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Aufgrund der Perspektivlosigkeit versuchen immer wieder Flüchtlinge aus der Türkei in Richtung Griechenland zu gelangen. Foto: picture alliance / NurPhoto / Nicolas Economou

Völlig auf sich allein gestellt - so lässt sich die Situation afghanischer Schutzsuchender in der Türkei zusammenfassen. Eine von der Stiftung PRO ASYL in Auftrag gegebene Expertise unterstreicht: Die Türkei bietet keine Sicherheit.

Die Tür­kei hat von der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft viel Zuspruch für die Auf­nah­me von 3,6 Mil­lio­nen syri­sche Bür­ger­kriegs­flücht­lin­ge erhal­ten. Obwohl syri­sche Geflüch­te­te als größ­te Grup­pe mehr im Fokus der poli­ti­schen und öffent­li­chen Wahr­neh­mung ste­hen, blei­ben vie­le Fra­gen zu ihrer Situa­ti­on offen. Trotz Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen aus der EU ist ihre Situa­ti­on pre­kär. Die Tür­kei ist für sie alles ande­re als sicher.

Weit weni­ger Auf­merk­sam­keit erfah­ren ande­re Flücht­lings­grup­pen. Sta­tis­ti­ken der tür­ki­schen Regie­rung legen nahe, dass Afgha­ni­stan seit 2018 das Haupt­her­kunfts­land von neu­an­kom­men­den Schutz­su­chen­den in der Tür­kei ist. Vie­le ver­su­chen die Tür­kei hin­ter sich zu las­sen – Afgha­ni­stan ist auch das Haupt­her­kunfts­land von Schutz­su­chen­den in den euro­päi­schen Hot­spots auf den grie­chi­schen Ägä­is Inseln.

Studie zur Situation von afghanischen Flüchtlingen in der Türkei

Afgha­ni­sche Schutz­su­chen­de erhal­ten kei­nen Schutz in der Tür­kei. Selbst die gerin­gen Garan­tien des Recht­rah­mens wer­den in der Pra­xis deut­lich unter­gra­ben. Gro­ße Unter­schie­de von einer Pro­vinz zur nächs­ten schü­ren die Unge­wiss­heit. Ver­fes­tig­te Ver­wal­tungs­prak­ti­ken zwin­gen sie in ein Leben in Ille­ga­li­tät. Eine Bes­se­rung ist nicht in Sicht.

Zu die­sem Fazit kommt eine von der Stif­tung PRO ASYL in Auf­trag gege­be­ne Kurz­stu­die. Basie­rend auf Inter­views mit tür­ki­schen Anwält*innen und NGO-Mitarbeiter*innen und der Ana­ly­se von Berich­ten staat­li­cher und nicht-staat­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen hat die Juris­tin die Haupt­pro­ble­me von afgha­ni­schen Schutz­su­chen­den in der Tür­kei her­aus­ge­ar­bei­tet. Im Fol­gen­den fas­sen wir die wich­tigs­ten Punk­te zusammen.

Keinen Flüchtlingsschutz für Afghan*innen in der Türkei

Der Flücht­lings­schutz im Sin­ne der Gen­fer Flücht­lings­schutz­kon­ven­ti­on (GFK) ist in der Tür­kei Europäer*innen vor­be­hal­ten, denn die GFK wur­de nur mit einem geo­gra­phi­schen Vor­be­halt rati­fi­ziert. Afgha­ni­sche Schutz­su­chen­de kön­nen einen Antrag auf »Inter­na­tio­na­len Schutz« stel­len, wonach ein »beding­ter Schutz­sta­tuts« oder ein »sub­si­diä­rer Schutz­sta­tus« erteilt wer­den kann. Das klingt nach euro­päi­schem Stan­dard, jedoch feh­len wesent­li­che Garan­tien bereits auf dem Papier. So ist der »beding­te Schutz­sta­tus« auf das Resett­le­ment-Ver­fah­ren aus­ge­rich­tet, eine lang­fris­ti­ge Per­spek­ti­ve gibt es nicht. Flücht­lin­ge mit »beding­tem Schutz­sta­tus« haben kein Recht, ihre Fami­lie nachzuholen.

Soweit die Theo­rie. Prak­tisch schei­tern die meis­ten afgha­ni­schen Geflüch­te­ten, vor allem allein­ste­hen­de Män­ner, bereits dar­an, ihren Antrag auf Schutz über­haupt zu registrieren.

