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Bittere Bilanz nach einem Jahr Familiennachzugsneuregelungsgesetz
Am 1. August 2018 wurde das Grundrecht auf Familie für subsidiär Geschützte in ein Gnadenkontingent von 1.000 Personen pro Monat umgewandelt. Auf die Betroffenen wartet ein Bürokratie-Dschungel ohne jede zeitnahe Perspektive und Planungssicherheit, ob und wann sie es in das Monatskontingent schaffen werden.
Noch vor einem Jahr war die Debatte um den Familiennachzug zu subsidiär Geschützten in den Medien allgegenwärtig. Bundesinnenminister Seehofer betrieb mit der Prognose über bis zu 300.000 potentiell nachkommenden Angehörigen Panikmache.
Ein Jahr später ist die öffentliche Debatte weitgehend verstummt. Seehofers Zahlen erweisen sich völlig überhöht: Ende Januar 2019 verzeichnete Bundesregierung bei den Botschaften rund 36.000 Terminanfragen für ein Visumverfahren – ein Bruchteil der Prognose des Innenministers. Das Leid der immer noch getrennten Familien wurde jedoch unter die Wahrnehmungsschwelle gedrückt.
Dem Bürokratie-Dschungel ausgeliefert
Seit 1. August 2018 ist das sogenannte »Familiennachzugsneuregelungsgesetz« in Kraft. Wer in das Monatskontingent kommt (und wann), wird in einem schwer durchschaubaren Geflecht aus mehreren Behörden bearbeitet und entschieden. Beteiligt sind das Auswärtige Amt (teilweise unterstützt durch die Internationale Organisation für Migration (IOM)), die kommunalen Ausländerbehörden sowie das Bundesverwaltungsamt.
Unter das Kontingent fallen können nur engste Familienangehörige (minderjährige Kinder, Eltern oder Eheleute; ausgeschlossen sind grundsätzlich minderjährige Geschwister) und auch nur in besonders gelagerten »humanitären« Fällen.
Gewiss sind nur das Warten und die Ungewissheit
Der Registrierung bei einer Botschaft folgt das Warten auf einen Termin für die Anhörung, das je nach Auslandsvertretung mehrere Wochen, mancherorts aber auch Monate dauern kann. Dazu kommt die monatelange Bearbeitungszeit: Die Botschaft in Beirut beispielsweise gibt eine Regelbearbeitungszeit von 8 Monaten an, in einigen Fällen auch darüber hinaus bis zu 12 Monaten. Auch an den anderen Auslandsvertretungen sind die Wartezeiten enorm: bis zu 30 Wochen in Addis Abeba und bis zu 18 Monate in Nairobi (siehe Bundestags-Drucksache 19/11840)
12 Monate Wartezeit in Beirut.
18 Monate Wartezeit in Nairobi.
30 Wochen Wartezeit in Addis Abeba.
Das ohnehin knapp gedeckelte Monatskontingent wird nicht einmal ausgeschöpft. In den vergangenen 11 Monaten wurden rund 8.800 Visa an Angehörige von subsidiär Geschützten erteilt; 11.000 wären möglich gewesen. Hinzu kommt, dass die deutschen Auslandsvertretungen im Juni 2019 nur 773 neue Visumanträge bearbeitet haben. Es steht zu befürchten, dass in den kommenden Monaten das Kontingent erneut nicht ausgeschöpft wird.
Familien leiden unter den Folgen
Die Regelung trifft vor allem syrische Familien hart. Allein bei der Botschaft in Beirut sind derzeit rund 15.000 Terminanfragen auf eine Zusammenführung zu subsidiär Geschützten anhängig. Die Realität in Syrien macht eine Rückkehr unmöglich (vgl. hierzu die Entscheidung der Innenministerkonferenz der Länder zu einem Abschiebestopp nach Syrien). Die Familieneinheit kann nur in Deutschland hergestellt werden.
Drei Beispiele aus der Praxis
Das lange Warten und Bangen geht für viele Familien aus Syrien weiter, so auch für Luna, die Familie Ghazal und den jugendlichen Flüchtling N.
Luna A.* lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einem Vorort von Damaskus. Als ihr Ehemann als Reservist zum Militärdienst einberufen wird, flieht er und versteckt sich. Nachdem das Haus der Familie bombardiert und dabei ihr kleiner Sohn verletzt wird, entscheidet sich Luna, den von der syrischen Armee eingekesselten Ort zu verlassen.
Luna ist wieder schwanger, als sie sich mit ihrem kleinen Sohn auf den beschwerlichen Weg nach Europa macht. Sie flieht über die Balkan-Route und muss ihren einjährigen Sohn über weite Strecken selbst tragen. Vor Erschöpfung bricht Luna in Serbien zusammen und muss einige Zeit im Krankenhaus behandelt werden. Im November 2015 erreicht sie endlich Deutschland. Vier Monate später kommt ihre Tochter auf die Welt.
