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Was heißt hier sicher? Wie die Innenminister*innen Geflüchtete entrechten wollen
PRO ASYL kritisiert den Beschluss der Innenminister*innenkonferenz vom 15. Juni 2023, die Liste der sogenannten »sicheren Herkunftsstaaten« um sieben weitere Länder zu erweitern, scharf. Für die Menschen hat das Konzept wenig mit Sicherheit zu tun. Es dient vielmehr der Abschreckung und Entrechtung der Geflüchteten aus diesen Ländern.
In der Pressemitteilung der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport vom 16. Juni 2023 anlässlich der Innenminister*innenkonferenz in Berlin heißt es:
»Zur Entlastung der Kommunen zählt ebenso die Liste der sicheren Herkunftsstaaten, die erweitert und künftig fortwährend überprüft werden muss. Die Innenministerkonferenz hat sich daher dafür ausgesprochen, dass Georgien, Armenien, Moldau, Indien und die Maghreb-Staaten seitens des Bundesinnenministeriums als sichere Herkunftsländer eingestuft werden«.
Als Lösung für die Entlastung der Kommunen wird, wie auch bei den letzten beiden vergangenen Flüchtlingsgipfeln, das Fernhalten von Geflüchteten formuliert. Neben Grenzkontrollen und verstärkten Abschiebungen spielt dabei das Instrument der »sicheren Herkunftsstaaten« eine wichtige Rolle.
Methode der Verschärfung und Entrechtung
Beunruhigend ist dabei nicht nur das Framing, dass zur Entlastung der Kommunen vorwiegend die Abwehr von geflüchteten Menschen und Verschärfungen und Einschränkungen im Asylrecht als Lösung angebracht werden, sondern auch die Methode, mit der dieser Abbau von Flüchtlingsrechten etabliert wird. Seit dem Beginn der Corona-Pandemie agieren Ministerpräsident*innen und auch Innenminister*innen zunehmend autonom in ihren Beschlüssen, die eigentlich der Zustimmung des Parlaments und auch gegebenenfalls des Bundesrats bedürfen. Was in den akuten Bedrohungslagen der Pandemie vielleicht noch als notwendig angesehen werden kann, entbehrt jedoch in puncto Migrationspolitik jeglicher rechtlicher Grundlage.
Indem die Innenminister*innenkonferenz solche Beschlüsse fasst, schafft sie am Parlament und Bundesrat vorbei öffentlich Tatsachen, die schwer wieder einzufangen sind. Tatsächlich müssen Bundestag und sogar Bundesrat in einem Gesetzgebungsverfahren eine solche Ausweitung der Liste beschließen (wie die der Ausweitung der Liste der »sicheren Herkunftsländer«, vgl. Art. 16 Abs. 3 GG).
Die aktuellen Beschlüsse gehen sogar noch weiter: Hier soll nun, laut der Pressemitteilung des Berliner Innensenats, das Bundesinnenministerium die Einstufung der neuen »sicheren Herkunftsländer« vornehmen. Hierfür gibt es keine rechtliche Grundlage und so kann dies nur als Verbreitung politischer Stimmungsmache verstanden werden.
Rechtliche Grundlage zur Einstufung neuer »sicherer Herkunftsstaaten«
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil von 1996 festgelegt, dass der Gesetzgeber bei der Einstufung eines Landes zum »sicheren Herkunftsstaat« die Rechtslage, die Rechtsanwendung und die allgemeinen politischen Verhältnisse in diesem Staat untersuchen muss. Die Einstufung als »sichere Herkunftsstaaten« erfordert, dass in jenem Staat eine gewisse Stabilität und hinreichende Kontinuität der Verhältnisse bereits eingetreten ist und deshalb weder Verfolgungshandlungen noch unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Bestrafung stattfinden. Der Gesetzgeber ist zudem verpflichtet, eine gründliche antizipierte Tatsachen- und Beweiswürdigung der verfügbaren Quellen vorzunehmen, wenn er einen Staat als sicher listen wolle.
In der Vergangenheit aber haben die gesetzgebenden Organe bei der Bestimmung von sogenannten sicheren Herkunftsstaaten – wie zum Beispiel Albanien oder Bosnien und Herzegowina – sich häufig nicht ausreichend mit den verfügbaren Quellen auseinandergesetzt. Berichte von Menschenrechtsorganisationen wurden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder lediglich zitiert, ohne Konsequenzen zu ziehen.
So auch in der aktuellen Debatte. Allein am Beispiel Moldau oder Tunesien gibt es etliche Berichte und Belege, warum nicht von einer pauschal definierten Sicherheitslage ausgegangen werden kann, insbesondere nicht für Angehörige von Minderheiten und marginalisierten Gruppen.
Die Geschichte der »sicheren Herkunftsstaaten«
Das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« ist nicht neu. Die Regelung dazu wurde im Zuge des »Asylkompromisses« 1993 eingeführt. Dabei wird gemäß § 29a des Asylgesetzes (AsylG) die gesetzliche Vermutung festgelegt, dass in diesen Staaten keine politische Verfolgung stattfindet.
Das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« ist bereits im Kern unvereinbar mit dem individuellen Recht auf Asyl.
