28.06.2022
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Soldaten der Bundeswehr, die während der Rückverlegung zum Ende des Afghanistan- einsatz in ein Transportflugzeug steigen. Foto: picture alliance / dpa/ Bundeswehr | Torsten Kraatz

Vor einem Jahr, am 29. Juni 2021, wurden die letzten Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan ausgeflogen – nicht aber all die Menschen, die zuvor mit der Bundeswehr zusammengearbeitet hatten. Sie leben bis heute in Angst und Schrecken. PRO ASYL hatte schon Monate zuvor deren Ausreise gefordert – und wirft den Bundesregierungen Versagen vor.

Bis heu­te har­ren noch immer Tau­sen­de ehe­ma­li­ge Orts­kräf­te in Afgha­ni­stan aus, leben in Angst, ver­ste­cken sich vor Fol­ter und Mor­den der Tali­ban. Für Tau­sen­de Men­schen hät­te das ver­hin­dert wer­den kön­nen, wenn die  Ver­ant­wort­li­chen auf die frü­hen War­nun­gen und Vor­schlä­ge von Men­sch­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen wie  PRO ASYL gehört hät­ten. Die alte Bun­des­re­gie­rung hat damals ver­sagt, ­ und auch die neue tut bis heu­te viel zu wenig, um alle Men­schen, die in Afgha­ni­stan für deut­sche Stel­len gear­bei­tet haben, end­lich in Sicher­heit zu bringen.

Taliban misshandeln ehemalige Ortskräfte 

Mit die­sem Ver­hal­ten bringt die Bun­des­re­gie­rung Men­schen in Lebens­ge­fahr. Vom Lei­den zwei­er Men­schen, die für ein Poli­zei­pro­jekt der Gesell­schaft für Inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit (GIZ) gear­bei­tet haben und den­noch kei­ne Auf­nah­me­zu­sa­ge erhal­ten haben, berich­tet  Rechts­an­walt Mat­thi­as Leh­nert im Inter­view mit PRO ASYL. »Ich ver­tre­te zum Bei­spiel eine Per­son, des­sen Fami­lie bereits kurz vor der Macht­über­nah­me durch die Tali­ban im Juli zuhau­se über­fal­len und miss­han­delt wor­den war. Spä­ter haben sie mei­nen Man­da­ten acht Stun­den lang an einen Baum auf­ge­hängt und ihm meh­re­re Kno­chen gebro­chen. Sie sag­ten zu ihm, er habe gesün­digt, weil er mit den Deut­schen zusam­men­ge­ar­bei­tet hat.

Ein ande­rer Man­dant von mir hat mehr­fach Droh­brie­fe von den Tali­ban erhal­ten und sie haben sein Haus ver­wüs­tet auf der Suche nach Infor­ma­tio­nen über die GIZ. Bei einem die­ser »Besu­che« war er nicht zuhau­se – aber sein Bru­der wur­de ermor­det, weil er nicht preis­ge­ben woll­te, wo der »Kol­la­bo­ra­teur mit den Deut­schen« sich auf­hält.« Das sind nur zwei Bei­spie­le von viel zu vie­len Frau­en und Män­nern, die ver­folgt werden.

Regierung muss Ortskräfte-Definition erweitern!

Dabei woll­te die Ampel­ko­ali­ti­on es anders machen als die Gro­ße Koali­ti­on. Im Koali­ti­ons­ver­trag (Sei­te 113)  steht: »Wir wer­den unse­re Ver­bün­de­ten nicht zurück­las­sen. … Des­we­gen wer­den wir das Orts­kräf­te­ver­fah­ren so refor­mie­ren, dass gefähr­de­te Orts­kräf­te und ihre engs­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen durch unbü­ro­kra­ti­sche Ver­fah­ren in Sicher­heit kommen.«

Doch davon ist noch nichts zu spü­ren. Eine Reform der Defi­ni­ti­on, wer als Orts­kraft gilt, und die drin­gend not­wen­di­ge Aus­wei­tung auch auf Subunternehmer*innen, die bei­spiels­wei­se bei der deut­schen GIZ tätig waren, wur­den noch nicht mal im Ansatz ange­gan­gen. Das Gegen­teil geschieht: Das Aus­wär­ti­ge Amt holt zwar nach und nach Orts­kräf­te aus Afgha­ni­stan. Doch eine Erwei­te­rung der Defi­ni­ti­on, wer eine Orts­kraft ist, scheint nicht geplant zu sein, wie aus Aus­sa­gen von Außen­mi­nis­te­rin Anna­le­na Baer­bock am 23. Juni zur Halb­jah­res­bi­lanz ihres »Akti­ons­plans Afgha­ni­stan« her­vor­geht. Dem­nach geht es nur um »beson­de­re Här­te­fäl­le«, die viel­leicht noch mit auf die Lis­te kom­men, nicht aber um eine grund­sätz­li­che Erweiterung.

