10.11.2022
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Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) dient einmal mehr der Abschreckung von Schutzsuchenden und gehört abgeschafft. Foto: flickr / Medien AG Freiburg / CC BY-NC-SA 2.0

Eine umfassende Analyse von PRO ASYL und dem Flüchtlingsrat Berlin zeigt im Detail die Defizite bei der Berechnung und Begründung der Regelsätze nach dem AsylbLG und anderer Sozialleistungen sowie die Leistungskürzungen durch das AsylbLG in der Praxis. Klar wird: Das Sondergesetz für Asylsuchende ist diskriminierend und gehört abgeschafft.

Wenn das Bür­ger­geld­ge­setz kommt, wird Hartz IV einen neu­en Namen bekom­men, die Beträ­ge wer­den infla­ti­ons­be­dingt ange­ho­ben und es wird wohl auch Erleich­te­run­gen bei Frei­be­trä­gen und Sank­tio­nen geben. Etwas Wesent­li­ches aber ändert sich nicht: Vie­le Geflüch­te­te erhal­ten wei­ter­hin kei­ne regu­lä­ren Sozi­al­leis­tun­gen. Die dis­kri­mi­nie­ren­den Aus­schlüs­se für Asyl­su­chen­de und Gedul­de­te aus Hartz IV wer­den unver­än­dert in das Bür­ger­geld­ge­setz über­nom­men (§ 7 Abs. 1 SGB II) – sie wer­den wei­ter­hin auf das soge­nann­te Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz (Asyl­bLG) ver­wie­sen. Damit ver­tut die Bun­des­re­gie­rung die gro­ße Chan­ce, alle Geflüch­te­ten end­lich in das nor­ma­le Sozi­al­sys­tem zu integrieren.

Anläss­lich der Ver­ab­schie­dung des Bür­ger­geld­ge­set­zes legt PRO ASYL gemein­sam mit dem Flücht­lings­rat Ber­lin eine umfas­sen­de Ana­ly­se vor: »Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz – Ein­schrän­kun­gen des Grund­rechts auf ein menschenwürdiges Exis­tenz­mi­ni­mum für Geflüchtete. Bedarfs­de­ckung und Regel­sät­ze nach Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz, Hartz IV und Bürgergeldgesetz.«

Mit dem Asyl­bLG wur­de ein Leis­tungs­ni­veau deut­lich unter­halb der nor­ma­len Sozi­al­leis­tun­gen geschaffen.

Recht auf menschenwürdiges Existenzminimum gilt für alle

Das Asyl­bLG sieht Sach­leis­tun­gen für Essen, Klei­dung und Unter­kunft, eine men­schen­rechts­wid­ri­ge Mini­mal­me­di­zin, gekürz­te Geld­leis­tun­gen für Erwach­se­ne und Kin­der, eine noch­ma­li­ge 10%ige Kür­zung für Allein­ste­hen­de und Allein­er­zie­hen­de in Sam­mel­un­ter­künf­ten sowie Sank­tio­nen mit Kür­zun­gen der Regel­leis­tun­gen um weit mehr als die Hälf­te vor. Damit wur­de mit dem Asyl­bLG ein Leis­tungs­ni­veau deut­lich unter­halb der nor­ma­len Sozi­al­leis­tun­gen geschaf­fen. Die sol­len aber laut Gesetz den Leis­tungs­be­rech­tig­ten ermög­li­chen, ein Leben zu füh­ren, »dass der Wür­de des Men­schen ent­spricht« – so steht es unter ande­rem in § 1 Abs.1 SGB II.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat 2012 aus­drück­lich fest­ge­stellt, dass das Grund­recht auf Gewähr­leis­tung eines men­schen­wür­di­gen Exis­tenz­mi­ni­mums für alle in Deutsch­land leben­den Men­schen glei­cher­ma­ßen gilt, und dass die­ses Grund­recht nicht aus migra­ti­ons­po­li­ti­schen Grün­den rela­ti­viert wer­den darf.

Der­zeit – Ende 2022 – steht das Asyl­bLG erneut beim Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in Karls­ru­he auf dem Prüf­stand (Akten­zei­chen 1 BvL 3/21 und 1 BvL 5/21). In diver­sen juris­ti­schen Stel­lung­nah­men haben ange­frag­te Orga­ni­sa­tio­nen ihre Zwei­fel an der Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit des Asyl­bLG aus­ge­führt. Auch die vor­lie­gen­de Ana­ly­se von PRO ASYL und Ber­li­ner Flücht­lings­rat ist in ihrer ursprüng­li­chen Fas­sung als Stel­lung­nah­me für das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt geschrie­ben wor­den. Autor Georg Clas­sen hat als Bera­ter und Exper­te die Ent­wick­lung des Asyl­bLG in den fast 30 Jah­ren sei­ner Exis­tenz­in­ten­siv beglei­tet. Er kennt und ver­steht wie kein ande­rer die schlecht begrün­de­ten Win­kel­zü­ge der diver­sen Geset­zes­ver­schär­fun­gen, die hin­ter dem Geset­zes­wort­laut ver­steck­ten Leis­tungs­kür­zun­gen und die all­täg­li­chen Feh­ler und Rechts­brü­che der Behör­den bei der Aus­le­gung des AsylbLG.

