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#GesundheitFürAlle – Schluss mit der diskriminierenden Gesundheitsversorgung von Geflüchteten!
Zum Weltgesundheitstag am 7. April beklagen Ärzte der Welt und PRO ASYL die systematische Verletzung des Rechts geflüchteter Menschen auf Gesundheit. In den Aufnahmeeinrichtungen herrschen krankmachende Lebensbedingungen. Die Organisationen fordern die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und eine Unterbringung in Wohnungen.
Deutschland verletzt gegenüber asylsuchenden Menschen die völkerrechtlich verbindliche Pflicht, das Recht auf Gesundheit zu verwirklichen. PRO ASYL und Ärzte der Welt* fordern zum Weltgesundheitstag:
- das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen und Geflüchtete in das reguläre Sozialleistungssystem einzugliedern und in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung abzusichern;
- durch die Kostenübernahme für Sprachmittlung und Anti-Diskriminierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen Barrieren im Zugang abzubauen;
- menschenrechtskonforme Unterbringungsstandards zu sichern und dafür zu sorgen, dass geflüchtete Menschen frühestmöglich in Wohnungen leben können – zum Schutz vor Gewalt, für gesunde Lebensbedingungen und Selbstbestimmung.
Das Recht auf Gesundheit
Jeder Mensch hat das Recht auf das höchste erreichbare Maß an körperlicher und geistiger Gesundheit – unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus. Zur Verwirklichung dieses Rechts hat sich Deutschland im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) völkerrechtlich bindend verpflichtet. Das Recht auf Gesundheit umfasst zum einen den diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsversorgung, zum anderen aber auch gesunde Lebensbedingungen, »einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet, Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und die notwendigen sozialen Leistungen.« So legt es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN fest. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat in seinen Allgemeinen Bemerkungen zum Recht auf Gesundheit explizit festgehalten, dass die staatliche Pflicht, den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, auch gegenüber Asylsuchenden verbindlich ist.
Im deutschen Recht legt § 12 Sozialgesetzbuch (SGB) V fest, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen das Maß des medizinisch Notwendigen abbilden sollen. Für Asylsuchende, die in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, gilt das SGB V nicht. § 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) beschränkt die ihnen gewährten medizinischen Leistungen auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände, Schwangerschaft und Geburt sowie Impfungen. Die Behandlung chronischer Krankheiten, Leistungen für Pflegebedürftige und Hilfen für Menschen mit Behinderung sind nach § 6 AsylbLG auf das »zur Sicherung der Gesundheit Unerlässliche« beschränkt (§ 6 AsylbLG) und müssen beim Sozialamt gesondert beantragt werden.
Eine verfassungs- und völkerrechtskonforme Auslegung des AsylbLG müsste dazu führen, dass das Niveau der Gesundheitsleistungen nach §§ 4 und 6 AsylbLG dem der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Die Praxis sieht leider anders aus. Geflüchtete finden insbesondere in den Aufnahmeeinrichtungen und Sammellagern nur schwer Zugang zu medizinischen Leistungen, ihrer Inanspruchnahme stehen bürokratische Hürden und lange Wartezeiten entgegen. Kostenübernahmen für notwendige medizinische Behandlungen sind abhängig von Einzelfallentscheidungen und nicht durch einen eindeutigen Rechtsanspruch gesichert. Den Betroffenen fehlen Informationen über ihre Rechte. Aktuell fordern über 130 Organisationen die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Hinzu kommen Lebensbedingungen in den Unterkünften, die viele Menschen auf Dauer krank machen. Im Sommer 2022 hat Ärzte der Welt Teilnehmende eines Workshops zu ihrer Lebenssituation und gesundheitlichen Versorgung in ihrer Aufnahmeeinrichtung befragt und die Bewertungen der Bewohner*innen festgehalten. Sie bekräftigen eindrücklich die Erfahrungen, dass das Recht auf Gesundheit für Geflüchtete ist in vielerlei Hinsicht nicht gewährleistet ist (siehe auch Broschüre Leben).
