31.07.2019
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Symbolbild: picture alliance / blickwinkel

Am 1. August 2018 wurde das Grundrecht auf Familie für subsidiär Geschützte in ein Gnadenkontingent von 1.000 Personen pro Monat umgewandelt. Auf die Betroffenen wartet ein Bürokratie-Dschungel ohne jede zeitnahe Perspektive und Planungssicherheit, ob und wann sie es in das Monatskontingent schaffen werden.

12%

See­ho­fer pro­gnos­ti­zier­te 300.000 poten­ti­ell nach­zie­hen­de Ange­hö­ri­ge. Bis Janu­ar haben bloß 36.000 Men­schen eine Ter­min­an­fra­ge gestellt.

Noch vor einem Jahr war die Debat­te um den Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Geschütz­ten in den Medi­en all­ge­gen­wär­tig. Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer betrieb mit der Pro­gno­se über bis zu 300.000 poten­ti­ell nach­kom­men­den Ange­hö­ri­gen Panikmache.

Ein Jahr spä­ter ist die öffent­li­che Debat­te weit­ge­hend ver­stummt. See­ho­fers Zah­len erwei­sen sich völ­lig über­höht: Ende Janu­ar 2019 ver­zeich­ne­te Bun­des­re­gie­rung bei den Bot­schaf­ten rund 36.000 Ter­min­an­fra­gen für ein Visum­ver­fah­ren – ein Bruch­teil der Pro­gno­se des Innen­mi­nis­ters. Das Leid der immer noch getrenn­ten Fami­li­en wur­de jedoch unter die Wahr­neh­mungs­schwel­le gedrückt.

Dem Bürokratie-Dschungel ausgeliefert

Seit 1. August 2018 ist das soge­nann­te »Fami­li­en­nach­zugs­neu­re­ge­lungs­ge­setz« in Kraft. Wer in das Monats­kon­tin­gent kommt (und wann), wird in einem schwer durch­schau­ba­ren Geflecht aus meh­re­ren Behör­den bear­bei­tet und ent­schie­den. Betei­ligt sind das Aus­wär­ti­ge Amt (teil­wei­se unter­stützt durch die Inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM)), die kom­mu­na­len Aus­län­der­be­hör­den sowie das Bundesverwaltungsamt.

Unter das Kon­tin­gent fal­len kön­nen nur engs­te Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge (min­der­jäh­ri­ge Kin­der, Eltern oder Ehe­leu­te; aus­ge­schlos­sen sind grund­sätz­lich min­der­jäh­ri­ge Geschwis­ter) und auch nur in beson­ders gela­ger­ten »huma­ni­tä­ren« Fällen.

Gewiss sind nur das Warten und die Ungewissheit 

Der Regis­trie­rung bei einer Bot­schaft folgt das War­ten auf einen Ter­min für die Anhö­rung, das je nach Aus­lands­ver­tre­tung meh­re­re Wochen, man­cher­orts aber auch Mona­te dau­ern kann. Dazu kommt die mona­te­lan­ge Bear­bei­tungs­zeit: Die Bot­schaft in Bei­rut bei­spiels­wei­se gibt eine Regel­be­ar­bei­tungs­zeit von 8 Mona­ten an, in eini­gen Fäl­len auch dar­über hin­aus bis zu 12 Mona­ten.  Auch an den ande­ren Aus­lands­ver­tre­tun­gen sind die War­te­zei­ten enorm: bis zu 30 Wochen in Addis Abe­ba und bis zu 18 Mona­te in Nai­ro­bi (sie­he Bun­des­tags-Druck­sa­che 19/11840)

12 Mona­te War­te­zeit in Beirut.
18 Mona­te War­te­zeit in Nairobi.
30 Wochen War­te­zeit in Addis Abeba.

Das ohne­hin knapp gede­ckel­te Monats­kon­tin­gent wird nicht ein­mal aus­ge­schöpft. In den ver­gan­ge­nen 11 Mona­ten wur­den rund 8.800 Visa an Ange­hö­ri­ge von sub­si­di­är Geschütz­ten erteilt; 11.000 wären mög­lich gewe­sen. Hin­zu kommt, dass die deut­schen Aus­lands­ver­tre­tun­gen im Juni 2019 nur 773 neue Visum­an­trä­ge bear­bei­tet haben. Es steht zu befürch­ten, dass in den kom­men­den Mona­ten das Kon­tin­gent erneut nicht aus­ge­schöpft wird.

