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»Es gibt kein wirklich geregeltes Verfahren« – beim Familiennachzug herrscht Chaos
Rechtsanwältin Lena Ronte betreut rund 180 Familien in ihren Verfahren zum Familiennachzug. Sie berichtet, was sich geändert hat, seit das »Familiennachzugsneuregelungsgesetz« vor genau einem Jahr in Kraft getreten ist – und wie chaotisch der Verfahrensablauf immer noch ist.
PRO ASYL: Seit 1. August 2018 ist das sogenannte Familiennachzugsneuregelungsgesetz in Kraft. Sie betreuen viele Familiennachzugsfälle – was lässt sich nach einem Jahr Praxis sagen?
Lena Ronte: Meines Erachtens wurden bereits bei der Registrierung bei den Botschaften die Weichen falsch gestellt. Bis zum 1. August 2018 hatte jede Auslandsvertretung ihre eigene Terminliste, in die man sich eintragen lassen konnte, über zum Teil unterschiedliche Verfahren. Ab dem 1. August wurde eine zentrale Liste beim Auswärtigen Amt (AA) eingerichtet, mit zunächst unterschiedlichen Aussagen des AA darüber, ob die Terminanfragen von den alten Listen übertragen würden, oder ob sich Betroffene in diese Liste neu eintragen müssten. Das hat zu einem kompletten Chaos geführt. Ob tatsächlich eine Übertragung der alten Listen in die zentrale Liste erfolgt ist, bleibt unklar.
Es gab dann aber eben auch viele Doppel-Registrierungen – mit der Folge, dass das AA den Überblick darüber verloren hat, wie viel Registrierte es gibt, welche Familienmitglieder zusammengehören, etc. Dadurch, dass auf einigen Listen jedes Familienmitglied einen eigenen Termin buchen musste und rein technisch nicht angegeben werden konnte, welche Familienmitglieder zusammengehören, kann die Botschaft die Familien nicht im Verbund einladen.
»Das Auswärtige Amt ist offensichtlich nicht in der Lage, Mehrfachregistrierungen zu erkennen oder zusammengehörende Namen abzugleichen.«
Wie verlässlich ist dann die offizielle Zahl zu den Terminanfragen bei den Botschaften – Ende Januar 2019 sollen es rund 36.000 gewesen sein?
Besonders verlässlich kann sie aufgrund der beschriebenen Situation nicht sein. Das AA ist offensichtlich nicht in der Lage, Mehrfachregistrierungen zu erkennen oder zusammengehörende Namen abzugleichen. In anderen Fällen wurde die Anhörung z.B. bereits durchgeführt, aber die Betroffenen waren noch unter den Terminanfragen gelistet.
Nehmen wir an, Familienangehörige haben sich registriert und warten nun auf den Botschaftstermin. Was für Probleme können da auftreten?
Die Einschränkung des Nachzugs zu subsidiär Geschützten zieht sich ja schon eine ganze Weile hin. Dadurch, dass die betroffenen Familien schon so lange auf der Liste sind, kommt es regelmäßig dazu, dass sie z.B. nach einem Jahr einfach nicht mehr erreichbar sind oder in der Zwischenzeit keinen Zugang zum Internet mehr haben. Die Wartezeiten sind auch vollkommen unterschiedlich, unabhängig davon, wann man sich registriert hat. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat vielerorts die Annahme und Prüfung der Anträge auf Familiennachzug für die Botschaften übernommen. Der IOM gelingt es nicht, die Registrierungen chronologisch abzuarbeiten. Es kommt eher darauf an, ob man sich zufällig in der Nähe eines IOM-Büros befindet und so quasi selbst aktiv werden und bei der IOM vorsprechen kann. Die Anträge derer, die es zur IOM schaffen, werden eher bearbeitet als die Anträge derer, die in entlegenen Gegenden wohnen und eben nicht ohne weiteres nach Erbil oder Nairobi kommen können.
Welche Probleme gibt es bei der Terminvergabe?