Mit System: Zugang zur Registrierung bleibt versperrt

Der man­gel­haf­te Zugang zur Regis­trie­rung ist als das zen­tra­le Pro­blem für Schutz­su­chen­de in der Tür­kei bekannt. Ohne Regis­trie­rung und damit ohne Aus­weis ist der Auf­ent­halt in der Tür­kei unrecht­mä­ßig. Inhaf­tie­rung und Abschie­bung sind jeder­zeit mög­lich. Staat­li­che Leis­tun­gen und ein Zugang zum öffent­li­chen Leben blei­ben ver­sperrt. Die Regis­trie­rung soll­te eigent­lich in den Pro­vin­cial Direc­to­ra­tes for Migra­ti­on Manage­ment (PDMM) mög­lich sein, jedoch wer­den Afghan*innen, die ver­su­chen ihren Antrag zu regis­trie­ren, immer wie­der zurück­ge­wie­sen. Häu­fig heißt es, die jewei­li­ge Pro­vinz sei der­zeit für die Regis­trie­rung »geschlossen«.»Öffnung« und »Schlie­ßung« erschei­nen will­kür­lich. Infor­ma­tio­nen dar­über wer­den nicht ver­öf­fent­licht oder mit zen­tra­len Stel­len geteilt.

Manch­mal erfolgt der Ver­weis, dass die Regis­trie­rung in einer ande­ren Pro­vinz mög­lich sei, jedoch wer­den sel­ten Papie­re für die not­wen­di­ge Rei­se aus­ge­stellt. Es ist ein gefähr­li­cher Spieß­ru­ten­lauf, denn das Rei­sen ohne Doku­men­te birgt die Gefahr, auf­ge­grif­fen und inhaf­tiert zu wer­den. Vor dem nächs­ten PDMM droht das glei­che Sze­na­rio. Die Schwie­rig­keit wird auch in der Sta­tis­tik deut­lich: Wäh­rend 2019 über 200.000 Afghan*innen ohne gül­ti­ge Doku­men­te auf­ge­grif­fen wur­den, wur­den ledig­lich 35.000 Anträ­ge auf Schutz registriert.

Covid-19 verschärft die Situation

2020 hat sich die Pro­ble­ma­tik zuge­spitzt, in vie­len Pro­vin­zen, etwa in Izmir und Konya, wur­de die Regis­trie­rung vor­läu­fig gestoppt. Zusätz­lich ver­schärf­te eine wei­te­re Maß­nah­me zur Bekämp­fung der Pan­de­mie die Situa­ti­on: Zur Nach­ver­fol­gung von Infek­ti­ons­ket­ten wur­de der soge­nann­te HES Code ein­ge­führt. Er ist zwin­gend etwa für die Nut­zung des öffent­li­chen Nah­ver­kehrs oder beim Betre­ten öffent­li­cher Gebäu­de – wie dem PDMM – vor­zu­wei­sen. Für die Aus­stel­lung des Codes wird ein Aus­weis­do­ku­ment benö­tigt. Schutz­su­chen­de ohne Regis­trie­rung und damit ohne Aus­weis brau­chen einen HES Code, um Zugang zum PDMM und damit zur Regis­trie­rung zu erhal­ten. Ohne jedoch einen HES Code zu haben, bleibt der Zugang zum PDMM ver­sperrt. Ein Teu­fels­kreis, der die Igno­ranz der tür­ki­schen Behör­den bezüg­lich Geflüch­te­ter verdeutlicht.

Die, die es schaf­fen sich zu regis­trie­ren, ver­wei­len auf unbe­stimm­te Zeit im Lim­bo der Antrags­stel­lung. 2019 wur­de bei etwa 56.000 Neu­an­trä­gen über knapp 10.500 Anträ­ge ent­schie­den – etwa 5.500 Mal posi­tiv. Wie vie­le Ent­schei­dun­gen auf afgha­ni­scher Antrags­stel­len­de ent­fällt bleibt unbe­kannt, Zah­len zu den Her­kunfts­staa­ten gibt es nicht. Die Anzahl afgha­ni­scher Schutz­su­chen­der mit Schutz­sta­tus dürf­te jedoch äußerst gering sein. Für die Exper­ti­se konn­ten kei­ne Infor­ma­tio­nen über die Situa­ti­on von afgha­ni­schen Flücht­lin­gen mit »beding­tem Schutz« oder »sub­si­diä­ren Schutz« zusam­men­ge­stellt wer­den – schlicht, weil weder die kon­sul­tier­ten Berich­ten, noch die befrag­ten Anwält*innen und NGO-Mitarbeiter*innen dazu hin­rei­chend Aus­kunft geben konn­ten. Sich häu­fen­de Berich­te über die stei­gen­de Zahl an Ableh­nung von afgha­ni­schen Antrags­stel­len­den deu­ten zudem auf eine gefähr­li­che Trend­wen­de hin.