Familien leiden unter den Folgen

Die Rege­lung trifft vor allem syri­sche Fami­li­en hart. Allein bei der Bot­schaft in Bei­rut sind der­zeit rund 15.000 Ter­min­an­fra­gen auf eine Zusam­men­füh­rung zu sub­si­di­är Geschütz­ten anhän­gig. Die Rea­li­tät in Syri­en macht eine Rück­kehr unmög­lich (vgl. hier­zu die Ent­schei­dung der Innen­mi­nis­ter­kon­fe­renz der Län­der zu einem Abschie­be­stopp nach Syri­en). Die Fami­li­en­ein­heit kann nur in Deutsch­land her­ge­stellt werden.

Drei Beispiele aus der Praxis

Das lan­ge War­ten und Ban­gen geht für vie­le Fami­li­en aus Syri­en wei­ter, so auch für Luna, die Fami­lie Ghazal und den jugend­li­chen Flücht­ling N.

Luna A.* lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einem Vor­ort von Damas­kus. Als ihr Ehe­mann als Reser­vist zum Mili­tär­dienst ein­be­ru­fen wird, flieht er und ver­steckt sich. Nach­dem das Haus der Fami­lie bom­bar­diert und dabei ihr klei­ner Sohn ver­letzt wird, ent­schei­det sich Luna, den von der syri­schen Armee ein­ge­kes­sel­ten Ort zu verlassen.

Luna ist wie­der schwan­ger, als sie sich mit ihrem klei­nen Sohn auf den beschwer­li­chen Weg nach Euro­pa macht. Sie flieht über die Bal­kan-Rou­te und muss ihren ein­jäh­ri­gen Sohn über wei­te Stre­cken selbst tra­gen. Vor Erschöp­fung bricht Luna in Ser­bi­en zusam­men und muss eini­ge Zeit im Kran­ken­haus behan­delt wer­den. Im Novem­ber 2015 erreicht sie end­lich Deutsch­land. Vier Mona­te spä­ter kommt ihre Toch­ter auf die Welt.

Im August 2016 spricht das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) ihr sub­si­diä­ren Schutz zu. Der Nach­zug ihres Man­nes ist erst ein­mal aus­ge­setzt. Luna geht es sehr schlecht. Sie ist in stän­di­ger Sor­ge um ihren Mann und am Ende ihrer Kräf­te. Lunas Ehe­mann befin­det sich der­weil im Irak. Kurz bevor die Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs endet, bean­tragt er einen Ter­min bei der deut­schen Aus­lands­ver­tre­tung in Erbil. Doch die Aus­set­zung wird erst ver­län­gert und dann auf 1000 Men­schen pro Monat begrenzt.

Die Fami­lie lebt nun seit über drei Jah­ren getrennt. Die drei­jäh­ri­ge Toch­ter hat ihren Vater noch nie getrof­fen. Regel­mä­ßig fragt Luna bei den zustän­di­gen Behör­den nach, erhält jedoch kei­ne kla­ren Antworten.

Ende März die­sen Jah­res bekommt der Ehe­mann end­lich den Ter­min für die Vor­spra­che beim deut­schen Gene­ral­kon­su­lat mit­ge­teilt. Kurz vor­her wird er noch ein­mal auf Ende Mai ver­scho­ben. Doch dann kann er vor­spre­chen und den Antrag auf Fami­li­en­nach­zug stel­len. Unge­dul­dig war­tet die Fami­lie bis heu­te auf die Ertei­lung des Visums. Wann wird er unter den 1000 des Monats sein?

Der 48-jäh­ri­ge Fami­li­en­va­ter Moham­med Ghazal lebt seit fast vier Jah­ren in Deutsch­land. Er flüch­te­te Ende Sep­tem­ber 2015 über die Bal­kan­rou­te nach Deutsch­land und woll­te sei­ne Frau und die bei­den Töch­ter so schnell wie mög­lich nach­ho­len. Doch als ihm nach über einem Jahr War­te­zeit nur der sub­si­diä­re Schutz­sta­tus zuer­kannt ist ihm klar, dass das gemein­sa­me Fami­li­en­le­ben in wei­te Fer­ne rückt. Er klagt auf die Flücht­lings­an­er­ken­nung, aber das Ver­fah­ren zieht sich. Doch es soll­te noch schlim­mer kommen.