Das ganze Verfahren verläuft natürlich insgesamt weiterhin extrem schleppend. Viele meiner Mandant*innen warten erfahrungsgemäß ein Jahr, anderthalb Jahre auf einen Termin bei den Botschaften. Seit Januar 2018 betreue ich rund 180 Fälle von Familien, die ich für einen Termin registriert habe. Die meisten stammen aus den ostafrikanischen Ländern. Wir haben seitdem nur etwa 5–10 Mitteilungen von der IOM bekommen, dass sich unsere Mandant*innen melden sollen. Das ist vor dem Hintergrund, dass wir im Januar 2018 begonnen haben zu registrieren, ein Witz.
Die IOM hat die Aufgaben, die früher bei den Botschaften ausgeführt wurden, weitestgehend übernommen. Wie sind die Erfahrungswerte bislang?
Die IOM kontaktiert die Antragsteller*innen, prüft, ob alles vorgelegt wurde und führt die Anhörung durch. Erst wenn die IOM der Meinung ist, dass alle Unterlagen vollständig sind, wird der Antrag an die Botschaften »weitergereicht«. Für uns als Anwält*innen ist zumindest die Kommunikation mit der IOM deutlich besser als früher direkt mit den Botschaften, wo wir zum Teil über Monate keine Rückmeldung bekommen haben.
Es gibt IOM-Büros in Amman, Beirut, Erbil und Istanbul, neuerdings auch in Addis Abeba, Kairo, Khartum, Nairobi und Kabul. In Afghanistan wäre es in Kabul sinnvoll, wenn IOM auch die förmlichen Anträge entgegennehmen und diese per Kurier an die Botschaften nach Islamabad oder Neu-Delhi senden könnte. Denn für die Betroffenen kann die Fahrt dorthin lebensgefährlich werden – die Taliban kontrollieren die Überlandstraßen und Flüge können sich viele gar nicht leisten.
Wie groß sind die Hürden bei der Einreichung von Unterlagen? Dokumente beschaffen ist ja in vielen Herkunftsländern ziemlich problematisch.
Am schwierigsten ist die Lage sicherlich in Ostafrika. In Somalia zum Beispiel existiert de facto kein Urkundewesen, dennoch werden die Antragsteller*innen immer wieder aufgefordert, somalische Urkunden vorzulegen. Mit der Folge, dass die Betroffenen Urkunden unklarer Herkunft beschaffen müssen und die Botschaft, nachdem sie die Familien mit Nachdruck aufgefordert hat, Urkunden aus Somalia zu beschaffen, dann mit dem gleichen Nachdruck die Anträge ablehnt, weil vermeintlich gefälschte Urkunden vorgelegt worden sind. Das ist absurd! Die IOM verlangt weiter nach Schema F einen Pass, Geburtsurkunde und Heiratsurkunde und gegebenenfalls auch einen DNA-Abgleich.
Für eritreische Flüchtlinge ist die Beschaffung von Dokumenten ebenfalls äußerst schwierig. Hinzu kommt, dass die Auslandsvertretungen beispielsweise gültige, aber nicht registrierte Eheschließungen im gewöhnlichen Antragsverfahren nicht akzeptieren wollen, mit der Begründung diese Ehen seien unwirksam. Im sogenannten Remonstrationsverfahren werden die religiös geschlossenen Ehen dann oft doch als wirksam anerkannt. Es drängt sich der Eindruck auf, man kalkuliert damit, dass Antragssteller*innen nach der Ablehnung einfach aufgeben. In Syrien ist die Urkundensituation verhältnismäßig gut, d.h. es existieren beispielsweise noch Familienregister, Pässe und Urkunden werden noch ausgestellt, etc.
