02.09.2021
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Prägender Eindruck: Hier beginnt für viele Schutzsuchende das Leben in Deutschland. Erstaufnahmeeinrichtung in Doberlug-Kirchhain, Brandenburg. Foto: Lukas Papierak

Eine von PRO ASYL herausgegebene Studie der Universität Kiel macht sichtbar, welchen Problemen Bewohner*innen von Flüchtlingsunterkünften gegenüberstehen und wie sie diese erleben –nicht nur, aber insbesondere während der Corona-Pandemie.

Wenn Schutz­su­chen­de in Deutsch­land ankom­men, haben sie erheb­li­che Gefah­ren und Zumu­tun­gen hin­ter sich. Wären sie die euro­päi­schen Über­le­ben­den eines Unglücks – eines Flug­zeug­ab­stur­zes, eines ter­ro­ris­ti­schen Anschlags oder einer Natur­ka­ta­stro­phe im Urlaubs­ge­biet – man wür­de ihnen Mit­ge­fühl ent­ge­gen­brin­gen und einen Schutz­raum zuge­ste­hen: Medi­zi­ni­sche Betreu­ung, psy­cho­lo­gi­schen Bei­stand, Ruhe und Zeit, die Din­ge zu verarbeiten.

Einen sol­chen Schutz­raum erhal­ten Geflüch­te­te in Deutsch­land nicht. Sie wer­den in umzäun­ten Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen unter­ge­bracht, in für meh­re­re hun­dert Men­schen kon­zi­pier­ten Mas­sen­un­ter­künf­ten, die den ers­ten Ein­druck und das begin­nen­de Leben in Deutsch­land wesent­lich prä­gen. Dr. Niko­lai Huke von der Uni­ver­si­tät Kiel hat mit den Bewohner*innen sol­cher Unter­künf­te über ihren All­tag wäh­rend der ers­ten und zwei­ten Wel­le der Coro­na-Pan­de­mie gespro­chen. Ihre Erfah­run­gen als Betrof­fe­ne sind der wesent­li­che Bestand­teil der Stu­die, die Pro Asyl unter dem Titel »Bedeu­tet unser Leben nichts? Erfah­run­gen von Asyl­su­chen­den in Flücht­lings­un­ter­künf­ten wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie in Deutsch­land« nun her­aus­ge­ge­ben hat.

Eine man­geln­de Pri­vat­sphä­re bis hin zu Über­grif­fen gehö­ren für vie­le Bewohner*innen zum Alltag.

Null Privatsphäre in den Erstaufnahme-Einrichtungen

Die Äuße­run­gen der Betrof­fe­nen, her­aus­ge­ar­bei­tet in 16 qua­li­ta­ti­ven Inter­views, machen nach­voll­zieh­bar, wie schwie­rig sich das all­täg­li­che Leben in Sam­mel­un­ter­künf­ten gestal­tet – nicht nur, aber ins­be­son­de­re wäh­rend der Pan­de­mie. Sie zei­gen die Her­aus­for­de­run­gen und Belas­tun­gen, denen Asyl­su­chen­de gegen­über­ste­hen. Sie rei­chen von Ras­sis­mus, unzu­rei­chen­der medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung, Lärm­be­las­tung und feh­len­der Pri­vat­sphä­re bis hin zu trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen auf­grund von Abschie­bun­gen und Security-Gewalt.

Die Sam­mel­un­ter­künf­te, so sagt ein Asyl­su­chen­der, sei­en »wie ein Gefäng­nis«. Man lebe »abge­schnit­ten von der Außen­welt«. Eine Frau beschreibt die loka­le Situa­ti­on: »Es ist im Nichts. Ich habe hier kei­nen Zugang zu irgend­et­was.« Die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung sei man­gel­haft: »Sie sind noch im Camp, also heißt die Behand­lung Par­acet­amol.« Ein Zusam­men­le­ben zahl­rei­cher Per­so­nen unter die­sen Bedin­gun­gen, noch dazu ange­sichts der schwe­ren Belas­tun­gen und Erfah­run­gen, die geflüch­te­te Men­schen viel­fach mit­brin­gen, ist kon­flikt­träch­tig. In meh­re­ren Inter­views wird von gewalt­sa­men Kon­flik­ten mit Secu­ri­ty-Per­so­nal oder der Poli­zei berich­tet; ein Mann sag­te: »Mei­ne Frau wur­de kran­ken­haus­reif geprü­gelt.«

