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Aus guten Gründen: Immer wieder stoppen Gerichte Abschiebungen nach Afghanistan
Trotz Pandemie und Lockdown-Beginn startete am 16. Dezember der erste Sammelabschiebungsflug nach Kabul seit März 2020. Kurz vor Abflug stoppten Gerichte in Baden-Württemberg in zwei Fällen die Abschiebung. Doch nur wenige Betroffene haben das Glück, dank Unterstützer*innen und Rechtsbeistand einen Stopp der Abschiebung erwirken zu können.
Der Sammelcharter startete just an dem Tag, an dem ganz Deutschland in einen strengen Lockdown ging und sich die Zahlen der Neuinfektionen auf Rekordniveau befanden. Abflugort war Leipzig/Halle in Sachsen, einem Bundesland, das den eklatantesten Anstieg an Neuinfektionen zu verzeichnen hat. Der bis dahin letzte Flug nach Afghanistan fand am 11. März 2020 statt, ein für den 16. November 2020 angesetzter Flug wurde pandemiebedingt kurzfristig von der afghanischen Seite abgesagt.
Selbst die Gewerkschaft der Polizei fordert mittlerweile für das Land einen Abschiebungsstopp u.a. weil die sicherheitspolitische Lage bedenklich ist. Doch während Deutschland in Zeiten von COVID-19 viele Mittel zur Virusbekämpfung hat, ist die Situation in Afghanistan längst außer Kontrolle geraten. Dennoch sollen künftig wieder im Monatstakt Abschiebungen nach Kabul stattfinden. Trotz Verlängerung des Lockdowns hierzulande bis Ende Januar ist für die kommende Woche bereits der nächste Sammelcharter angesagt, laut Flüchtlingsrat Bayern für den 12. Januar 2021.
Es hängt vom Zufall ab, ob Betroffene einen Zugang zu Rechtsbeistand haben, um sich gegen eine Abschiebung in das Kriegsland wehren zu können.
Es hängt vom Zufall ab, ob Betroffene einen Zugang zu Rechtsbeistand haben, um sich gegen eine Abschiebung in das Kriegsland wehren zu können. Immer mehr Gerichte verhängen dann in letzter Minute Abschiebungsstopps – angesichts der katastrophalen Lage in Afghanistan eine Entscheidung über Leib und Leben.
Auch Kranke und Nicht-Straftäter abgeschoben
An Bord des Fluges am 16. Dezember 2020 waren insgesamt 30 Männer, davon 27 mit Vorstrafen und ein sogenannter Gefährder. Zwei der betroffenen Personen waren allerdings weder Straftäter, Gefährder noch sogenannte »Identitätstäuscher«; bislang ist nicht bekannt, welches Bundesland für sie zuständig war.
Wie der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig in seinem Blog dokumentiert, schreckten die Behörden nicht davor zurück u.a. eine Person auf Krücken und mit gelähmten Bein oder trotz Drogenentwöhnungstherapie abzuschieben. Öffentlich gemacht wurde auch der Fall eines traumatisierten jungen Mannes aus Berlin. Mit zwölf Personen kamen wie schon zu vorher häufig die meisten Abgeschobenen aus Bayern. Im Vergleich zu früheren Abschiebungen beteiligte sich jedoch eine erschreckend hohe Zahl von 13 Bundesländern – trotz Pandemie und trotz der eskalierenden Sicherheitslage. Droht hier eine Verschärfung der Abschiebungspraxis inmitten einer Pandemie?
Farhad K.* entkommt der Abschiebung nur knapp
Eigentlich war Farhad K.* auch zunächst für den Flug im November und nach dessen Absage für den Dezembercharter vorgesehen. Seit November saß er deswegen im baden-württembergischen Pforzheim in Abschiebungshaft, wurde aber am Tag der Abschiebung auf einstweilige Anordnung des Gerichts freigelassen. Das Verwaltungsgericht (VG) Stuttgart berücksichtigt in seiner Entscheidung aktuelle pandemiebedingte Verschlechterungen der Lebensverhältnisse in Afghanistan. Unterstützt wurde der Betroffene unter anderem vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, der Einzelfallberatung und dem Rechtshilfefonds von PRO ASYL.
Nach dem erfolglosen Abschiebungsversuch von Dezember konnte Farhad K. Anfang Januar bereits eine neue Arbeitsstelle beginnen.
In diesem Fall wurde außerdem die Mär vom »gefährlichen Straftäter« widerlegt – der junge Mann wurde nach Jugendstrafrecht zu einem Dauerarrest verurteilt, welchen er auch 2018 verbüßte. Ein Dauerarrest ist zwar ein sogenanntes Zuchtmittel, stellt jedoch keine Jugendstrafe dar. Das Stigma als Straftäter hatte Farhad K. fortan trotzdem; sie führte fast zu seiner Abschiebung.
Abschiebung verhindert, jetzt neue Arbeitsstelle
Außerdem hatte sich sein Leben seither stabilisiert: Seine deutsche Verlobte und er erwarten ein Kind, beide kämpften für ein gemeinsames Leben in Deutschland. Und nachdem er kürzlich die Beschäftigungserlaubnis der zuständigen Ausländerbehörde erhalten hatte, lag ihm schon ein konkretes Arbeitsangebot vor. Nach dem erfolglosen Abschiebungsversuch von Dezember konnte Farhad K. Anfang Januar bereits eine neue Arbeitsstelle beginnen.