Schutzsuchende sind auf die Bevölkerung und NGOs angewiesen

Staat­li­che Leis­tun­gen sind an einen gül­ti­gen Auf­ent­halts­sta­tus geknüpft und selbst für regis­trier­te afgha­ni­sche Geflüch­te­te schwer zugäng­lich, ein Anspruch besteht nicht. Ähn­lich sieht es im Bereich Woh­nen aus, staat­lich orga­ni­sier­te Unter­brin­gung gibt es nicht. Mit einer Geset­zes­än­de­rung wur­de zudem die kos­ten­lo­se Krank­ver­si­che­rung ein­ge­schränkt und auf das Jahr nach der Regis­trie­rung limi­tiert. Ins­be­son­de­re vor dem Hin­ter­grund der nicht abseh­ba­ren Ver­fah­rens­dau­er ent­steht so eine Versorgungslücke.

Die aus­blei­ben­de staat­li­che Unter­stüt­zung erfor­dert alter­na­ti­ve Über­le­bens­stra­te­gien und Soli­da­ri­täts­netz­wer­ke. Geflüch­te­te sind auf die tür­ki­sche Bevöl­ke­rung ange­wie­sen, die als poten­ti­el­le Vermieter*innen oder Arbeitgeber*innen eine ent­schei­den­de Rol­le ein­neh­men. Die auf­ge­heiz­te Stim­mung und zuneh­mend offe­ner Ras­sis­mus machen das schwer. Häu­fig sind afgha­ni­sche Schutz­su­chen­de gezwun­gen, in Woh­nun­gen in peri­phe­rer Lage unter schlech­ten Bedin­gun­gen zu leben. Noch pro­ble­ma­ti­scher ist die Lage für Per­so­nen ohne Regis­trie­rung. Seit einer Geset­zes­ver­schär­fung 2019 wird die Ver­mie­tung von Wohn­raum an Per­so­nen ohne Doku­men­te sanktioniert.

Der Zugang zum Arbeits­markt – sechs Mona­te nach Regis­trie­rung – soll­te eigent­lich die Abde­ckung des eige­nen Lebens­un­ter­halts ermög­li­chen, jedoch bleibt die Zahl der erteil­ten Arbeits­er­laub­nis­se ver­schwin­dend gering. Laut den letz­ten ver­öf­fent­lich­ten Daten erhiel­ten 2018 nicht ein­mal 1000 Afghan*innen einen Zugang zum for­mel­len Arbeits­markt. Geflüch­te­te sind in den ohne­hin gro­ßen infor­mel­len Sek­tor gedrängt. Regel­mä­ßig wird von Arbeits­un­fäl­len, Unter­be­zah­lung und Aus­beu­tung berich­tet. Die Covid-19 Pan­de­mie geht für Geflüch­te­te in der Tür­kei mit einer Ver­sor­gungs­kri­se ein­her. Absi­che­rung gibt es für sie nicht.

Fluch und Segen: Der große informelle Sektor

Die meis­ten Geflüch­te­ten suchen in den urba­nen Zen­tren der Tür­kei nach Arbeit, hier gel­ten die Chan­cen als bes­ser. Das ist kein unge­fähr­li­ches Unter­fan­gen. Wie geschil­dert besteht für nicht­re­gis­trier­te Geflüch­te­te ohne Rei­se­pa­pie­re stän­dig die Gefahr der Inhaf­tie­rung. Geflüch­te­te mit Regis­trie­rung unter­lie­gen einer Resi­denz­pflicht und dür­fen nur mit ent­spre­chen­der Erlaub­nis die zuge­wie­se­ne Pro­vinz ver­las­sen. Um Arbeit zu fin­den, bre­chen vie­le die­se Resi­denz­pflicht. Bei Kon­trol­len droht ihnen die Inhaftierung.