»Nachts habe ich den Schrank vor die Tür gestellt, weil ich Angst hatte.«

Eine man­geln­de Pri­vat­sphä­re bis hin zu Über­grif­fen gehö­ren für vie­le Bewohner*innen zum All­tag. Secu­ri­ties oder Mit­ar­bei­ten­de der Unter­kunft betre­ten, so berich­ten ver­schie­de­ne Per­so­nen, teil­wei­se ohne anzu­klop­fen die Zim­mer der Bewohner*innen: »Sie [die Secu­ri­ties] kom­men grund­los in die Zim­mer, weil die Türen kei­ne Schlüs­sel haben, egal ob jemand nackt ist, Sex hat, kom­men sie rein, weil es nach acht kei­ne Kon­trol­le mehr gibt.«

Sammelunterkünfte als Corona-Hotspots

Ins­be­son­de­re für Frau­en und LSBTTIQ*-Personen geht der All­tag in den Unter­künf­ten mit einer per­ma­nen­ten Gefähr­dung ein­her. Eine Frau berich­tet: Man bekom­me in der Erst­auf­nah­me »kei­nen Schlüs­sel. Nachts habe ich den Schrank vor die Tür gestellt, weil ich Angst hat­te.«

In der Coro­na-Pan­de­mie ent­wi­ckel­ten sich die Sam­mel­un­ter­künf­te auf­grund räum­li­cher Enge und feh­len­der Mög­lich­kei­ten sozia­ler Distan­zie­rung vie­ler­orts zu Hot­spots mit einem gras­sie­ren­den Infek­ti­ons­ge­sche­hen. Allein durch die räum­li­che Enge ent­steht eine hohe Infek­ti­ons­ge­fahr, die zudem in vie­len Berei­chen pro­blem­ver­schär­fend wirkt. Mehr­bett­zim­mer und geteil­te Räum­lich­kei­ten (zum Bei­spiel Spei­se­sä­le, sani­tä­re Ein­rich­tun­gen) erschwer­ten oder ver­un­mög­lich­ten es, sich durch sozia­le Distan­zie­rung vor einer Infek­ti­on zu schüt­zen. Vie­ler­orts fehl­ten Mas­ken, Sei­fe oder Des­in­fek­ti­ons­mit­tel. Mehr­wö­chi­ge, teil­wei­se mehr­fach ver­län­ger­te Qua­ran­tä­nen wirk­ten psy­chisch stark belas­tend, und sie erhöh­ten – durch wei­ter­hin enge Kon­tak­te der Bewohner*innen unter­ein­an­der – zum Teil ihrer­seits die Infek­ti­ons­ge­fahr: »Sie haben den drit­ten Stock getes­tet. Und sie sag­ten: ‚Jemand ist posi­tiv dort.‘ Des­halb schlos­sen sie sie ein. Und zwei Wochen spä­ter haben sie sie wie­der getes­tet. Sie sag­ten alle sei­en jetzt posi­tiv, das gan­ze Stock­werk.« Sozi­al­ma­nage­ment und Behör­den waren in der Pan­de­mie teil­wei­se kaum erreichbar.

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Mona­te und län­ger sol­len Schutz­su­chen­de in den Auf­nah­me­la­gern iso­liert und aus­ge­grenzt werden.

Teilhabe geflüchteter Menschen wird durch räumliche Trennung verhindert

Die beschrie­be­nen Pro­ble­me und Vor­fäl­le mögen nicht alle Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen glei­cher­ma­ßen betref­fen, aber sie zei­gen in ihrer Gesamt­heit, dass die struk­tu­rel­len Bedin­gun­gen in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen und ande­ren Mas­sen­un­ter­künf­ten für die gesell­schaft­li­che Par­ti­zi­pa­ti­on von Geflüch­te­ten kon­tra­pro­duk­tiv sind. In eini­gen Bun­des­län­dern sind die Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen als AnkER-Zen­tren (Ankunft-Ent­schei­dung-Rück­füh­rung) defi­niert, in denen die (poten­zi­el­le) Abschie­bung von Geflüch­te­ten bereits mit­ge­dacht, vor­ge­plant und voll­zo­gen wird. Dass AnkER-Zen­tren eine schlech­te Idee sind, hat Pro Asyl bereits 2018 beschrie­ben und Ende Juli 2021 gemein­sam mit zahl­rei­chen ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen ihre Abschaf­fung gefor­dert.