»Allein schon der Versand der DNA-Probe aus Deutschland nach Afghanistan und die Abwicklung der DNA-Analyse durch ein Medical Center vor Ort hat in diesem Fall umgerechnet ca. 1.000 Dollar gekostet.«
Afghanistan ist absolut unzumutbar. Ich betreue gerade eine alleinerziehende Mutter mit Kleinkind aus der Provinz Kandahar. Die Mutter wird nach Kabul zum IOM zum Vorsprechen bestellt, soll fehlende Unterlagen beschaffen und soll dann zur Visumerteilung nach Islamabad reisen. Der Vater der Familie ist gestorben, ohne männliche Angehörige werden keine Dokumente ausgestellt. Wir können aber nicht einmal seinen Tod nachweisen, weil es keine Sterbeurkunde gibt. Ich wüsste nicht, wie die Leute in solchen Fällen ohne einen Rechtsbeistand überhaupt vorankommen sollen. Die Beschaffung der Unterlagen ist nicht nur kompliziert, sondern auch extrem kostspielig.
Allein schon der Versand der DNA-Probe aus Deutschland nach Afghanistan und die Abwicklung der DNA-Analyse durch ein Medical Center vor Ort hat in diesem Fall umgerechnet ca. 1.000 Dollar gekostet. Warum die DNA-Probe nicht unkompliziert mit Wattestäbchen bei der IOM in Kabul genommen werden kann, verstehe ich nicht. Es müsste auch seitens des AA möglich sein, einen Fingerabdruckscanner bei der IOM in Kabul einzurichten und die Verfahren dann insgesamt, wie oben bereits angesprochen, über die IOM laufen zu lassen.
Nach der Aussetzung des Familiennachzugs zwischen März 2016 und Juli 2018 war es klar, dass es vermehrt Terminanfragen bei den Botschaften geben wird. Hätten nicht in der Zwischenzeit Strukturen für einen geordneten Ablauf aufgebaut werden können?
Ich glaube, da ist gar nichts passiert. Schon 2016 war klar, dass es die Aussetzung zwei Jahre geben wird, dass es für 2018 und die Zeit danach Lösungen und Strukturen geben muss: die Botschaften ausbauen, das Personal aufstocken, standardisierte Verfahren einführen, etc. Im Augenblick ist es immer noch ein einziger Flickenteppich. Das AA begründet beispielsweise die verhältnismäßig kleine Zahl der Personen, die sich in den Botschaften allein um die Visavergabe für den Familiennachzug kümmern, damit, es seien für die Bewerber*innen unattraktive Stellen. Dann soll man sie doch attraktiver machen!
Die Anlaufschwierigkeiten waren offenkundig sichtbar, die Monatskontingente wurden zunächst gar nicht erschöpft. Jetzt vermeldet die Bundesregierung, dass es für 2019 besser läuft. Sind die Probleme damit vom Tisch?
Überhaupt nicht. Meines Erachtens überdecken diese Zahlen, was im Hintergrund alles immer noch schiefläuft. Zwar ist jetzt die IOM vorgeschaltet und bereitet die Anträge für die Botschaften vor, aber dass es da ein geregeltes Verfahren in der Umsetzung dieses Gesetzes seit 1. August 2018 gibt, erschließt sich mir nicht.
»Die Anträge werden von der IOM zurück an das AA gereicht, das AA reicht es an die kommunalen Ausländerbehörden in Deutschland weiter, dort bleiben die Anträge schon mal liegen, weil niemand so richtig weiß, was zu tun ist und dann gehen die Anträge wieder zurück an die jeweilige Auslandsvertretung, die diese dann wiederum nach Deutschland an das Bundesverwaltungsamt (BVA) weiterleitet.«
Die Anträge werden von der IOM zurück an das AA gereicht, das AA reicht es an die kommunalen Ausländerbehörden in Deutschland weiter, dort bleiben die Anträge schon mal liegen, weil niemand so richtig weiß, was zu tun ist und dann gehen die Anträge wieder zurück an die jeweilige Auslandsvertretung, die diese dann wiederum nach Deutschland an das Bundesverwaltungsamt (BVA) weiterleitet. Was dort passiert, weiß ich offen gesagt nicht. Was mit den Anträgen passiert, die nicht in das jeweilige Monatskontingent kommen, ob sie es in das nächste schaffen, wissen wir ebenfalls nicht. Bislang hat man es lediglich einigermaßen reguliert, dass in etwa 1.000 Anträge angenommen bzw. jeweils weitergereicht werden und am Ende rund 1.000 Visa erteilt werden.
