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Hastiger Abzug nach 20 Jahren NATO-Einsatz in Afghanistan: Von Sicherheit keine Spur
Deutsche Sicherheitskräfte sowie Mitarbeitende von Stiftungen werden derzeit aus Afghanistan ausgeflogen und Evakuierungspläne für deutsche Staatsangehörige entwickelt. Doch Lösungen für Ortskräfte und die vielen afghanischen Geflüchteten fehlen.
Zwei Jahrzehnte nach Beginn des NATO-Einsatzes in Afghanistan und kurz vor dessen Ende sind die »westlichen Verbündeten « von ihren ursprünglichen Zielen weit entfernt: Weder wurden die Taliban besiegt, noch eine politische Stabilisierung erreicht. Nachdem die US-amerikanischen Truppen früher als zunächst vereinbart das Land bereits zum 4. Juli 2021 verlassen möchten, wurde die Rückkehr der deutschen Einsatzkräfte nun ebenfalls hektisch veranlasst. Schon zum 1. Mai begann der Abzug der Bundeswehr. Die schonungslose Bilanz des knapp zwanzig Jahre währenden NATO-Einsatzes lautet: Das westliche Verteidigungsbündnis hinterlässt in Afghanistan nicht Frieden und Stabilität – sondern Chaos. Europäische und amerikanische Staatsbürger werden schnellstmöglich in Sicherheit gebracht. Was jedoch aus den Afghan*innen wird, scheint unwichtig.
Die aktuellen politischen Ereignisse werfen ein neues Licht auf den Vorwurf, der schon länger im Raum steht: Dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Schutzquoten von Afghan*innen aus politischen Gründen künstlich gering hält. Ein zu hoher Anteil an Anerkennungen hätte dem NATO-Einsatz den Erfolg abgesprochen und damit die jahrelange Beteiligung deutscher Einsatzkräfte in Frage gestellt. Dieses Handeln entgegen aller Fakten wird nun mit dem überstürzten Truppenabzug endgültig ad absurdum geführt. Es ist Zeit, endlich auch die Abschiebungen nach Kabul zu beenden!
Es ist Zeit, endlich auch die Abschiebungen nach Kabul zu beenden!
Entgegen aller Fakten: Deutschland schiebt weiter ab
Die für den 04.05.2021 vorgesehene Sammelabschiebung nach Afghanistan wurde kurzfristig verschoben. Laut einer Sprecherin des Bundesinnenministeriums könne der ursprünglich angesetzte Abschiebeflug nicht stattfinden, da die afghanischen Behörden zwischen dem 1. und 6. Mai die Notwendigkeit verstärkter Sicherheitsmaßnahmen sehen würden. Anstatt jedoch adäquat mit einer Absage des Fluges zu reagieren und die gefährliche Sicherheitslage endlich anzuerkennen, sprechen die Verantwortlichen lediglich von einer Verschiebung des Termins.
An der bisherigen Abschiebungspraxis hält das BMI weiter fest. Es wäre der 39. Flug seit Wiederaufnahme der Sammelabschiebungen im Dezember 2016 gewesen. Das Datum markiert einen Tabubruch, gegen den PRO ASYL seither jeden Monat protestierte. Denn Afghanistan ist seit 2016 keinen Deut sicherer geworden, wie zahlreiche Anschläge mit Toten und Verletzten zeigten. Dennoch wurden in den letzten vier Jahren insgesamt 1035 afghanische Männer in das Bürgerkriegsland rückgeführt.
Zwischen April und November 2020 wurden die Rückführungen pandemiebedingt ausgesetzt. Nach der Wiederaufnahme der Abschiebungen im Dezember 2020 wuchs die Kritik an dieser Praxis. Grund hierfür war eine positive Rechtsprechung, allen voran des VGH Baden-Württemberg, der urteilte, auch junge, gesunde Männer ohne familiäres Netzwerk dürften nicht abgeschoben werden (PRO ASYL berichtete). Die Urteile wurden mit der katastrophalen wirtschaftlichen Verschlechterung als indirekte Konsequenz der Pandemie begründet. Neben der anhaltenden wirtschaftlichen Rezession drängt sich nun mit beginnendem Truppenabzug die Neubewertung der Sicherheitslage auf.
