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Die Bundesregierung ignoriert das Leid der Opfer des Türkei-Deals
Die Türkei habe sich als »sehr verlässlicher Partner« erwiesen, vermeldet die Bundesregierung. Sie bewertet den Flüchtlingsdeal mit Erdogan als »klaren Erfolg«. Dabei haben fünf Jahre Deal die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei in eine menschenrechtsfreie Zone verwandelt.
Die Bestandsaufnahme der Bundesregierung ignoriert das Leid der Opfer des Deals in den EU-Hotspots und blendet bewusst den dramatischen Menschen- und Bürgerrechtsabbau in der Türkei aus.
Die Bundesregierung paart diese Schönfärberei mit den üblichen alten Textbausteinen. Ein Dreiklang, der in Europa bei jeder flüchtlingspolitischen Sauerei, genutzt wird: Es sei gelungen, das »tödliche Geschäftsmodell« der Schleuser in der Ägäis wirkungsvoll zu bekämpfen, die Zahl der »illegal Einreisenden nach Griechenland« sei erheblich zurückgegangen, ebenso die Zahl der Todesfälle in der Ägäis.
Der Deal
In dem am 18. März 2016 unterzeichneten EU-Türkei-Deal ging es um die Auslagerung der Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen an die Türkei. Europa entzieht sich damit seinen Verpflichtungen nach internationalem und europäischem Asyl- und Menschenrecht. Es ging nie ernsthaft darum, Schutzsuchenden eine Alternative zu bieten, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Auch gab es nie rechtsstaatliche Asylverfahren im Chaos und Elend der EU-Hotspots in Griechenland.
Beim EU-Türkei Deal ging es nie ernsthaft darum, Schutzsuchenden eine Alternative zu bieten, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Weder die Bundesregierung noch die EU-Kommission haben sich ernsthaft darum geschert, dass die Lebensbedingungen und Asylverfahren in den EU-Hotspots gegen Völkerrecht und EU-Recht verstoßen. Im Gegenteil: In den letzten fünf Jahren wurden nach massivem Druck aus Berlin und Brüssel in Griechenland ganze sechsmal die Asylgesetze verschärft.
In der rechtlichen Analyse »Rule of law captured by a Statement« zeichnen Refugee Support Aegean (RSA) und die Stiftung PRO ASYL die Konstruktion des Deals nach, durch die demokratische Institutionen und rechtliche Kontrolle umgangen wurde. Zum anderen wird die Auswirkung des Deals auf das griechische Asylrecht nachvollzogen, das mit sechs Reformen in fünf Jahren eine beispiellose Umgestaltung erlebte und sich immer weiter in den Dienst der Abschottung stellte.
Kollateralschäden des Deals in Griechenland
Das Elend der Schutzsuchenden in der Ägäis ist umfassend dokumentiert. Manchen Beobachter*innen drängt sich noch die Frage auf, wie mehrere Milliarden EU-Finanzmittel ein solches Elend verursachen können? Die EU-Hotspots in Griechenland sind die teuersten Elendszeltlager der Welt. Über 140.000 Schutzsuchende – Ankünfte auf den Inseln seit dem 20. März 2016 – wurden in diesem zynischen EU-Experiment ihrer Rechte beraubt und physisch und psychisch verletzt.
Die Bestandsaufnahme der Bundesregierung ignoriert das Leid der Opfer des Deals in den EU-Hotspots. Der Laborversuch in Ägäis schuf eine permanente humanitäre Krise, Freiluftgefängnisse auf den Inseln und destabilisierte die Gesellschaft dort nachhaltig. Der Deal befeuert Rassismus und gefährdet Schutzsuchende zusätzlich.
Deal mit Erdogan um jeden Preis
Die Bundesregierung blendet bewusst den dramatischen Menschen- und Bürgerrechtsabbau in der Türkei aus.
Zur Erinnerung: Nur vier Monate nach Implementierung des Flüchtlingsdeals am 20. März 2016 setzte in der Türkei nach dem Putschversuch Mitte Juli 2016 eine massive Repressionswelle ein. Diese hält bis heute an. Das gesamte Staatsystem wurde umgekrempelt, etwa eine halbe Millionen Ermittlungsverfahren eingeleitet, zehntausende von Erdogan ausgemachte »Staatsfeinde« wurden inhaftiert, darunter Menschenrechtsanwält*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen. Zahllose Oppositionelle aus der Türkei flohen nach Europa – über 35.000 von ihnen allein nach Deutschland. Darüber hinaus hat das Erdogan-Regime mit seinen völkerrechtswidrigen Angriffen in Nordsyrien und anderswo immenses Leid und neue Vertreibungen produziert.