»Das sieht eher nach einer Spontanlösung aus, um das Chaos einigermaßen im Griff zu haben, aber ein durchdachter Plan von Anfang bis Ende des Verfahrens ist das nicht.«
Mein Eindruck ist: Das sieht eher nach einer Spontanlösung aus, um das Chaos einigermaßen im Griff zu haben, aber ein durchdachter Plan von Anfang bis Ende des Verfahrens ist das nicht. Es erging z.B. erst im Januar 2019 eine hinreichende Stellungnahme des Bundesinnenministeriums an die Ausländerbehörden, wie sie mit Anträgen umzugehen haben – all das hätte im Vorhinein ausgearbeitet werden können.
Es hapert bei der Umsetzung also praktisch bei jedem Schritt. Was ist vom Grundkonstrukt zu halten? Mit dem sogenannten Familiennachzugsneuregelungsgesetz wurde ein Kontingent eingeführt, das den Betroffenen quasi nur portionsweise ein elementares Grundrecht, das Recht auf Familie, gewährt.
Meines Erachtens läuft dieses Gesetz der Kinderrechtskonvention zuwider. 2018 wurden rund 2.400 Plätze nicht vergeben – was mit ihnen geschieht, ist unklar. Es ist auch vollkommen unersichtlich für die Betroffenen, ob und wann sie in das nächste Kontingent kommen und auch, welche rechtlichen Handlungsoptionen sie haben, wenn ihr Antrag auf der Strecke bleibt. Eine Möglichkeit zu klagen gibt es bei Ablehnungen, aber bislang sind uns keine Fälle bekannt, in denen Ablehnungen damit begründet wurden, dass das Kontingent ausgeschöpft sei.
Und überhaupt: Sich noch im Laufe des Nachzugsverfahrens mit einer Klage zu ihrem*seinem Recht zu verhelfen, dürfte für die meisten Betroffenen noch zermürbender sein. Viele sind durch die Aussetzung jetzt schon Jahre von ihren Familien getrennt. In der Zwischenzeit sind die Kinder womöglich noch volljährig geworden, was ihr Nachzugsrecht zumindest einschränkt. Wie das AA mit diesen Fällen umgeht ist bisher unklar. Letztlich müsste das AA die Registrierung dieser Kinder vor Volljährigkeit ausreichen lassen, denn eine Antragsstellung vor Volljährigkeit wäre erfolgt, wenn es ein geregeltes Verfahren gäbe. Gleiches gilt für den Elternnachzug zu subsidiär Geschützten, die nach Auffassung des AA nach Eintritt der Volljährigkeit des hierlebenden Kindes ihren Rechtsanspruch verlieren.
»Es ist jetzt schon klar, dass es Familien gibt, die jetzt das vierte Jahr voneinander getrennt sind. Wenn sie es immer wieder nicht in das Monatskontingent schaffen, bedeutet das ihre Trennung auf unbestimmte Zeit.«
Was oft vergessen wird: Etwa fünf Monate vor der Einführung der Aussetzung wurden in Deutschland die Rechte von Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention und den subsidiär Geschützten angeglichen d.h. das Recht auf Familiennachzug für subsidiär Geschützte wurde dem Recht für Anerkannte angeglichen. Der Nachzug erfolgte unter den gleichen privilegierten Bedingungen. Dann kam nur wenige Monate später der Einschnitt: ein Schritt vor, zehn Schritte zurück.
Es ist jetzt schon klar, dass es Familien gibt, die jetzt das vierte Jahr voneinander getrennt sind. Wenn sie es immer wieder nicht in das Monatskontingent schaffen, bedeutet das ihre Trennung auf unbestimmte Zeit – ein klarer Verstoß gegen Verfassungs- und Völkerrecht.
Das Interview führte Anđelka Križanović.