Zugespielter Geheimbericht zeigt: Bundesregierung rechnet mit dem Schlimmsten
Dabei ist ein Schönreden der Situation nicht mehr möglich: Laut Informationen des Spiegel hielt eine Delegation des Außen- und Verteidigungsministeriums die Ergebnisse einer viertägigen Lagebesprechung in Kabul in einem 20-seitigen Geheimbericht fest. Ziel des Berichts war es, verschiedene Krisenszenarien mit Notfall- und Evakuierungsplänen für deutsche Staatsbürger zu entwickeln. Dabei seien auch absolute »Worst-Case-Szenarien, wie zum Beispiel ein Bürgerkrieg mit Sturm auf Kabul [durch die Taliban] […] nicht völlig auszuschließen«. Ebenso enthalten sei eine Information, dass Frankreich besonders gefährliche Szenarien für wahrscheinlich hält und bereits jetzt erwägt, die eigene Botschaft zu schließen. Es ist einer der eklatanten Widersprüche der deutschen Afghanistan-Politik, dass trotz dieser alarmierenden Warnungen nach wie vor Abschiebeflieger mit dem Ziel Afghanistan starten sollen.
»Worst-Case-Szenarien, wie zum Beispiel ein Bürgerkrieg mit Sturm auf Kabul [durch die Taliban sind] […] nicht völlig auszuschließen.«
Dass ein Ende des Krieges der unwahrscheinlichste Ausgang des derzeitigen überhasteten Truppenabzugs ist, bestätigen auch Expert*innen des Afghanistan Analyst Networks. Sie sprechen von einem hohen Gefährdungspotential für die afghanische Zivilbevölkerung. US-Außenminister Antony Blinken äußerte gegenüber CNN ebenfalls die Befürchtung, das Land könne in einem Bürgerkrieg versinken und die erneute Machtübernahme durch die Taliban drohen.
Schon jetzt ist die Sicherheitslage fatal: Angaben des afghanischen Nachrichtendienst Tolonews zufolge wurden Anfang Mai innerhalb von nur 24 Stunden 141 Angriffe durch die Taliban gezählt – demnach geht das afghanische Verteidigungsministerium von 100 Opfern aus. In den ersten drei Monaten 2021 wurden mehr als 570 Zivilisten getötet und 1210 verwundet. Das sind fast 30 Prozent mehr als ein Jahr zuvor Dabei stieg insbesondere die Zahl der verletzten oder getöteten Frauen und Kinder an, wie die UN-Mission UNAMA belegt. Wiederholt wurde Afghanistan zum gefährlichsten Land der Welt erklärt. Anschläge und gezielte Attentate gehören in Afghanistan längst zum traurigen Alltag.
Eine Bilanz aus Sicht der Geflüchteten
Expert*innen und Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL weisen seit Jahren auf die immer gefährlichere Sicherheitslage im Land hin, stoßen dabei aber auf politisch taube Ohren. Denn trotz kontinuierlich verschlechternder Sicherheitslage standen die Maßnahmen der Bundespolitik im krassen Gegensatz zu den Fakten: Die Quote der aufgehobenen Afghanistan-Bescheide durch Gerichte ist seit Jahren hoch. Im Jahr 2020 haben 60 % der afghanischen Asylsuchenden vor Gericht nachträglich einen Schutzstatus erhalten (2017: ca. 61 %, 2018: 58%, 2019: 48%).
In den letzten Jahren lag es also an den Gerichten, massenhaft fehlerhafte BAMF Bescheide zu korrigieren. Doch das war nicht immer so: Bis 2016 bekamen viele Afghan*innen einen Schutzstatus erteilt. Dann kam es bei den Schutzquoten zu einem Einbruch, obwohl sich an der objektiven Lage afghanischer Geflüchteter nichts geändert hat. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass dies auf politische Vorgaben zurückzuführen ist.