Doch nicht nur er, auch ein anderer Mann aus Baden-Württemberg musste dank eines weiteren Beschlusses des VG Sigmaringen nicht mitfliegen. Ähnlich wie schon bei Farhad K. waren die verschlechterte Situation aufgrund des Corona-Virus in Afghanistan und der Wegfall eines unterstützenden familiären Netzwerks ausschlaggebend für die Entscheidung des Gerichts. Beide Fälle reihen sich in eine Reihe vieler anderer gerichtlicher Entscheidungen über gestoppte Abschiebungen nach Afghanistan.
Abschiebungsverbote für junge, gesunde Männer ohne familiäres Netzwerk
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geht grundsätzlich davon aus, dass junge, gesunde und arbeitsfähige Männer alleine in der Lage seien, in Afghanistan ihre Existenz zu sichern. Bislang folgten die Gerichte diesem Grundsatz oft. Aufgrund der Corona-Pandemie hat sich aus Sicht zahlreicher Verwaltungsgerichte die humanitäre Lage in Afghanistan aber derart verschlechtert, dass nunmehr auch bei dieser Personengruppe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen ist. Gegen einige Urteile legte das BAMF Anträge auf Zulassung der Berufung ein, sodass in vielen Fällen obergerichtliche Entscheidungen ausstehen.
Aufgrund der Corona-Pandemie hat sich aus Sicht zahlreicher Verwaltungsgerichte die humanitäre Lage in Afghanistan aber derart verschlechtert, dass nunmehr auch bei dieser Personengruppe ein Abschiebungsverbot anzunehmen ist.
Höhere Instanzen entscheiden gegen das BAMF
Besonders abstrus ist, dass nur einen Tag vor der Abschiebung im Dezember, am 15. Dezember 2020, der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg über Abschiebungsverbote für Afghan*innen verhandelte. Das hielt die Behörden jedoch nicht davon ab, Afghanen für den Flug anzumelden.
Mit Urteil vom 17.12.2020 bestätigt nun der VGH Baden-Württemberg die positiven Entscheidungen der Verwaltungsgerichte und entzieht der Entscheidungspraxis des BAMF die rechtliche Grundlage (VGH Baden Württemberg, Presseerklärung vom 03.02.2021)
Bereits am 24.11.2020 traf das Oberverwaltungsgericht Bremen ebenso die Entscheidung, Abschiebungsverbote zu gewähren (OVG Bremen, U. v. 24.11.2020 – 1 LB 351/20‑, juris). Weitere obergerichtliche Rechtsprechung in anderen Bundesländern könnte folgen. Diese Entscheidungen ebnen den Weg für Wiederaufgreifensanträge (siehe hierzu »Isolierter Wiederaufgreifensantrag« in Arbeitshilfe, ab S.71) von afghanischen Antragstellern, die zuvor eine Ablehnung erhalten haben.
Katastrophale Lebensbedingungen bei Rückkehr
Das Urteil des VGH Baden-Württemberg wurde u.a. auf Grundlage eines Gutachtens von Eva-Catharina Schwörer zur Gesundheitsversorgung, Wohnungsmarkt, Lebensumständen, wirtschaftlicher Lage und aktueller sicherheitspolitischem Kontext getroffen. Die Gutachterin kommt zu dem Ergebnis, dass das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, in Afghanistan sehr hoch ist und das wenig belastbare Gesundheitssystem an seine Grenzen gebracht wird.
Pandemie verschärft die Situation in Afghanistan
Verheerend sind auch die indirekten Folgen der Pandemie. Der finanzielle Druck hat sich für Afghan*innen extrem erhöht. So sind die Lebensmittelpreise gegenüber dem Vorkrisenniveau um 30% gestiegen. 16,9 Millionen Afghan*innen – etwa die Hälfte der Bevölkerung – wären ohne kostenlose Lebensmittel der UN vom Hungertod bedroht. Gleichzeitig stieg jedoch die Arbeitslosigkeit an, da Einnahmequellen im formellen und informellen Bereich pandemiebedingt einbrachen.
»Für abgeschobene Afghanen aus Europa war es bereits vor COVID-19 ohne finanzielle Hilfen sehr schwer, in Afghanistan ihren Lebensunterhalt auf legale Weise zu bestreiten. Mittlerweile grenzt dies an Unmöglichkeit.«
Von rund 600.000 jungen Afghan*innen, die jährlich neu auf den Arbeitsmarkt kommen, kann dieser nur 200.000 absorbieren. Weiterhin wird deutlich, dass abgeschobene Afghanen von Hilfsangeboten für Rückkehrer ausgeschlossen sind. Ohne eine nötige finanzielle Unterstützung ist ein Leben in Afghanistan jedoch nicht möglich. Die volatile Sicherheitslage des Landes, die u.a. durch den internationalen Truppenabzug weiter gefährdet wird, ist ein weiterer Grund.
Das Gutachten schlussfolgert: »Für abgeschobene Afghanen aus Europa war es bereits vor COVID-19 ohne finanzielle Hilfen sehr schwer, in Afghanistan ihren Lebensunterhalt auf legale Weise zu bestreiten. Mittlerweile grenzt dies an Unmöglichkeit.«
(tl)