Das Leben in Sammelunterkünften macht körperlich und seelisch krank
Asylsuchende sind in Deutschland dazu verpflichtet, regelmäßig bis zu 18 Monate lang, unter bestimmten Bedingungen auch noch länger, in Aufnahmeeinrichtungen zu leben.
Auch später unterliegen sie häufig noch einer Wohnpflicht in Gemeinschaftsunterkünften (§§ 47, 49 und 53 Asylgesetz). In der oben erwähnten Befragung von Ärzte der Welt bewerteten 11 von 13 Workshopteilnehmer*innen die allgemeine Lebenssituation in der Unterkunft als »schlecht« (7/13) oder »sehr schlecht« (4/13). Die vorherrschenden Lebensumstände in Sammelunterkünften wirken sich direkt auf die Gesundheit der Bewohner*innen aus. In den Aufnahmeeinrichtungen, in denen Ärzte der Welt aktiv war, fanden sie niedrige Raumtemperaturen, von Schimmel befallene Wände und Sanitäranlagen und ungesundes, eintöniges Essen in den Unterkunftskantinen vor.
Die Lebensbedingungen in Sammelunterkünften wirken sich auch massiv auf die psychische Gesundheit der dort lebenden Asylsuchenden aus: Es gibt meist keine Rückzugsmöglichkeiten und eine Privatsphäre fehlt, weil mehrere Personen, zum Teil auch mehrere Familien, gemeinsam in einem Zimmer leben müssen. Bewohner*innen in Sammelunterkünften haben nicht die Möglichkeit, ihren Tag eigenständig zu gestalten. Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit sind jedoch wichtige Faktoren für die psychische Gesundheit. Es stehen kaum Beschäftigungs‑, Sprach- und Bildungsangebote zur Verfügung.
Die soziale Entwicklung Minderjähriger wird durch unzureichende Spiel- und Rückzugsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Häufig findet keine Integration in Kitas statt.
Die Verpflegung in den Aufnahmeeinrichtungen erfolgt nach dem Sachleistungsprinzip, das heißt, Asylsuchende können monatelang nicht selbst kochen, sondern bekommen Mahlzeiten und andere Dinge des täglichen Bedarfs ohne Auswahl und meist ohne Rücksicht auf individuelle Bedarfe zur Verfügung gestellt. Die Bewohner*innen berichteten, dass auch auf Allergien und Unverträglichkeiten sowie besondere Ernährungsvorgaben wegen einer Erkrankung oder während der Schwangerschaft häufig nicht eingegangen wurde.
In Aufnahmeeinrichtungen erhalten die Menschen in der Regel keine Arbeitserlaubnis, dürfen nur mit behördlicher Genehmigung den Landkreis verlassen und in der Aufnahmeeinrichtung keinen Besuch empfangen. Grundlegende Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens bleiben so verwehrt.
»Hier gibt es keine Lebenszutat und wir sterben langsam. […] Ich sterbe langsam, ich bin nicht dumm, ich habe Energie und kann ein aktives Mitglied der Gesellschaft sein.« Bewohner einer Aufnahmeeinrichtung in Bayern.
»Sie haben mich nicht als Person gesehen, und sie sehen es bei niemandem im Lager. Es gibt einen riesigen Menschenstrom und das schafft eine unmenschliche Umgebung. An diesem Ort hat sich fast jeder seine Verletzungen zugezogen.« Bewohnerin einer Aufnahmeeinrichtung in Hessen.
Besonders dramatisch ist die Situation, für besonders schutzbedürftige Menschen wie Minderjährige, Schwangere, Menschen mit einer schweren chronischen Erkrankung oder einer Behinderung, alte Menschen und Pflegebedürftige sowie Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen von Gewalt erlitten haben. Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) und der EU-Aufnahmerichtlinie dazu verpflichtet, vulnerable Personen zu identifizieren und angemessen unterzubringen und zu versorgen. Eine systematische Erfassung und Versorgung der gesundheitlichen Bedarfe vulnerabler Menschen findet in der Praxis aber bislang kaum statt. Für von Gewalt betroffene geflüchtete Frauen hat dies PRO ASYL im Schattenbericht zur Istanbul Konvention dargestellt.