Nach den gesetz­li­chen Vor­ga­ben sol­len Geflüch­te­te immer län­ger in sol­chen Erst­auf­nah­me-Ein­rich­tun­gen leben und auch danach, kom­mu­nal, geht der Trend seit eini­gen Jah­ren wie­der zur Mas­sen­un­ter­kunft. Die poli­ti­sche Inten­ti­on der Bun­des­re­gie­rung ist es offen­kun­dig, über die ver­län­ger­te Erst­auf­nah­me die Teil­ha­be zumin­dest eines Teils der Men­schen mög­lichst zu ver­hin­dern: Die­je­ni­gen, die nach Ein­schät­zung der Bun­des­re­gie­rung vor­aus­sicht­lich kei­nen Schutz­sta­tus errei­chen wer­den, sol­len 18 Mona­te und län­ger in den Auf­nah­me­la­gern iso­liert und aus­ge­grenzt wer­den. Dem­entspre­chend blei­ben vie­len Geflüch­te­ten Inte­gra­ti­ons­maß­nah­men (wie etwa das Recht auf einen Deutsch­kurs) gesetz­lich oder admi­nis­tra­tiv vorenthalten.

Die Stu­die macht deut­lich, dass die Bedin­gun­gen in Sam­mel­un­ter­künf­ten weder dem Wohl der betrof­fe­nen Men­schen noch der Gesell­schaft dien­lich sind.

Handlungsempfehlungen

Die Stu­die »Bedeu­tet unser Leben Nichts?« lässt die Betrof­fe­nen aus­führ­lich zu Wort kom­men. Dabei geht es nicht dar­um, in den jeweils beschrie­be­nen Ein­zel­fäl­len kon­kre­tes oder per­sön­li­ches Fehl­ver­hal­ten auf­zu­de­cken oder nach­zu­wei­sen, son­dern viel­mehr um die Sicht­bar­ma­chung der struk­tu­rel­len Pro­ble­me, auf die die Äuße­run­gen der Bewohner*innen in ihrer Viel­zahl und Über­ein­stim­mung hin­wei­sen. Dies ist auch des­halb ein wich­ti­ger Bei­trag, weil der Zivil­ge­sell­schaft der unge­hin­der­te Zugang in die Erst­auf­nah­me­la­ger und damit ein kri­ti­scher Blick auf deren inne­re Ver­hält­nis­se man­cher­orts ver­wehrt wird. Die Stu­die macht deut­lich, dass die Bedin­gun­gen in Sam­mel­un­ter­künf­ten weder dem Wohl der betrof­fe­nen Men­schen noch der Gesell­schaft dien­lich sind.

Ein­mal mehr bekräf­ti­gen die Ergeb­nis­se der Stu­die die Kri­tik von PRO ASYL und vie­len ande­ren am Unter­brin­gungs­kon­zept von Bund und Län­dern. Basie­rend auf den Ergeb­nis­sen der Stu­die wer­den fol­gen­de Emp­feh­lun­gen ausgesprochen:

- Die Woh­nungs­un­ter­brin­gung von Geflüch­te­ten soll­te Vor­rang gegen­über der Unter­brin­gung in Sam­mel­un­ter­künf­ten haben.

- Der Zugang zur regu­lä­ren Gesund­heits­ver­sor­gung in Form der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung soll­te unmit­tel­bar ab der Ankunft in Deutsch­land sicher­ge­stellt sein.

- Um fai­re Asyl­ver­fah­ren sicher­zu­stel­len, brau­chen die Betrof­fe­nen vor der Anhö­rung aus­rei­chend Ruhe, einen siche­ren Ort und eine unab­hän­gi­ge, par­tei­li­che Asylverfahrensberatung.

- Um Gewalt­schutz in den Unter­künf­ten sicher­zu­stel­len, sind recht­lich ver­bind­li­che und effek­ti­ve Schutz­kon­zep­te notwendig.

- Über­grei­fend muss es dar­um gehen, Selbst­be­stim­mungs­rech­te der Asyl­su­chen­den zu stär­ken und einen men­schen­wür­di­gen Umgang sicherzustellen.

(ak)