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Schutzlos: Afghanische Flüchtlinge in der Türkei
Völlig auf sich allein gestellt - so lässt sich die Situation afghanischer Schutzsuchender in der Türkei zusammenfassen. Eine von der Stiftung PRO ASYL in Auftrag gegebene Expertise unterstreicht: Die Türkei bietet keine Sicherheit.
Die Türkei hat von der internationalen Gemeinschaft viel Zuspruch für die Aufnahme von 3,6 Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge erhalten. Obwohl syrische Geflüchtete als größte Gruppe mehr im Fokus der politischen und öffentlichen Wahrnehmung stehen, bleiben viele Fragen zu ihrer Situation offen. Trotz Unterstützungsleistungen aus der EU ist ihre Situation prekär. Die Türkei ist für sie alles andere als sicher.
Weit weniger Aufmerksamkeit erfahren andere Flüchtlingsgruppen. Statistiken der türkischen Regierung legen nahe, dass Afghanistan seit 2018 das Hauptherkunftsland von neuankommenden Schutzsuchenden in der Türkei ist. Viele versuchen die Türkei hinter sich zu lassen – Afghanistan ist auch das Hauptherkunftsland von Schutzsuchenden in den europäischen Hotspots auf den griechischen Ägäis Inseln.
Studie zur Situation von afghanischen Flüchtlingen in der Türkei
Afghanische Schutzsuchende erhalten keinen Schutz in der Türkei. Selbst die geringen Garantien des Rechtrahmens werden in der Praxis deutlich untergraben. Große Unterschiede von einer Provinz zur nächsten schüren die Ungewissheit. Verfestigte Verwaltungspraktiken zwingen sie in ein Leben in Illegalität. Eine Besserung ist nicht in Sicht.
Zu diesem Fazit kommt eine von der Stiftung PRO ASYL in Auftrag gegebene Kurzstudie. Basierend auf Interviews mit türkischen Anwält*innen und NGO-Mitarbeiter*innen und der Analyse von Berichten staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen hat die Juristin die Hauptprobleme von afghanischen Schutzsuchenden in der Türkei herausgearbeitet. Im Folgenden fassen wir die wichtigsten Punkte zusammen.
Keinen Flüchtlingsschutz für Afghan*innen in der Türkei
Der Flüchtlingsschutz im Sinne der Genfer Flüchtlingsschutzkonvention (GFK) ist in der Türkei Europäer*innen vorbehalten, denn die GFK wurde nur mit einem geographischen Vorbehalt ratifiziert. Afghanische Schutzsuchende können einen Antrag auf »Internationalen Schutz« stellen, wonach ein »bedingter Schutzstatuts« oder ein »subsidiärer Schutzstatus« erteilt werden kann. Das klingt nach europäischem Standard, jedoch fehlen wesentliche Garantien bereits auf dem Papier. So ist der »bedingte Schutzstatus« auf das Resettlement-Verfahren ausgerichtet, eine langfristige Perspektive gibt es nicht. Flüchtlinge mit »bedingtem Schutzstatus« haben kein Recht, ihre Familie nachzuholen.
Soweit die Theorie. Praktisch scheitern die meisten afghanischen Geflüchteten, vor allem alleinstehende Männer, bereits daran, ihren Antrag auf Schutz überhaupt zu registrieren.
Mit System: Zugang zur Registrierung bleibt versperrt
Der mangelhafte Zugang zur Registrierung ist als das zentrale Problem für Schutzsuchende in der Türkei bekannt. Ohne Registrierung und damit ohne Ausweis ist der Aufenthalt in der Türkei unrechtmäßig. Inhaftierung und Abschiebung sind jederzeit möglich. Staatliche Leistungen und ein Zugang zum öffentlichen Leben bleiben versperrt. Die Registrierung sollte eigentlich in den Provincial Directorates for Migration Management (PDMM) möglich sein, jedoch werden Afghan*innen, die versuchen ihren Antrag zu registrieren, immer wieder zurückgewiesen. Häufig heißt es, die jeweilige Provinz sei derzeit für die Registrierung »geschlossen«.»Öffnung« und »Schließung« erscheinen willkürlich. Informationen darüber werden nicht veröffentlicht oder mit zentralen Stellen geteilt.
