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»Bedeutet unser Leben nichts?«
Eine von PRO ASYL herausgegebene Studie der Universität Kiel macht sichtbar, welchen Problemen Bewohner*innen von Flüchtlingsunterkünften gegenüberstehen und wie sie diese erleben –nicht nur, aber insbesondere während der Corona-Pandemie.
Wenn Schutzsuchende in Deutschland ankommen, haben sie erhebliche Gefahren und Zumutungen hinter sich. Wären sie die europäischen Überlebenden eines Unglücks – eines Flugzeugabsturzes, eines terroristischen Anschlags oder einer Naturkatastrophe im Urlaubsgebiet – man würde ihnen Mitgefühl entgegenbringen und einen Schutzraum zugestehen: Medizinische Betreuung, psychologischen Beistand, Ruhe und Zeit, die Dinge zu verarbeiten.
Einen solchen Schutzraum erhalten Geflüchtete in Deutschland nicht. Sie werden in umzäunten Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht, in für mehrere hundert Menschen konzipierten Massenunterkünften, die den ersten Eindruck und das beginnende Leben in Deutschland wesentlich prägen. Dr. Nikolai Huke von der Universität Kiel hat mit den Bewohner*innen solcher Unterkünfte über ihren Alltag während der ersten und zweiten Welle der Corona-Pandemie gesprochen. Ihre Erfahrungen als Betroffene sind der wesentliche Bestandteil der Studie, die Pro Asyl unter dem Titel »Bedeutet unser Leben nichts? Erfahrungen von Asylsuchenden in Flüchtlingsunterkünften während der Corona-Pandemie in Deutschland« nun herausgegeben hat.
Eine mangelnde Privatsphäre bis hin zu Übergriffen gehören für viele Bewohner*innen zum Alltag.
Null Privatsphäre in den Erstaufnahme-Einrichtungen
Die Äußerungen der Betroffenen, herausgearbeitet in 16 qualitativen Interviews, machen nachvollziehbar, wie schwierig sich das alltägliche Leben in Sammelunterkünften gestaltet – nicht nur, aber insbesondere während der Pandemie. Sie zeigen die Herausforderungen und Belastungen, denen Asylsuchende gegenüberstehen. Sie reichen von Rassismus, unzureichender medizinischer Versorgung, Lärmbelastung und fehlender Privatsphäre bis hin zu traumatischen Erfahrungen aufgrund von Abschiebungen und Security-Gewalt.
Die Sammelunterkünfte, so sagt ein Asylsuchender, seien »wie ein Gefängnis«. Man lebe »abgeschnitten von der Außenwelt«. Eine Frau beschreibt die lokale Situation: »Es ist im Nichts. Ich habe hier keinen Zugang zu irgendetwas.« Die medizinische Versorgung sei mangelhaft: »Sie sind noch im Camp, also heißt die Behandlung Paracetamol.« Ein Zusammenleben zahlreicher Personen unter diesen Bedingungen, noch dazu angesichts der schweren Belastungen und Erfahrungen, die geflüchtete Menschen vielfach mitbringen, ist konfliktträchtig. In mehreren Interviews wird von gewaltsamen Konflikten mit Security-Personal oder der Polizei berichtet; ein Mann sagte: »Meine Frau wurde krankenhausreif geprügelt.«
»Nachts habe ich den Schrank vor die Tür gestellt, weil ich Angst hatte.«
Eine mangelnde Privatsphäre bis hin zu Übergriffen gehören für viele Bewohner*innen zum Alltag. Securities oder Mitarbeitende der Unterkunft betreten, so berichten verschiedene Personen, teilweise ohne anzuklopfen die Zimmer der Bewohner*innen: »Sie [die Securities] kommen grundlos in die Zimmer, weil die Türen keine Schlüssel haben, egal ob jemand nackt ist, Sex hat, kommen sie rein, weil es nach acht keine Kontrolle mehr gibt.«
Sammelunterkünfte als Corona-Hotspots
Insbesondere für Frauen und LSBTTIQ*-Personen geht der Alltag in den Unterkünften mit einer permanenten Gefährdung einher. Eine Frau berichtet: Man bekomme in der Erstaufnahme »keinen Schlüssel. Nachts habe ich den Schrank vor die Tür gestellt, weil ich Angst hatte.«
In der Corona-Pandemie entwickelten sich die Sammelunterkünfte aufgrund räumlicher Enge und fehlender Möglichkeiten sozialer Distanzierung vielerorts zu Hotspots mit einem grassierenden Infektionsgeschehen. Allein durch die räumliche Enge entsteht eine hohe Infektionsgefahr, die zudem in vielen Bereichen problemverschärfend wirkt. Mehrbettzimmer und geteilte Räumlichkeiten (zum Beispiel Speisesäle, sanitäre Einrichtungen) erschwerten oder verunmöglichten es, sich durch soziale Distanzierung vor einer Infektion zu schützen. Vielerorts fehlten Masken, Seife oder Desinfektionsmittel. Mehrwöchige, teilweise mehrfach verlängerte Quarantänen wirkten psychisch stark belastend, und sie erhöhten – durch weiterhin enge Kontakte der Bewohner*innen untereinander – zum Teil ihrerseits die Infektionsgefahr: »Sie haben den dritten Stock getestet. Und sie sagten: ‚Jemand ist positiv dort.‘ Deshalb schlossen sie sie ein. Und zwei Wochen später haben sie sie wieder getestet. Sie sagten alle seien jetzt positiv, das ganze Stockwerk.« Sozialmanagement und Behörden waren in der Pandemie teilweise kaum erreichbar.