Seit dem Politikwechsel durch den ehemaligen Innenminister de Maizière, der bereits im Oktober 2015 eine »andere Entscheidungspraxis« angekündigt hat, ist ein Einbruch der Schutzanerkennungen für Afghan*innen durch das BAMF festzustellen. Neu aufgebracht wurde in dieser Zeit auch das Argument, dass es sichere Landesteile in Afghanistan und damit sichere Fluchtalternativen im Inland gäbe – und das trotz zahlreicher Quellen, die das Gegenteil bestätigen. Dass dieser Kurswechsel wohlmöglich vielmehr an den gestiegenen Asylantragsstellungen von Afghan*innen im Sommer der Migration liegt, lässt dieses Zitat von de Maizière vom November 2015 vermuten: »Unsere (…) Sorge ist im Moment in Europa die große Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan. Wir wollen, dass in Afghanistan das Signal ankommt: ›Bleibt dort! Wir führen euch aus Europa (…) direkt nach Afghanistan zurück!‹«
»Wir wollen, dass in Afghanistan das Signal ankommt: ›Bleibt dort! Wir führen euch aus Europa […] direkt nach Afghanistan zurück!‹«
Doch auch mit seinem Nachfolger Horst Seehofer als Bundesinnenminister wird das BMI seit Jahren von einem Politiker geführt, der bislang in der bayerischen Staatsregierung für den härtesten Abschiebungskurs gegenüber Afghanen im bundesweiten Vergleich stand. Besonders deutlich wurde dies im Juli 2018, als sich Horst Seehofer belustigt darüber zeigte, dass just an seinem 69. Geburtstag 69 Menschen – 51 davon alleine aus Bayern – nach Kabul abgeschoben wurden.
Politisch motivierte Asylablehnungen
Mittlerweile hat sich die bereinigte Schutzqoute zwar wieder auf einem höheren Niveau eingependelt (siehe Grafik), jedoch sollte man auch hier genauer hinsehen: Auf den ersten Blick ist die Schutzquote seit 2018 wieder gestiegen. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass ein Großteil dieser Anerkennungen auf in Deutschland geborene Kinder oder Ehepartner*innen fällt, die ihren Schutzstatus von bereits geschützten Familienangehörigen ableiten können. Afghan*innen ohne solche familiären Bindungen, die neu nach Deutschland kommen, erhalten oftmals nur noch ein nationales Abschiebungsverbot oder werden abgelehnt (abgeleiteter Schutz anteilig bei Zuerkennung von internationalen Schutz bei Afghan*innen: 2018: 45%, 2019: 72%, 2020: 69 %).
Dieser Einbruch der Schutzanerkennungen ab 2015 sollte außerdem qualitativ betrachtet werden Über die Jahre hinweg haben afghanische Geflüchtete in Deutschland einen immer schlechteren Schutzstatus erhalten. (siehe Grafik). Erhielten im Jahr 2015 knapp 47 Prozent von ihnen den vollen Flüchtlingsschutz, sank diese Quote kontinuierlich. Gleichzeitig stieg die Zahl derjenigen, die abgelehnt wurden. Diese Entwicklung stand in augenfälligem Widerspruch zur Entwicklung im Land selbst: Die Taliban hatten 2017 einer BBC-Studie zufolge bereits in bis zu 70 % des Landes teilweise erheblichen Einfluss. Die Zahl der zivilen Opfer belief sich auf Rekordniveau.
All das lässt die Schlussfolgerung zu, dass Entscheidungen der Bundesbehörden über die Zuerkennung eines Schutzstatus oder einer Ablehnung im Falle von Afghan*innen nicht auf der tatsächlichen Faktenlage getroffen wurden – sondern politisch motiviert waren und sind.
Die Bundesregierung und die Bundesländer müssen einen sofortigen und ausnahmslosen Abschiebestopp nach Afghanistan erlassen.
Ein weiteres Leugnen der Sicherheitslage ist nach den aktuellen, eindringlichen Warnungen aus militärischen und politischen Kreisen nicht mehr länger möglich. PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte fordern deswegen:
- Die Bundesregierung und die Bundesländer müssen einen sofortigen und ausnahmslosen Abschiebestopp nach Afghanistan erlassen.
- Das Auswärtige Amt muss die Lage und Verfolgungssituation umgehend neu bewerten
- Mit dem Truppenabzug muss allen afghanischen Ortskräften – Dolmetscher:innen, Fahrer:innen und sonstigen Mitarbeitenden der Bundeswehr, der Bundespolizei und anderer Organisationen – mit ihren Familienangehörigen schnell und unbürokratisch die Aufnahme im Bundesgebiet angeboten werden.
- Die Bundesregierung muss jetzt den Familiennachzug aus Afghanistan zu ihren in Deutschland lebenden Angehörigen mit allen Mitteln beschleunigen und unterstützen.
- Das BAMF muss seine Widerrufspraxis ändern.
- Ein gesichertes Bleiberecht muss es auch für jene Afghanen geben, die nur mit einer Duldung in Deutschland leben oder sich seit Jahren im Asylverfahren befinden.
(tl)