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Das Asylbewerberleistungsgesetz und das Existenzminimum. Eine Analyse der Regelsätze
Eine umfassende Analyse von PRO ASYL und dem Flüchtlingsrat Berlin zeigt im Detail die Defizite bei der Berechnung und Begründung der Regelsätze nach dem AsylbLG und anderer Sozialleistungen sowie die Leistungskürzungen durch das AsylbLG in der Praxis. Klar wird: Das Sondergesetz für Asylsuchende ist diskriminierend und gehört abgeschafft.
Wenn das Bürgergeldgesetz kommt, wird Hartz IV einen neuen Namen bekommen, die Beträge werden inflationsbedingt angehoben und es wird wohl auch Erleichterungen bei Freibeträgen und Sanktionen geben. Etwas Wesentliches aber ändert sich nicht: Viele Geflüchtete erhalten weiterhin keine regulären Sozialleistungen. Die diskriminierenden Ausschlüsse für Asylsuchende und Geduldete aus Hartz IV werden unverändert in das Bürgergeldgesetz übernommen (§ 7 Abs. 1 SGB II) – sie werden weiterhin auf das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verwiesen. Damit vertut die Bundesregierung die große Chance, alle Geflüchteten endlich in das normale Sozialsystem zu integrieren.
Anlässlich der Verabschiedung des Bürgergeldgesetzes legt PRO ASYL gemeinsam mit dem Flüchtlingsrat Berlin eine umfassende Analyse vor: »Das Asylbewerberleistungsgesetz – Einschränkungen des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für Geflüchtete. Bedarfsdeckung und Regelsätze nach Asylbewerberleistungsgesetz, Hartz IV und Bürgergeldgesetz.«
Mit dem AsylbLG wurde ein Leistungsniveau deutlich unterhalb der normalen Sozialleistungen geschaffen.
Recht auf menschenwürdiges Existenzminimum gilt für alle
Das AsylbLG sieht Sachleistungen für Essen, Kleidung und Unterkunft, eine menschenrechtswidrige Minimalmedizin, gekürzte Geldleistungen für Erwachsene und Kinder, eine nochmalige 10%ige Kürzung für Alleinstehende und Alleinerziehende in Sammelunterkünften sowie Sanktionen mit Kürzungen der Regelleistungen um weit mehr als die Hälfte vor. Damit wurde mit dem AsylbLG ein Leistungsniveau deutlich unterhalb der normalen Sozialleistungen geschaffen. Die sollen aber laut Gesetz den Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, »dass der Würde des Menschen entspricht« – so steht es unter anderem in § 1 Abs.1 SGB II.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2012 ausdrücklich festgestellt, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für alle in Deutschland lebenden Menschen gleichermaßen gilt, und dass dieses Grundrecht nicht aus migrationspolitischen Gründen relativiert werden darf.
Derzeit – Ende 2022 – steht das AsylbLG erneut beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf dem Prüfstand (Aktenzeichen 1 BvL 3/21 und 1 BvL 5/21). In diversen juristischen Stellungnahmen haben angefragte Organisationen ihre Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des AsylbLG ausgeführt. Auch die vorliegende Analyse von PRO ASYL und Berliner Flüchtlingsrat ist in ihrer ursprünglichen Fassung als Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht geschrieben worden. Autor Georg Classen hat als Berater und Experte die Entwicklung des AsylbLG in den fast 30 Jahren seiner Existenzintensiv begleitet. Er kennt und versteht wie kein anderer die schlecht begründeten Winkelzüge der diversen Gesetzesverschärfungen, die hinter dem Gesetzeswortlaut versteckten Leistungskürzungen und die alltäglichen Fehler und Rechtsbrüche der Behörden bei der Auslegung des AsylbLG.
Die Berechnung der Regelsätze ist mangelhaft
Im Detail werden Historie und Zielsetzung des Gesetzes sowie die Methodik zur Ermittlung der Hartz-IV-Regelsätze (künftig »Bürgergeld«) und der Leistungssätze des AsylbLG untersucht. In der Analyse werden alle einzelnen »Bedarfsposten«, aus denen sich die Regelsätze zusammensetzen, vom Strom bis zur Seife, unter die Lupe genommen. Jede Streichung einzelner Posten wird betrachtet, jede Kürzung auf ihren Begründungsgehalt geprüft und die Regelung mit der Realität abgeglichen. Zusätzlich fließen die Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage in die Analyse ein. Bei der scheinbar objektiven empirischen »Bedarfsermittlung« zeigen sich gravierende Mängel. Sehr viele Bedarfe von Asylsuchenden lässt der Gesetzgeber ohne nachvollziehbare Begründung einfach unter den Tisch fallen.
Das AsylbLG verstößt gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip, das Gleichheitsgebot, die UN-Kinderrechtskonvention und weitere Vorgaben.
Im Ergebnis steht die Erkenntnis, dass die Leistungen für Geflüchtete nach dem AsylbLG dem Bedarf der Betroffenen nicht gerecht werden. Dass Geflüchtete weniger Sozialleistungen brauchen als andere Menschen, kann die Bundesregierung nicht belegen. Für erneute Kürzungen wie den 2019 eingeführten 10-prozentigen Abzug für Alleinstehende in Sammelunterkünften, begründet mit der Fiktion eines angeblichen Zusammenwirtschaftens der Menschen in einer Unterkunft, fehlt jede empirische Grundlage. Die Sachleistungsversorgung in Sammellagern führt in der Praxis zu gravierenden weiteren Kürzungen. So verstößt das AsylbLG gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip, das Gleichheitsgebot, die UN-Kinderrechtskonvention und weitere Vorgaben.
Das AsylbLG ist insgesamt nicht zu rechtfertigen
Das AsylbLG wurde 1993 geschaffen – in einer Zeit größerer Asylantragszahlen, einer explosiven flüchtlingsfeindlichen Stimmungsmache und rassistischer Anschläge und Morde. Es war von Anfang an dazu gedacht, über eine möglichst schäbige Behandlung und Leistungseinschränkungen geflüchtete Menschen wieder zur Ausreise zu bewegen. Die Analyse von PRO ASYL und dem Berliner Flüchtlingsrat liefert alle Argumente und Nachweise dafür, dass die Würde geflüchteter Menschen und ihr Recht auf Gleichheit durch das AsylbLG eklatant missachtet wird. Das ist keine neue Erkenntnis für diejenigen, die die Realität des AsylbLG seit Jahren beobachten – aber eine einzigartige, akribische Beweisführung, die das Gesetz als Ganzes infrage stellt.
Die Ampel-Regierungskoalition hat im Koalitionsvertrag von 2021 festgehalten, sie wolle das AsylbLG »im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterentwickeln«. Das ist zu wenig: PRO ASYL und Flüchtlingsräte fordern die Abschaffung des diskriminierenden Sondergesetzes und die Einbeziehung aller Geflüchteten in das Bürgergeldgesetz.
ak