Die Ehe­frau und die Töch­ter bean­tra­gen einen Ter­min bei der Deut­schen Bot­schaft in Bei­rut in der Hoff­nung und im Ver­trau­en dar­auf, dass die gesetz­li­che Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs im März 2018 aus­lau­fen wür­de. Zu die­sem Zeit­punkt ist die älte­re Toch­ter Maya noch 17 Jah­re alt und gehört damit nach deut­scher Rechts­la­ge zur Kern­fa­mi­lie. Doch dann kommt es anders. CDU/CSU und SPD ver­län­gern die Aus­set­zung bis zum 31.07.2018. Im glei­chen Monat wird Maya voll­jäh­rig. Wegen der Ver­län­ge­rung der Aus­set­zung kann die Fami­lie den Antrag nicht mehr recht­zei­tig vor ihrem Geburts­tag stel­len. Nun ist sie vom Fami­li­en­nach­zug, der nur die Kern­fa­mi­lie umfasst, ausgeschlossen.

Trau­ri­ge Gewiss­heit, dass die Ter­min­bu­chung nicht als aus­rei­chend erach­tet wird für die Wah­rung der Frist, bekommt die Fami­lie im Dezem­ber 2018: Die deut­sche Bot­schaft teilt mit, dass der Antrag von Maya auf­grund der Voll­jäh­rig­keit vom Ver­fah­ren der Fami­lie her­aus­ge­nom­men wur­de. Maya muss nun in einer ande­ren Kate­go­rie einen Ter­min buchen – als ‚sons­ti­ge Familienangehörige‘.

Weder die Bemü­hun­gen von Moham­med Ghazal, den Lebens­un­ter­halt für sei­ne Fami­lie zu sichern, noch der Fleiß von Maya, die schon lan­ge ange­fan­gen hat, Deutsch zu ler­nen oder die ihr dro­hen­de Gefähr­dungs­la­ge für allein­ste­hen­de Frau­en in Syri­en sind aus­rei­chend, um sicher sein zu kön­nen, dass Maya ein sol­ches Visum erhält.

Anfang die­sen Monats haben die Mut­ter und die klei­ne Schwes­ter ihre Visa erhal­ten, doch sie kön­nen Maya nicht allein in Syri­en zurück­las­sen. Die Fami­lie hat kei­ne wei­te­ren Ange­hö­ri­gen mehr in Syri­en, wo Maya leben könn­te. Die bei­den zögern, auszureisen.

Im Jahr 2014 flieht N. mit sei­nen Eltern und den drei jün­ge­ren Geschwis­tern aus der Regi­on Afrin in die Tür­kei. Der Grund: sein Vater soll­te zum syri­schen Mili­tär ein­ge­zo­gen wer­den. Die Fami­lie befürch­te­te auch, dass der damals 14-jäh­ri­ge N. bald ein­ge­zo­gen würde.

Gemein­sam mit dem Onkel flieht N. wei­ter in nach Deutsch­land und stellt dort einen Asyl­an­trag. Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) erkennt N. ledig­lich den sub­si­diä­ren Schutz zu.

Die kur­di­sche Fami­lie hat­te eigent­lich gehofft, bald in die Hei­mat zurück­keh­ren zu kön­nen. Seit dem Ein­marsch des tür­ki­schen Mili­tärs in die Regi­on Afrin im Janu­ar 2018 gibt es die­se Hoff­nung aktu­ell aller­dings nicht mehr. Anfang 2018 kom­men bei einem Bom­ben­an­griff meh­re­re Ver­wand­te ums Leben.

N. lebt seit zwei Jah­ren als Pfle­ge­kind bei Pfle­ge­el­tern. Obwohl ihm die Tren­nung von sei­nen Eltern und Geschwis­tern sehr zu schaf­fen macht, hat er sei­nen Haupt­schul­ab­schluss gemacht und eine Aus­bil­dung zum Anla­gen­me­cha­ni­ker begonnen.

Doch seit N. im letz­ten Jahr voll­jäh­rig gewor­den ist, ist ihm klar, dass für sei­ne Fami­lie kei­ne Chan­ce mehr auf Fami­li­en­nach­zug besteht. Plötz­lich gehört sie nach deut­scher Rechts­la­ge nicht mehr zu sei­ner Kern­fa­mi­lie. Für N. fühlt sich das nicht so an. Er ist ver­zwei­felt. Immer wie­der über­legt er, alles auf­zu­ge­ben und zu sei­ner Fami­lie in die Tür­kei zu gehen.

 

(akr)