Hinzu kommt der fehlende Schutz vor Gewalt: Viele Unterkünfte haben noch immer kein verbindliches Gewaltschutzkonzept. So verhindern etwa nicht-abschließbare Schlaf- und Waschräume oder fehlende sichere Bereiche für Frauen und LGBTIQ*-Personen auch heute noch in etlichen Flüchtlingsunterkünften einen effektiven Gewaltschutz.
Keine ausreichende medizinische Versorgung
In Aufnahmeeinrichtungen sind Geflüchtete gehalten, sich zunächst an den medizinischen Dienst auf dem Gelände zu wenden. Aufgrund unzureichender Sprechzeiten müssen erkrankte Bewohner*innen mancherorts mehrere Tage warten, bis sie einen Termin bei Ärzt*innen in der Unterkunft erhalten. Die Verordnung von Medikamenten, notwendige Überweisungen an Fachärzt*innen außerhalb der Einrichtung sowie Krankenhauseinweisungen gestalten sich häufig schwierig.
PRO ASYL erreichen seit vielen Jahren immer wieder Beschwerden, in denen Geflüchtete berichten, vom medizinischen Dienst einer Erstaufnahmeeinrichtung nicht ausreichend ernst genommen, »abgewimmelt«, ohne ausreichende Untersuchung, mit Schmerztabletten, Antidepressiva oder gar mit Teebeuteln (!) gegen Beschwerden wieder weggeschickt worden zu sein. Auch die Menschen, die von Ärzte der Welt im Rahmen ihrer Arbeit befragt wurden – hier 15 männliche und 10 weibliche Personen – gaben ein negatives Stimmungsbild ab: Über die Hälfte gab an, die medizinische Versorgung in ihren Unterkünften sei »schlecht« oder »sehr schlecht«.
PRO ASYL erreichen seit vielen Jahren immer wieder Beschwerden, in denen Geflüchtete berichten, vom medizinischen Dienst einer Erstaufnahmeeinrichtung nicht ausreichend ernst genommen, »abgewimmelt«, ohne ausreichende Untersuchung […] wieder weggeschickt worden zu sein.
»Der Arzt kommt nur zweimal die Woche und behandelt nur 20 Patient*innen. Die Medikamente sind nicht gut und es ist schwer an diese heranzukommen.« Bewohner einer Aufnahmeeinrichtung in Bayern
Dass die Situation insbesondere in der Aufnahmeeinrichtung zu einer Mangelversorgung führt, wird durch eine statistische Untersuchung der Universität Kassel gestützt, die in den Aufnahmeeinrichtungen sowie generell bei überörtlichen Trägern »eine weit unterdurchschnittliche Gewährung von ambulanten oder stationären Leistungen bei Krankheit« feststellt.
Dass die Situation insbesondere in der Aufnahmeeinrichtung zu einer Mangelversorgung führt, wird durch eine statistische Untersuchung der Universität Kassel gestützt, die in den Aufnahmeeinrichtungen sowie generell bei überörtlichen Trägern »eine weit unterdurchschnittliche Gewährung von ambulanten oder stationären Leistungen bei Krankheit« feststellt.
Bürokratische Umsetzung des AsylbLG durch die Bundesländer
In den meisten Bundesländern ist die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nur mit einem Umweg über das Sozialamt möglich, das auf die Einschränkungen der §§ 4 und 6 AsylbLG hinweisende spezielle Behandlungsscheine nach dem AsylbLG ausstellt. Für Termine bei Fachärzt*innen benötigen Geflüchtete neben dem Behandlungsschein des zuständigen Sozialhilfeträgers dann einen Überweisungsschein eines*einer Allgemeinärzt*in. Für teurere Behandlungen und Krankenhausaufenthalte muss die Kostenübernahme gesondert beim Sozialhilfeträger beantragt werden. Mit dem AsylbLG ist ein System behördlicher Hürden etabliert, in dem nicht selten Behördenangestellte ohne medizinische Fachkenntnisse darüber befinden, ob eine Krankenbehandlung durchgeführt werden darf oder nicht.