Ortskräfte klagen gegen die Bundesregierung

Über­haupt fin­det sich fast nichts zu Orts­kräf­ten in der Halb­jah­res­bi­lanz der Außen­mi­nis­te­rin. Dort steht: »Rund 21.000 Men­schen sind nach Deutsch­land ein­ge­reist. Das sind rund zwei Drit­tel der Afghan*innen mit einer Auf­nah­me­zu­sa­ge aus Afgha­ni­stan. Dabei han­delt es sich um Orts­kräf­te und Afghan*innen der sog. »Men­schen­rechts­lis­te« und deren engs­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen. Von den Orts­kräf­ten konn­ten bereits rund drei Vier­tel einreisen.«

Nach Ein­schät­zung von PRO ASYL und ande­ren Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen müs­sen jedoch Tau­sen­de von Men­schen mehr zu den Orts­kräf­ten gerech­net wer­den. Denn sie alle sind in gro­ßer Gefahr, müs­sen sich im eige­nen Land ver­ste­cken, weil die Tali­ban sie wegen ihrer Arbeit für  west­li­che Mäch­te als Ver­rä­ter betrach­ten und des­halb ver­fol­gen. Dazu zäh­len unter ande­rem allein die rund 3.000 frü­he­ren Mit­ar­bei­ter des oben erwähn­ten GIZ-Poli­zei­pro­jekts (PCP), die im Febru­ar 2022 beim Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin Untä­tig­keits­kla­gen gegen die Bun­des­re­gie­rung ein­ge­reicht haben mit der For­de­rung, Visa für Deutsch­land zu bekommen.

Chronik des Versagens

Sie und vie­le Tau­sen­de Orts­kräf­te mehr hät­ten schon vor oder zumin­dest mit dem Abzug der Bun­des­wehr in Sicher­heit gebracht wer­den kön­nen. Doch die Chro­nik des Ver­sa­gens begann schon weit vor dem 29. Juni 2021. Mona­te­lang war bekannt, dass die deut­schen und alle ande­ren west­li­chen Trup­pen abzie­hen woll­ten. Und seit Jah­ren war bekannt, dass Men­schen, die mit west­li­chen Trup­pen, Insti­tu­tio­nen, Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen und ande­ren west­li­chen Büros zusam­men­ge­ar­bei­tet haben, in den Augen der Tali­ban als Ver­rä­ter gel­ten und ver­folgt werden.

Bereits im April 2021 hat­te PRO ASYL des­halb einen Vor­schlag für ein Pro­gramm zur Auf­nah­me afgha­ni­scher Orts­kräf­te an die zustän­di­gen deut­schen Minis­te­ri­en geschickt: das Aus­wär­ti­ge Amt, das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um, das Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um und an das Bun­des­ent­wick­lungs­mi­nis­te­ri­um. Zu dem Pro­gramm gehör­te: die Bun­des­re­gie­rung bie­tet den Orts­kräf­ten die Auf­nah­me an; alle gefähr­de­ten Fami­li­en­mit­glie­der wer­den auf­ge­nom­men, nicht nur die Kern­fa­mi­lie; eine Plau­si­bi­li­täts­prü­fung anstel­le einer Gefähr­dungs­prü­fung durch die Sicher­heits­diens­te; sofor­ti­ge Aus­rei­se mit Visa­er­tei­lung bei der Ankunft; die Orts­kräf­te-Defi­ni­ti­on wird erwei­tert auf afgha­ni­sche Mitarbeiter*innen von Durch­füh­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen der BMZ wie der GIZ, poli­ti­sche Stif­tun­gen und ande­re Orga­ni­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen. Doch nichts geschah. Und so sind die­se Vor­schlä­ge zur sofor­ti­gen Auf­nah­me von Orts­kräf­ten  noch immer aktuell.

Viel Arbeit für den Untersuchungsausschuss 

Und am 24. Juni 2021, fünf Tage vor dem end­gül­ti­gen Abzug, warn­te PRO ASYL erneut: »Jetzt sind Schnel­lig­keit und unbü­ro­kra­ti­sche Ver­fah­ren gefragt – es kommt auf jeden ein­zel­nen Tag an.« Doch auch die­se War­nung blieb ohne Reak­ti­on. Statt Orts­kräf­te und ihre Fami­li­en aus­zu­flie­gen, setz­te die  Bun­des­wehr ande­re Prio­ri­tä­ten, so dass PRO ASYL am Tag, nach­dem die deut­schen Sol­da­ten das Land ver­las­sen hat­ten, erklär­te: »Es ist mehr als irri­tie­rend, dass die Bun­des­wehr rund 22.000 Liter Bier, Wein und Sekt aus­ge­flo­gen hat, aber vie­le Men­schen, die für Deutsch­land gear­bei­tet haben, zurück­ge­las­sen wer­den. « Und am  9. August, als die end­gül­ti­ge Macht­über­nah­me der Tali­ban  nicht mehr zu ver­hin­dern schien, for­der­te PRO ASYL eine Luft­brü­cke für gefähr­de­te Personen.

Doch alle War­nun­gen, Vor­schlä­ge, Bit­ten und For­de­run­gen ver­hall­ten unge­hört, die  Chro­nik des Ver­sa­gens wur­de fort­ge­schrie­ben – bis heu­te. Wie­so? Über­for­de­rung oder poli­ti­scher Wil­le? Das muss auch ein The­ma für den par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­aus­schuss sein, der im Herbst sei­ne Arbeit auf­neh­men will.

(wr)