Bis 2014 wurden die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Ghana und Senegal mit dieser Eigenschaft versehen. Im Jahr 2014 wurden dann auch Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als »sichere Herkunftsstaaten« eingestuft. 2015 folgten Albanien, Kosovo und Montenegro. 2016 sollten nach dem Willen des Bundestages Tunesien, Marokko und Algerien folgen, was jedoch im März 2017 am Bundesrat scheiterte. Ein erneuter Anlauf nach Zustimmung des Bundestages (bei dem zusätzlich zu den Maghreb-Staaten noch Georgien für sicher erklärt werden sollte) wurde im Bundesrat auf unbestimmte Zeit vertagt und bis heute nicht entschieden.
Das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« ist allerdings bereits im Kern unvereinbar mit dem individuellen Recht auf Asyl. Denn in einem Asylverfahren müssen die Antragsstellenden die eigene individuelle politische Verfolgung darlegen, sollten aber nicht darüber hinaus eine gesetzlich festgeschriebene Vermutung über das Herkunftsland widerlegen müssen. Als zusätzliche Hürde wurde für Asylsuchende aus »sicheren Herkunftsstaaten« ein stark beschleunigtes Verfahren eingeführt.
Rechtsfolgen für Menschen aus »sicheren Herkunftsstaaten«
Mit der Einstufung eines Herkunftsstaates als »sicher« gehen für die Betroffenen massive Einschränkungen, negative Rechtsfolgen und Ausschlüsse einher. Zudem werden die Menschen öffentlich stigmatisiert und als »Menschen ohne Asylgrund, die das deutsche Asylsystem nur ausnutzen wollen« gebrandmarkt.
Abgelehnte Asylbewerber*innen haben normalerweise die Möglichkeit, innerhalb von zwei Wochen Klage gegen eine ablehnende Entscheidung über ihre Asylgesuch bei Gericht einzureichen oder freiwillig ausreisen. Bei Schutzsuchenden aus »sicheren Herkunftsländern« wird der Asylantrag bei einer negativen Entscheidung jedoch nicht einfach abgelehnt, sondern als »offensichtlich unbegründet« (OU) beschieden (§ 29a AsylG).
Bei einer »OU-Ablehnung« beträgt die Klage- und Ausreisefrist nur noch eine Woche. Zudem entfaltet in diesem Fall eine Klage keine aufschiebende Wirkung, es kann also auch während des Gerichtsverfahrens abgeschoben werden. Um das zu verhindern, müssten die Betroffenen oder Anwält*innen innerhalb einer Woche Eilrechtsschutz beantragen, der bei positivem Ausgang zumindest für die Zeit des Klageverfahrens vor einer Abschiebung schützt. In der Praxis aber haben Schutzsuchenden häufig keine Möglichkeit zu klagen, da die Frist viel zu kurz ist, Anwält*innen nicht so schnell Termine vergeben können und die Menschen oft zunächst gar nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen.
Durch Gesetzesverschärfungen im Jahr 2015 und 2016 unterliegen Asylsuchende aus »sicheren Herkunftsstaaten« einer besonderen Form der Diskriminierung: Sie sollen das normale Asylverfahren gar nicht mehr durchlaufen. Asylanträge werden im Rahmen von beschleunigten Asylverfahren (§ 30a AsylG) durchgeführt. Ein Zugang zu qualifizierten Anwält*innen und Beratungsstellen ist damit stark erschwert, insbesondere da sich die Aufnahmezentren häufig außerhalb der Ballungsgebiete befinden.
Weiterhin unterliegen diese Asylsuchenden der Wohnverpflichtung in einer Aufnahmeeinrichtung auch länger als 18 Monate (dies ist die maximale Höchstgrenze für alle anderen Asylsuchenden) bis zur Entscheidung des BAMF über ihr Asylgesuch, bzw. bis zu ihrer Ausreise/Abschiebung (§ 47 Abs. 1a AsylG).
Zudem gilt für sie bei Asylantragsstellung nach dem 31. August 2015 ein Arbeitsverbot während des gesamten Asylverfahrens (§ 61 Abs. 2 Satz 4 AsylG). Wird der Asylantrag abgelehnt, zurückgenommen oder gar nicht erst gestellt, und die Menschen können sich trotzdem mit einer Duldung in Deutschland aufhalten, gilt für sie weiterhin ein Arbeitsverbot (§ 60a Abs. 6 AufenthG). Die Folge ist ein Ausschluss von der bisherigen Ausbildungsduldung (§ 60c Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) sowie ein Ausschluss aus allen Bleiberechtsregelungen.
Nach der Ablehnung des Asylantrages als »offensichtlich unbegründet« kann eine Wiedereinreisesperre gemäß § 11 Abs. 7 Nr. 1 AufenthG verhängt werden. Dies gilt abweichend von Personen aus anderen Staaten auch im Falle einer freiwilligen Ausreise.
Keine weiteren »sicheren Herkunftsstaaten«!
PRO ASYL fordert Bundestag und Bundesrat auf, keine weiteren Herkunftsstaaten als vermeintlich »sicher« einzustufen und damit tatsächlich gefährdeten Menschen in diesen Staaten das Recht auf Schutz zu verweigern. Insbesondere sollten die gesetzgebenden Organe nicht hinnehmen, dass – wie in der Berliner Pressemitteilung zur Innenminister*innenkonferenz dargestellt – das Bundesinnenministerium über eine solche schwerwiegende Einstufung entscheidet, anstelle wie im Grundgesetz in Art. 16a vorgesehen der Bundestag und Bundesrat.
(nb)