Probleme gibt es aber bereits bei der Informationsvermittlung und Unterstützung durch die sozialen/medizinischen Dienste in den Unterkünften. Ärzte der Welt beobachtet, dass Asylsuchende nicht über ihre gesundheitlichen Rechte und Versorgungsmöglichkeiten informiert werden. Anträge auf beispielsweise Sprachmittlung, eine fachärztliche Behandlung oder eine Psychotherapie können ohne entsprechende Unterstützung gar nicht erst gestellt werden. So hat Ärzte der Welt in mehreren Fällen mitbekommen, dass traumatisierte und psychisch kranke Menschen keine Möglichkeit erhalten, Psychotherapie oder längerfristige psychiatrische Behandlungen in Anspruch zu nehmen. Die Menschen werden mit ernsthaften Erkrankungen allein gelassen.
Doch auch wenn ein Antrag gestellt ist, bleiben Geflüchtete häufig unversorgt. So beklagt die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) in ihrem Versorgungsbericht 2022 einen sehr hohen Aufwand für eine Antragstellung auf Psychotherapie und geringe Erfolgschancen der Bewilligung durch die Sozialämter, wenn die Betroffenen nur Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz beziehen.
Nur in wenigen Bundesländern bzw. Kommunen erhalten Geflüchtete nach dem AsylbLG von Beginn an eine elektronische Gesundheitskarte, die wenigstens eine unbürokratische Inanspruchnahme der meisten Leistungen ermöglicht.
Zum Schutz der Gesundheit: Asylbewerberleistungsgesetz und Sammellager abschaffen!
Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag Verbesserungen im Gesundheitsschutz versprochen:
»Vulnerable Gruppen wollen wir von Anfang an identifizieren und besonders unterstützen.« Und: »Wir wollen den Zugang für Asylbewerberinnen und Asylbewerber zur Gesundheitsversorgung unbürokratischer gestalten.«
Die Praxis zeigt, dass Sammelunterkünfte und Asylbewerberleistungsgesetz zentrale Hemmnisse für die Gesundheit von Geflüchteten sind. Um ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen einzuhalten, müssen Bund und Länder dafür sorgen, dass geflüchtete Menschen in Wohnungen statt in Sammelunterkünften leben können. Außerdem muss die Bundesregierung umgehend das Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen und sicherstellen, dass alle Geflüchteten von Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland an Zugang zu notwendiger Gesundheitsversorgung haben.
Janina Gach, Referentin Advocacy, Ärzte der Welt
Michelle Kerndl-Özcan, Projektleitung GBV/Psychische Gesundheit, Ärzte der Welt
Andrea Kothen, PRO ASYL
*Die Organisation Ärzte der Welt e. V. engagiert sich seit über drei Jahren mit unterschiedlichen Projekten in bayerischen sogenannten Anker-Einrichtungen für die gesundheitliche Versorgung Geflüchteter (siehe dazu den Gesundheitsreport 2022). Unter anderem führt die Organisation Workshops durch, in denen in geschlechtshomogenen Gruppen Informationen zu (gesundheitlichen) Rechten und Handlungsmöglichkeiten im Asylverfahren, psychischer Gesundheit, sexueller Gesundheit und Selbstbestimmung, genderbasierter Gewalt und Gewaltprävention vermittelt werden. Auch in ihren medizinischen Anlaufstellen und Behandlungsbussen in München, Berlin, Stuttgart und Hamburg versorgt die Organisation seit vielen Jahren unter anderem Asylsuchende durch ehrenamtlich tätige Ärzt*innen, Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen.
Zum Aufruf von über 100 Organisationen für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes: https://www.proasyl.de/asylbewerberleistungsgesetz/