Die Berechnung der Regelsätze ist mangelhaft

Im Detail wer­den His­to­rie und Ziel­set­zung des Geset­zes sowie die Metho­dik zur Ermitt­lung der Hartz-IV-Regel­sät­ze (künf­tig »Bür­ger­geld«) und der Leis­tungs­sät­ze des Asyl­bLG unter­sucht. In der Ana­ly­se wer­den alle ein­zel­nen »Bedarfs­pos­ten«, aus denen sich die Regel­sät­ze zusam­men­set­zen, vom Strom bis zur Sei­fe, unter die Lupe genom­men. Jede Strei­chung ein­zel­ner Pos­ten wird betrach­tet, jede Kür­zung auf ihren Begrün­dungs­ge­halt geprüft und die Rege­lung mit der Rea­li­tät abge­gli­chen. Zusätz­lich flie­ßen die Ergeb­nis­se einer bun­des­wei­ten Umfra­ge in die Ana­ly­se ein. Bei der schein­bar objek­ti­ven empi­ri­schen »Bedarfs­er­mitt­lung« zei­gen sich gra­vie­ren­de Män­gel. Sehr vie­le Bedar­fe von Asyl­su­chen­den lässt der Gesetz­ge­ber ohne nach­voll­zieh­ba­re Begrün­dung ein­fach unter den Tisch fallen.

Das Asyl­bLG ver­stößt gegen die Men­schen­wür­de und das Sozi­al­staats­prin­zip, das Gleich­heits­ge­bot, die UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on und wei­te­re Vorgaben.

Im Ergeb­nis steht die Erkennt­nis, dass die Leis­tun­gen für Geflüch­te­te nach dem Asyl­bLG dem Bedarf der Betrof­fe­nen nicht gerecht wer­den. Dass Geflüch­te­te weni­ger Sozi­al­leis­tun­gen brau­chen als ande­re Men­schen, kann die Bun­des­re­gie­rung nicht bele­gen. Für erneu­te Kür­zun­gen wie den 2019 ein­ge­führ­ten 10-pro­zen­ti­gen Abzug für Allein­ste­hen­de in Sam­mel­un­ter­künf­ten, begrün­det mit der Fik­ti­on eines angeb­li­chen Zusam­men­wirt­schaf­tens der Men­schen in einer Unter­kunft, fehlt jede empi­ri­sche Grund­la­ge. Die Sach­leis­tungs­ver­sor­gung in Sam­mel­la­gern führt in der Pra­xis zu gra­vie­ren­den wei­te­ren Kür­zun­gen. So ver­stößt das Asyl­bLG gegen die Men­schen­wür­de und das Sozi­al­staats­prin­zip, das Gleich­heits­ge­bot, die UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on und wei­te­re Vorgaben.

Das AsylbLG ist insgesamt nicht zu rechtfertigen

Das Asyl­bLG wur­de 1993 geschaf­fen – in einer Zeit grö­ße­rer Asyl­an­trags­zah­len, einer explo­si­ven flücht­lings­feind­li­chen Stim­mungs­ma­che und ras­sis­ti­scher Anschlä­ge und Mor­de. Es war von Anfang an dazu gedacht, über eine mög­lichst schä­bi­ge Behand­lung und Leis­tungs­ein­schrän­kun­gen geflüch­te­te Men­schen wie­der zur Aus­rei­se zu bewe­gen. Die Ana­ly­se von PRO ASYL und dem Ber­li­ner Flücht­lings­rat lie­fert alle Argu­men­te und Nach­wei­se dafür, dass die Wür­de geflüch­te­ter Men­schen und ihr Recht auf Gleich­heit durch das Asyl­bLG ekla­tant miss­ach­tet wird. Das ist kei­ne neue Erkennt­nis für die­je­ni­gen, die die Rea­li­tät des Asyl­bLG seit Jah­ren beob­ach­ten – aber eine ein­zig­ar­ti­ge, akri­bi­sche Beweis­füh­rung, die das Gesetz als Gan­zes infra­ge stellt.

Die Ampel-Regie­rungs­ko­ali­ti­on hat im Koali­ti­ons­ver­trag von 2021 fest­ge­hal­ten, sie wol­le das Asyl­bLG »im Lich­te der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts wei­ter­ent­wi­ckeln«. Das ist zu wenig: PRO ASYL und Flücht­lings­rä­te for­dern die Abschaf­fung des dis­kri­mi­nie­ren­den Son­der­ge­set­zes und die Ein­be­zie­hung aller Geflüch­te­ten in das Bürgergeldgesetz.

 

ak