Leuninger sprach damals bei der Demonstration in Bonn den legendären Satz: Wir sind der Verfassungsschutz! Und dieser ist heute noch für uns das Leitmotiv. Er bedeutet: Wir sind diejenigen, die die Grundwerte und Grundrechte unserer Verfassung verteidigen. Und dazu gehören das Recht auf Asyl, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Schutz vor Verfolgung, Krieg und Terror.
Und wie sieht es heute aus mit dem Recht auf Asyl?
Heute verteidigt in der gesamten Europäischen Union leider kein Regierungschef, keine Regierungschefin das Recht auf Asyl als individuelles Menschenrecht. Die Bundesregierung war 2015 zunächst offen, hat aber dann Zug um Zug deutsche Gesetze verschärft und zugeschaut, wie nach und nach rigide alle Grenzen geschlossen wurden. Eine Mauer der Entrechtung wurde errichtet, zunächst in Griechenland, an der Grenze zur Türkei. Dies hat Deutschland massiv forciert. Auf europäischer Ebene ist die rechtliche »Perfektionierung« der Grenzschließungen noch nicht abgeschlossen: Der »New Pact on Migration and Asylum« soll strukturell den Zugang zum Rechtssystem verhindern. Da die EU-Staaten das Recht auf Europas Boden nie ganz aushebeln können, gehen die Staaten hin und errichten Sperrwälle vor Europas Grenzen, damit die Schutzsuchenden gar nicht erst den Boden der EU betreten und einen Asylantrag stellen können.
»Da die EU-Staaten das Recht auf Europas Boden nie ganz aushebeln können, gehen sie hin und errichten Sperrwälle vor Europas Grenzen.«
Ist PRO ASYL in den 35 Jahren internationaler geworden?
Ja. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention wurden immer mehr zur Basis unserer Arbeit. Es ist auch ein Verdienst von Rechtsanwalt Reinhard Marx und anderen, die uns als Grundrechtsverteidiger*innen nach vorne schubsten in den europäischen und internationalen Kontext.
Europäischer Kontext bedeutet auch, den Fokus auf die europäischen Grenzen zu richten. Seit 2007 arbeitet PRO ASYL eng mit Kolleginnen und Kollegen in Griechenland zusammen.
Leitlinie für uns wurde spätestens seit 2007 die Verteidigung der Rechte Geflüchteter an Europas Grenzen. Unfassbare Pushbacks an Griechenlands Grenzen, systematische Verweigerung des Zugangs zum Rechtssystem, Lager mit Zäunen wie Gefängnisse. All dies deckte PRO ASYL im Jahr 2007 – damals durch eine Recherche von unserem Leiter der Europaabteilung Karl Kopp und mir – zusammen mit griechischen Rechtsanwält*innen auf. Nachdem dieser erste Bericht mit dem Titel »The truth may be bitter, but it must be told« veröffentlicht worden war, führte das zu Abschiebungsstopps aus verschiedenen EU-Staaten, auch aus Deutschland, nach Griechenland. Danach wurde unsere Zusammenarbeit enger, 2017 gründeten wir aus diesem Zusammenschluss Refugee Support Aegean (RSA), unsere Partnerorganisation in Griechenland, mit der wir eng zusammenarbeiten, die wir finanzieren und die gegen die Menschenrechtsverletzungen in Griechenland juristisch und politisch vorgeht.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten in anderen europäischen Ländern aus?
Der regelmäßige Austausch über die Lage ist wichtig, nicht nur, um Forderungen an die Politik stellen zu können. In den vergangenen fünf Jahren mussten wir erleben, wie die Risikoabklärung unserer Partnerorganisationen zu einem wichtigen Bestandteil dieser Zusammenarbeit geworden ist. Dazu gehören zum Beispiel unsere Freundinnen und Freunde vom Ungarischen Helsinki Komitee, die trotz der Kriminalisierungsversuche der Orban-Regierung die Stirn bieten. Auch mit Organisationen entlang der Balkanroute haben wir Kontakte, etwa mit der Organisation klikaktiv, die im serbischen Grenzraum Geflüchtete in informellen Camps aufsucht und Rechtsberatung leistet. Vernetzung ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit. PRO ASYL ist zudem langjähriges Mitglied im Europäischen Flüchtlingsrat ECRE, Karl Kopp war dort lange im Vorstand – Herbert Leuninger folgend. Dort sind mehr als 100 NGOs aus 39 Ländern zusammengeschlossen. Wenn wir die europäische Gesetzgebung beeinflussen wollen, benötigen wir genau diesen Zusammenschluss, die Expertise und eine starke Stimme, die in Brüssel gehört wird.