Manchmal erfolgt der Verweis, dass die Registrierung in einer anderen Provinz möglich sei, jedoch werden selten Papiere für die notwendige Reise ausgestellt. Es ist ein gefährlicher Spießrutenlauf, denn das Reisen ohne Dokumente birgt die Gefahr, aufgegriffen und inhaftiert zu werden. Vor dem nächsten PDMM droht das gleiche Szenario. Die Schwierigkeit wird auch in der Statistik deutlich: Während 2019 über 200.000 Afghan*innen ohne gültige Dokumente aufgegriffen wurden, wurden lediglich 35.000 Anträge auf Schutz registriert.
Covid-19 verschärft die Situation
2020 hat sich die Problematik zugespitzt, in vielen Provinzen, etwa in Izmir und Konya, wurde die Registrierung vorläufig gestoppt. Zusätzlich verschärfte eine weitere Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie die Situation: Zur Nachverfolgung von Infektionsketten wurde der sogenannte HES Code eingeführt. Er ist zwingend etwa für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs oder beim Betreten öffentlicher Gebäude – wie dem PDMM – vorzuweisen. Für die Ausstellung des Codes wird ein Ausweisdokument benötigt. Schutzsuchende ohne Registrierung und damit ohne Ausweis brauchen einen HES Code, um Zugang zum PDMM und damit zur Registrierung zu erhalten. Ohne jedoch einen HES Code zu haben, bleibt der Zugang zum PDMM versperrt. Ein Teufelskreis, der die Ignoranz der türkischen Behörden bezüglich Geflüchteter verdeutlicht.
Die, die es schaffen sich zu registrieren, verweilen auf unbestimmte Zeit im Limbo der Antragsstellung. 2019 wurde bei etwa 56.000 Neuanträgen über knapp 10.500 Anträge entschieden – etwa 5.500 Mal positiv. Wie viele Entscheidungen auf afghanischer Antragsstellende entfällt bleibt unbekannt, Zahlen zu den Herkunftsstaaten gibt es nicht. Die Anzahl afghanischer Schutzsuchender mit Schutzstatus dürfte jedoch äußerst gering sein. Für die Expertise konnten keine Informationen über die Situation von afghanischen Flüchtlingen mit »bedingtem Schutz« oder »subsidiären Schutz« zusammengestellt werden – schlicht, weil weder die konsultierten Berichten, noch die befragten Anwält*innen und NGO-Mitarbeiter*innen dazu hinreichend Auskunft geben konnten. Sich häufende Berichte über die steigende Zahl an Ablehnung von afghanischen Antragsstellenden deuten zudem auf eine gefährliche Trendwende hin.
Schutzsuchende sind auf die Bevölkerung und NGOs angewiesen
Staatliche Leistungen sind an einen gültigen Aufenthaltsstatus geknüpft und selbst für registrierte afghanische Geflüchtete schwer zugänglich, ein Anspruch besteht nicht. Ähnlich sieht es im Bereich Wohnen aus, staatlich organisierte Unterbringung gibt es nicht. Mit einer Gesetzesänderung wurde zudem die kostenlose Krankversicherung eingeschränkt und auf das Jahr nach der Registrierung limitiert. Insbesondere vor dem Hintergrund der nicht absehbaren Verfahrensdauer entsteht so eine Versorgungslücke.
Die ausbleibende staatliche Unterstützung erfordert alternative Überlebensstrategien und Solidaritätsnetzwerke. Geflüchtete sind auf die türkische Bevölkerung angewiesen, die als potentielle Vermieter*innen oder Arbeitgeber*innen eine entscheidende Rolle einnehmen. Die aufgeheizte Stimmung und zunehmend offener Rassismus machen das schwer. Häufig sind afghanische Schutzsuchende gezwungen, in Wohnungen in peripherer Lage unter schlechten Bedingungen zu leben. Noch problematischer ist die Lage für Personen ohne Registrierung. Seit einer Gesetzesverschärfung 2019 wird die Vermietung von Wohnraum an Personen ohne Dokumente sanktioniert.
Der Zugang zum Arbeitsmarkt – sechs Monate nach Registrierung – sollte eigentlich die Abdeckung des eigenen Lebensunterhalts ermöglichen, jedoch bleibt die Zahl der erteilten Arbeitserlaubnisse verschwindend gering. Laut den letzten veröffentlichten Daten erhielten 2018 nicht einmal 1000 Afghan*innen einen Zugang zum formellen Arbeitsmarkt. Geflüchtete sind in den ohnehin großen informellen Sektor gedrängt. Regelmäßig wird von Arbeitsunfällen, Unterbezahlung und Ausbeutung berichtet. Die Covid-19 Pandemie geht für Geflüchtete in der Türkei mit einer Versorgungskrise einher. Absicherung gibt es für sie nicht.