Um den Flüchtlingsdeal mit der Türkei um jeden Preis am Leben zu halten, gewährte Brüssel und Berlin dem autoritären Präsidenten vor allem eins: freie Hand.
Um den Flüchtlingsdeal mit der Türkei um jeden Preis am Leben zu halten, gewährte Brüssel und Berlin dem autoritären Präsidenten vor allem eins: freie Hand.
Ausdruck dieser Haltung ist die weitgehende Untätigkeit der EU gegenüber den Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land oder dem Krieg im türkischen Teil Kurdistans. Die Zerstörung der letzten Reste des Rechtsstaats in der Türkei hat zwangsläufig auch massive Folgen für Schutzsuchende dort. Die Türkei ist kein sicheres Drittland für Flüchtlinge und kein sicheres Herkunftsland.
Die EU-Hilfsmittel und die völkerrechtswidrigen Wünsche Erdogans
Es ist unstrittig, dass die EU-Unterstützung für 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei notwendig ist. Die Unterstützung muss weiter gehen und deutlich erhöht werden. Dieser Ansatz gilt im Übrigen für alle Hauptaufnahmeländer von Schutzsuchenden und darf nicht gekoppelt sein mit »Deals« zur Fluchtverhinderung.
Aber alle Finanzleistungen im Flüchtlingsbereich in der Türkei dürfen nur mit den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen und Überwachungsmaßnahmen geschehen. Es muss sichergestellt sein, dass keine EU-Mittel türkischen Regierungsstellen oder Institutionen zugutekommen, die in Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen verwickelt sind.
Dazu gehört auch ein klares Nein zu den Vorstellungen des Erdogan-Regimes, EU-Finanzmittel in den türkisch besetzten Gebieten in Nord-Syrien einzusetzen, um Flüchtlinge aus der Türkei dort zwangsanzusiedeln.
Push-Backs: die Fortsetzung des Deals mit anderen Mitteln
Als der »verlässliche Partner« Türkei im März 2020 den Deal aufkündigte, indem die Grenze nach Griechenland für »offen« erklärte wurde, verlor Erdogan zum ersten Mal das zynische wechselseitige Erpressungsmanöver – auf dem Rücken zehntausender leidtragender Flüchtlinge.
Griechenland und die EU geben eine eindeutige und brutale Antwort: Der Schutz der Grenze ist wichtiger als der Schutz der Menschenrechte. Zeitweise Aussetzung des Asylrechts in Griechenland, tödliche Schüsse an der Grenze, illegale Push-Backs – von den EU-Spitzen erhält die griechische Regierung Applaus und die politische und logistische Unterstützung für die Verletzung von Europarecht und elementaren Menschenrechten.
Die griechische Küstenwache in der Ägäis führt brutale Push-Backs unter den Augen und mit Beteiligung der EU-Grenzagentur Frontex in bisher unbekannter Systematik durch. Heute gibt es auch Push-Backs von den Inseln, wie sie bisher aus der Region Evros bekannt waren. Ankommende Flüchtlinge müssen sich verstecken, weil sie befürchten müssen, gewaltsam und illegal zurückgeschafft zu werden.
2021 lässt sich nur bitter feststellen: die Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei ist eine menschenrechtsfreie Zone. Mission accomplished.
Seit April 2020 sind lediglich 2.675 Bootsflüchtlinge (Stand 16. März 2021) über die Ägäis nach Griechenland eingereist und registriert worden. In der Evros-Region wird ein neuer, 63 Millionen Euro teurer, Zaun gebaut. Push-Backs durch die griechische Grenzpolizei haben dazu geführt, dass seit April 2020 lediglich 4.326 Schutzsuchende (Stand 16. März 2021) die Grenze überquert haben und registriert wurden. Die gesunkenen Ankunftszahlen verkauft auch die griechische Regierung als Erfolg.
Victor Orban und Sebastian Kurz – die größten Kritiker des Deals mit Erdogan – haben immer gefordert, dass Europa an der Grenze härter sein soll. Europa müsse bereit sein, selbst »die hässlichen Bilder« zu produzieren. 2021 lässt sich nur bitter feststellen: die Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei ist eine menschenrechtsfreie Zone. Mission accomplished.