Aber wirklich verbessert hat sich die Lage für Flüchtlinge in Griechenland und an Europas Grenzen nicht. So ist der 8. September nicht nur der Gründungstag von PRO ASYL, sondern auch der Tag, an dem im Jahr 2020 das Flüchtlingslager Moria brannte.
Griechenland war und ist aufgrund seiner geografischen Lage das Hauptdurchgangsland für Flüchtlinge, die aus Syrien, Afghanistan, der Türkei und anderen Ländern nach Europa fliehen. Griechenland hat die Grenzen dicht gemacht mit illegalen Methoden, mit Pushbacks an den Grenzen, dem Beschuss von Flüchtlingen mit Schallkanonen, dem Zurückschleppen von Geflüchteten auf das Meer. All das geschieht mit Tolerierung von Frontex und den EU-Nationalstaaten. Das ist bitter. Der Brand in Moria hat eine kurzfristige Empörung ausgelöst – und dann wurde das Leid der Menschen unsichtbar gemacht: Sie wurden in abgeschotteten Lagern isoliert, in rechtlose Situationen und in die Obdachlosigkeit abgedrängt, ihre Flucht bereits in der Türkei oder auf dem Meer brutal verhindert.
Aktuell steht Afghanistan im Mittelpunkt des Interesses. Wie ist die Situation an den Grenzen für die fliehenden Menschen?
Es werden ja immer wieder Vergleiche zu 2015 gezogen. Aber die Situation heute ist mit 2015 überhaupt nicht zu vergleichen. Die Grenzen zwischen Afghanistan und Deutschland sind weitgehend geschlossen: die Grenze von Afghanistan zum Iran, die Grenze vom Iran zur Türkei, die Grenze der Türkei zu Europa und die Grenzen innerhalb Europas. Die EU investiert viel Geld, um Schutzsuchende abzuwehren. Das ist bitter: Verzweifelte Menschen aus Afghanistan versuchen, Schutz zu finden, und sitzen ausweglos in der Falle. Unter ihnen sind auch viele mit engen Bezügen zu Deutschland: Viele haben für deutsche Organisationen gearbeitet; viele hatten wichtige Funktionen in der afghanischen Zivilgesellschaft, in der Politik, in Behörden oder im Justizwesen, die nicht in das Weltbild der Taliban passen; viele haben Ehepartner*innen, Eltern oder minderjährige Kinder in Deutschland und warten schon seit Jahren darauf, zu ihren Liebsten zu kommen. So leben in Deutschland 4.000 Schutzberechtigte, die seit Jahren darauf warten, endlich ihren Antrag auf den ihnen zustehenden Familiennachzug stellen zu können – aber keine Termine in den Botschaften dafür bekommen.
»Wie wollen wir leben? In einer Gesellschaft, die geprägt ist von Offenheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenrechten? Oder in einer Gesellschaft, die auf Nationalismus, Ausgrenzung, Abschottung und autoritäre Strukturen setzt?«
In den ersten Jahren von PRO ASYL ging es unter anderem um den Protest gegen die Zeltunterkünfte, die Verurteilung von rassistischen Anschlägen auf Unterkünfte, den Kampf gegen die Abwehr und für eine Akzeptanz von Flüchtlingen. Was sind heute die drängendsten Probleme?