Die Angst ist ein stän­di­ger Beglei­ter. Etwa wer­den wei­ter­hin Geflüch­te­te in der Tür­kei mit ver­schie­de­nen Codes belegt. Dabei han­delt es sich um eine Kom­bi­na­ti­on aus Buch­sta­ben und Zah­len, die für bestimm­te Ver­mer­ke ste­hen (sie­he AIDA Län­der­be­richt Tür­kei, Sei­te 8): Etwa »Arbei­ten ohne Arbeits­er­laub­nis« oder »Sicher­heits­ver­mer­ke«. Die Lis­te der Codes und ihre Kon­se­quen­zen sind nicht öffent­lich, eben­so wenig ist es für Geflüch­te­te erkenn­bar, ob ein Secu­ri­ty-Code auf sie ange­wandt wur­de oder nicht. Man­che Secu­ri­ty-Codes wer­den nicht sank­tio­niert, bei ande­ren droht der Ent­zug von Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen oder sogar die Abschiebung.

Nach dem geschei­ter­ten Putsch­ver­such im Juli 2016 fand ein mas­si­ver Abbau der demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen in der Tür­kei statt. Meh­re­re Jah­re wur­de im »Not­stand« regiert. 2018 ende­te der »Not­stand«, Tei­le der Not­stands­ver­ord­nun­gen blie­ben aller­dings. Unter ande­rem wur­de das Refoul­ment-Ver­bot außer Kraft gesetzt indem – unab­hän­gig vom Ver­fah­rens­stand – die sofor­ti­ge Abschie­bung von Per­so­nen ermög­licht wur­de, die als »Terrorist*in« oder »öffent­li­ches Sicher­heits­ri­si­ko« ein­ge­stuft wur­den. Zum Hin­ter­grund: Die Tür­kei unter Erdo­gan scheint mehr »Terrorist*in« als unbe­schol­te­ne Bewohner*innen zu haben. Seit Dezem­ber 2019 haben Kla­gen gegen Abschie­bun­gen aus den genann­ten Grün­den die auf­schie­ben­den Wir­kung, die Gefahr der Abschie­bung bleibt jedoch bestehen.

Der Zugang zu Rechts­be­ra­tung, ins­be­son­de­re in den Abschie­be­zen­tren, ist ein­ge­schränkt. Mit der Ver­kür­zung der Wider­spruchs­frist gegen Abschie­bungs­an­ord­nun­gen von 15 Tage auf nur noch 7 Tage wur­de die Situa­ti­on ver­schärft. Zusätz­lich gel­ten Qua­li­tät und Effi­zi­enz der gericht­li­chen Über­prü­fung als mangelhaft.

Blackbox Inhaftierung

Die Behand­lung und die Umstän­de, unter denen Geflüch­te­te in Abschie­be­haft leben müs­sen, sind schlecht. Häu­fig wird die »frei­wil­li­ge« Rück­kehr als ein­zi­ge Opti­on aus der Haft prä­sen­tiert. Anwält*innen und NGO-Mitarbeiter*innen berich­ten, dass afgha­ni­sche Geflüch­te­te in Abschie­be­haft dazu gedrängt wer­den, die Doku­men­te zur Rück­kehr zu unter­schrei­ben. Laut UNHCR, dem eine Über­wa­chungs­funk­ti­on bei der frei­wil­li­gen Aus­rei­se zukommt, fan­den im Zeit­raum Anfang Janu­ar bis Ende August 2020 8.900 frei­wil­li­ge Aus­rei­sen statt. NGOs bezwei­feln, dass die Aus­rei­sen aus der Abschie­be­haft als »frei­wil­lig« anzu­se­hen sind. Auch das Aus­maß bleibt NGOs unklar. NGOs wagen kei­ne Schät­zun­gen und von staat­li­cher Sei­te lie­gen kei­ne Sta­tis­ti­ken vor.

Ähn­lich wie die EU setzt auch die Tür­kei auf ver­stärk­te Koope­ra­ti­on mit Dritt­staa­ten, um Abschie­be­zah­len zu erhö­hen. Ins­be­son­de­re seit 2018 wer­den die Bezie­hun­gen zu Afgha­ni­stan in dem Bereich inten­si­viert. Zwar berich­ten Anwält*innen, das 2020 Abschie­bun­gen auf­grund der Pan­de­mie offi­zi­ell ein­ge­stellt wur­den, jedoch wur­den in den ers­ten sie­ben Mona­ten 2020 6.000 Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan aus der Tür­kei regis­triert. Laut Berich­ten sind beson­ders allein­ste­hen­de afgha­ni­sche Män­ner von Abschie­bun­gen aus Izmir, Van, Gazi­antep, Ada­na und Kay­se­ri betrof­fen gewe­sen. Die afgha­ni­sche NGO AMASO spricht für das Gesamt­jahr 2020 von fast 12.000 afgha­ni­schen Geflüch­te­ten, die aus der Tür­kei in das Bür­ger­kriegs­land abge­scho­ben wurden.