Im August 2016 spricht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihr subsidiären Schutz zu. Der Nachzug ihres Mannes ist erst einmal ausgesetzt. Luna geht es sehr schlecht. Sie ist in ständiger Sorge um ihren Mann und am Ende ihrer Kräfte. Lunas Ehemann befindet sich derweil im Irak. Kurz bevor die Aussetzung des Familiennachzugs endet, beantragt er einen Termin bei der deutschen Auslandsvertretung in Erbil. Doch die Aussetzung wird erst verlängert und dann auf 1000 Menschen pro Monat begrenzt.
Die Familie lebt nun seit über drei Jahren getrennt. Die dreijährige Tochter hat ihren Vater noch nie getroffen. Regelmäßig fragt Luna bei den zuständigen Behörden nach, erhält jedoch keine klaren Antworten.
Ende März diesen Jahres bekommt der Ehemann endlich den Termin für die Vorsprache beim deutschen Generalkonsulat mitgeteilt. Kurz vorher wird er noch einmal auf Ende Mai verschoben. Doch dann kann er vorsprechen und den Antrag auf Familiennachzug stellen. Ungeduldig wartet die Familie bis heute auf die Erteilung des Visums. Wann wird er unter den 1000 des Monats sein?
Der 48-jährige Familienvater Mohammed Ghazal lebt seit fast vier Jahren in Deutschland. Er flüchtete Ende September 2015 über die Balkanroute nach Deutschland und wollte seine Frau und die beiden Töchter so schnell wie möglich nachholen. Doch als ihm nach über einem Jahr Wartezeit nur der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt ist ihm klar, dass das gemeinsame Familienleben in weite Ferne rückt. Er klagt auf die Flüchtlingsanerkennung, aber das Verfahren zieht sich. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Die Ehefrau und die Töchter beantragen einen Termin bei der Deutschen Botschaft in Beirut in der Hoffnung und im Vertrauen darauf, dass die gesetzliche Aussetzung des Familiennachzugs im März 2018 auslaufen würde. Zu diesem Zeitpunkt ist die ältere Tochter Maya noch 17 Jahre alt und gehört damit nach deutscher Rechtslage zur Kernfamilie. Doch dann kommt es anders. CDU/CSU und SPD verlängern die Aussetzung bis zum 31.07.2018. Im gleichen Monat wird Maya volljährig. Wegen der Verlängerung der Aussetzung kann die Familie den Antrag nicht mehr rechtzeitig vor ihrem Geburtstag stellen. Nun ist sie vom Familiennachzug, der nur die Kernfamilie umfasst, ausgeschlossen.
Traurige Gewissheit, dass die Terminbuchung nicht als ausreichend erachtet wird für die Wahrung der Frist, bekommt die Familie im Dezember 2018: Die deutsche Botschaft teilt mit, dass der Antrag von Maya aufgrund der Volljährigkeit vom Verfahren der Familie herausgenommen wurde. Maya muss nun in einer anderen Kategorie einen Termin buchen – als ‚sonstige Familienangehörige‘.
Weder die Bemühungen von Mohammed Ghazal, den Lebensunterhalt für seine Familie zu sichern, noch der Fleiß von Maya, die schon lange angefangen hat, Deutsch zu lernen oder die ihr drohende Gefährdungslage für alleinstehende Frauen in Syrien sind ausreichend, um sicher sein zu können, dass Maya ein solches Visum erhält.
Anfang diesen Monats haben die Mutter und die kleine Schwester ihre Visa erhalten, doch sie können Maya nicht allein in Syrien zurücklassen. Die Familie hat keine weiteren Angehörigen mehr in Syrien, wo Maya leben könnte. Die beiden zögern, auszureisen.
Im Jahr 2014 flieht N. mit seinen Eltern und den drei jüngeren Geschwistern aus der Region Afrin in die Türkei. Der Grund: sein Vater sollte zum syrischen Militär eingezogen werden. Die Familie befürchtete auch, dass der damals 14-jährige N. bald eingezogen würde.
Gemeinsam mit dem Onkel flieht N. weiter in nach Deutschland und stellt dort einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erkennt N. lediglich den subsidiären Schutz zu.
Die kurdische Familie hatte eigentlich gehofft, bald in die Heimat zurückkehren zu können. Seit dem Einmarsch des türkischen Militärs in die Region Afrin im Januar 2018 gibt es diese Hoffnung aktuell allerdings nicht mehr. Anfang 2018 kommen bei einem Bombenangriff mehrere Verwandte ums Leben.
N. lebt seit zwei Jahren als Pflegekind bei Pflegeeltern. Obwohl ihm die Trennung von seinen Eltern und Geschwistern sehr zu schaffen macht, hat er seinen Hauptschulabschluss gemacht und eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker begonnen.
Doch seit N. im letzten Jahr volljährig geworden ist, ist ihm klar, dass für seine Familie keine Chance mehr auf Familiennachzug besteht. Plötzlich gehört sie nach deutscher Rechtslage nicht mehr zu seiner Kernfamilie. Für N. fühlt sich das nicht so an. Er ist verzweifelt. Immer wieder überlegt er, alles aufzugeben und zu seiner Familie in die Türkei zu gehen.
(akr)