Fluch und Segen: Der große informelle Sektor
Die meisten Geflüchteten suchen in den urbanen Zentren der Türkei nach Arbeit, hier gelten die Chancen als besser. Das ist kein ungefährliches Unterfangen. Wie geschildert besteht für nichtregistrierte Geflüchtete ohne Reisepapiere ständig die Gefahr der Inhaftierung. Geflüchtete mit Registrierung unterliegen einer Residenzpflicht und dürfen nur mit entsprechender Erlaubnis die zugewiesene Provinz verlassen. Um Arbeit zu finden, brechen viele diese Residenzpflicht. Bei Kontrollen droht ihnen die Inhaftierung.
Die Angst ist ein ständiger Begleiter. Etwa werden weiterhin Geflüchtete in der Türkei mit verschiedenen Codes belegt. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen, die für bestimmte Vermerke stehen (siehe AIDA Länderbericht Türkei, Seite 8): Etwa »Arbeiten ohne Arbeitserlaubnis« oder »Sicherheitsvermerke«. Die Liste der Codes und ihre Konsequenzen sind nicht öffentlich, ebenso wenig ist es für Geflüchtete erkennbar, ob ein Security-Code auf sie angewandt wurde oder nicht. Manche Security-Codes werden nicht sanktioniert, bei anderen droht der Entzug von Unterstützungsleistungen oder sogar die Abschiebung.
Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 fand ein massiver Abbau der demokratischen Institutionen in der Türkei statt. Mehrere Jahre wurde im »Notstand« regiert. 2018 endete der »Notstand«, Teile der Notstandsverordnungen blieben allerdings. Unter anderem wurde das Refoulment-Verbot außer Kraft gesetzt indem – unabhängig vom Verfahrensstand – die sofortige Abschiebung von Personen ermöglicht wurde, die als »Terrorist*in« oder »öffentliches Sicherheitsrisiko« eingestuft wurden. Zum Hintergrund: Die Türkei unter Erdogan scheint mehr »Terrorist*in« als unbescholtene Bewohner*innen zu haben. Seit Dezember 2019 haben Klagen gegen Abschiebungen aus den genannten Gründen die aufschiebenden Wirkung, die Gefahr der Abschiebung bleibt jedoch bestehen.
Der Zugang zu Rechtsberatung, insbesondere in den Abschiebezentren, ist eingeschränkt. Mit der Verkürzung der Widerspruchsfrist gegen Abschiebungsanordnungen von 15 Tage auf nur noch 7 Tage wurde die Situation verschärft. Zusätzlich gelten Qualität und Effizienz der gerichtlichen Überprüfung als mangelhaft.
Blackbox Inhaftierung
Die Behandlung und die Umstände, unter denen Geflüchtete in Abschiebehaft leben müssen, sind schlecht. Häufig wird die »freiwillige« Rückkehr als einzige Option aus der Haft präsentiert. Anwält*innen und NGO-Mitarbeiter*innen berichten, dass afghanische Geflüchtete in Abschiebehaft dazu gedrängt werden, die Dokumente zur Rückkehr zu unterschreiben. Laut UNHCR, dem eine Überwachungsfunktion bei der freiwilligen Ausreise zukommt, fanden im Zeitraum Anfang Januar bis Ende August 2020 8.900 freiwillige Ausreisen statt. NGOs bezweifeln, dass die Ausreisen aus der Abschiebehaft als »freiwillig« anzusehen sind. Auch das Ausmaß bleibt NGOs unklar. NGOs wagen keine Schätzungen und von staatlicher Seite liegen keine Statistiken vor.
Ähnlich wie die EU setzt auch die Türkei auf verstärkte Kooperation mit Drittstaaten, um Abschiebezahlen zu erhöhen. Insbesondere seit 2018 werden die Beziehungen zu Afghanistan in dem Bereich intensiviert. Zwar berichten Anwält*innen, das 2020 Abschiebungen aufgrund der Pandemie offiziell eingestellt wurden, jedoch wurden in den ersten sieben Monaten 2020 6.000 Abschiebungen nach Afghanistan aus der Türkei registriert. Laut Berichten sind besonders alleinstehende afghanische Männer von Abschiebungen aus Izmir, Van, Gaziantep, Adana und Kayseri betroffen gewesen. Die afghanische NGO AMASO spricht für das Gesamtjahr 2020 von fast 12.000 afghanischen Geflüchteten, die aus der Türkei in das Bürgerkriegsland abgeschoben wurden.