Teilhabe geflüchteter Menschen wird durch räumliche Trennung verhindert
Die beschriebenen Probleme und Vorfälle mögen nicht alle Erstaufnahmeeinrichtungen gleichermaßen betreffen, aber sie zeigen in ihrer Gesamtheit, dass die strukturellen Bedingungen in Erstaufnahmeeinrichtungen und anderen Massenunterkünften für die gesellschaftliche Partizipation von Geflüchteten kontraproduktiv sind. In einigen Bundesländern sind die Erstaufnahmeeinrichtungen als AnkER-Zentren (Ankunft-Entscheidung-Rückführung) definiert, in denen die (potenzielle) Abschiebung von Geflüchteten bereits mitgedacht, vorgeplant und vollzogen wird. Dass AnkER-Zentren eine schlechte Idee sind, hat Pro Asyl bereits 2018 beschrieben und Ende Juli 2021 gemeinsam mit zahlreichen anderen Organisationen ihre Abschaffung gefordert.
Nach den gesetzlichen Vorgaben sollen Geflüchtete immer länger in solchen Erstaufnahme-Einrichtungen leben und auch danach, kommunal, geht der Trend seit einigen Jahren wieder zur Massenunterkunft. Die politische Intention der Bundesregierung ist es offenkundig, über die verlängerte Erstaufnahme die Teilhabe zumindest eines Teils der Menschen möglichst zu verhindern: Diejenigen, die nach Einschätzung der Bundesregierung voraussichtlich keinen Schutzstatus erreichen werden, sollen 18 Monate und länger in den Aufnahmelagern isoliert und ausgegrenzt werden. Dementsprechend bleiben vielen Geflüchteten Integrationsmaßnahmen (wie etwa das Recht auf einen Deutschkurs) gesetzlich oder administrativ vorenthalten.
Die Studie macht deutlich, dass die Bedingungen in Sammelunterkünften weder dem Wohl der betroffenen Menschen noch der Gesellschaft dienlich sind.
Handlungsempfehlungen
Die Studie »Bedeutet unser Leben Nichts?« lässt die Betroffenen ausführlich zu Wort kommen. Dabei geht es nicht darum, in den jeweils beschriebenen Einzelfällen konkretes oder persönliches Fehlverhalten aufzudecken oder nachzuweisen, sondern vielmehr um die Sichtbarmachung der strukturellen Probleme, auf die die Äußerungen der Bewohner*innen in ihrer Vielzahl und Übereinstimmung hinweisen. Dies ist auch deshalb ein wichtiger Beitrag, weil der Zivilgesellschaft der ungehinderte Zugang in die Erstaufnahmelager und damit ein kritischer Blick auf deren innere Verhältnisse mancherorts verwehrt wird. Die Studie macht deutlich, dass die Bedingungen in Sammelunterkünften weder dem Wohl der betroffenen Menschen noch der Gesellschaft dienlich sind.
Einmal mehr bekräftigen die Ergebnisse der Studie die Kritik von PRO ASYL und vielen anderen am Unterbringungskonzept von Bund und Ländern. Basierend auf den Ergebnissen der Studie werden folgende Empfehlungen ausgesprochen:
- Die Wohnungsunterbringung von Geflüchteten sollte Vorrang gegenüber der Unterbringung in Sammelunterkünften haben.
- Der Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung in Form der gesetzlichen Krankenversicherung sollte unmittelbar ab der Ankunft in Deutschland sichergestellt sein.
- Um faire Asylverfahren sicherzustellen, brauchen die Betroffenen vor der Anhörung ausreichend Ruhe, einen sicheren Ort und eine unabhängige, parteiliche Asylverfahrensberatung.
- Um Gewaltschutz in den Unterkünften sicherzustellen, sind rechtlich verbindliche und effektive Schutzkonzepte notwendig.
- Übergreifend muss es darum gehen, Selbstbestimmungsrechte der Asylsuchenden zu stärken und einen menschenwürdigen Umgang sicherzustellen.
(ak)