Wir stehen aus meiner Sicht vor drei grundlegenden Herausforderungen. Die erste ist unverändert: den Zugang zum Recht auf Asyl zu erhalten. Asyl steht hier stellvertretend für die Menschenrechte generell. Es geht auch um die Frage: Wie wollen wir leben? In einer Gesellschaft, die geprägt ist von Offenheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenrechten? Oder in einer Gesellschaft, die auf Nationalismus, Ausgrenzung, Abschottung und autoritäre Strukturen setzt? Diese Grundfrage muss die neue Bundesregierung beantworten – für ihr Handeln in Deutschland und vor allem auch für ihr Handeln in Europa. Denn in Europa spielt die deutsche Regierung eine maßgebliche Rolle, im Guten wie im Schlechten.
In Deutschland selbst müssen wir zwei zentrale Herausforderungen bewältigen und lösen. Zunächst muss das Recht, als Familie zusammenzuleben, wieder gewährleistet werden. Systematisch hat die schwarz-rote Koalition dieses Recht eingeengt und sorgt so für die andauernde Trennung von Familien. Eine Hürde nach der nächsten wurde errichtet. PRO ASYL fordert, dass alle Menschen, die hier leben, auch diejenigen, die vor Krieg und Terror fliehen mussten und den sogenannten subsidiären Status haben, wieder das Recht haben müssen, als Familie zusammenzuleben. Und die Geflüchteten, die schon jetzt Rechtsansprüche haben, müssen innerhalb kürzester Zeit ihre Familien nachholen können. Das Warten muss ein Ende haben! Dass dies geht, wenn der politische Wille da ist, hat die Bundesregierung bewiesen, wenn es um Fachkräfte geht.
»Es gibt kein anderes europäisches Land, in dem sich die Zivilgesellschaft so lebendig, klar und deutlich in politische Diskurse auf allen Ebenen einmischt wie in Deutschland. Dass dies so bleibt, dafür steht PRO ASYL.«
Und die dritte Herausforderung?
Zu den Abwehrmechanismen und Hürden, die seit 2015 errichtet wurden, gehört das System der AnkER-Zentren und aller Lager, in denen die Schutzsuchenden bis zu 18 Monate isoliert werden. So wird Integration systematisch verhindert wird. Unbeachtet bleibt dabei aber, dass es realistischerweise überhaupt keine Möglichkeit gibt, Tausende von Menschen in die Ersteinreisestaaten Europas zurück zu verfrachten, zum Beispiel nach Griechenland oder Italien.
Unbeachtet bleibt auch, dass diese AnkER- Zentren strukturell entrechten. Denn die Abläufe dort sind auch eine Ursache dafür, dass die Ablehnungsquote des Bundesamtes, zum Beispiel bei afghanischen Flüchtlingen, extrem hoch ist. Die Menschen dort haben kaum die Möglichkeit, sich an Beratungsstellen, Kirchen und andere Initiativen, die ihnen helfen würden, zu wenden. Ohne Beratung bis hin zum Rechtsweg ist es aber schwer, das Handeln der Behörden gerichtlich zu kontrollieren. Und diese Einrichtungen haben psychische Langzeitwirkungen. Menschen werden zermürbt und psychisch zerstört, wenn sie dauerhaft isoliert und gezwungen werden, gegen die Wand zu starren. Und damit sind wir leider nicht wirklich weiter als 1986, als man versuchte, Flüchtlingen in Zeltunterkünften das Leben in Deutschland so unattraktiv wie möglich zu machen.
Immer wieder dieselben Diskussionen und Kämpfe. Macht das nicht mürbe und frustriert?
Man könnte bitter werden bei all dem, man könnte verzweifeln. Aber: Wir haben immer wieder Erfolge. Seien es einzelne Menschen, die wir vor der Abschiebung retten konnten, sei es mit Erfolgen vor Gerichten, von denen viele Schutzsuchende profitieren. Und in Deutschland haben wir alle Enormes erreicht. Vor allem, dass es eine Zivilgesellschaft gibt, die den Geflüchteten zur Seite steht und Ungerechtigkeiten anprangert. Es gibt kein anderes europäisches Land, in dem sich die Zivilgesellschaft so lebendig, klar und deutlich in politische Diskurse auf allen Ebenen einmischt wie in Deutschland. Dass dies so bleibt, dafür steht PRO ASYL.
(wr)