Hintergrund
Verweigerter Familiennachzug: Ein Grundrecht wird bürokratisch entstellt
Seit März 2016 haben Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus kein Recht mehr, die engsten Angehörigen nachzuholen. Auch über drei Jahre später haben sich die Hoffnungen getrennter Familien auf ein Ende dieser Zumutung nicht erfüllt. Seit August 2018 gilt ein undurchsichtiges Gnadenrecht für maximal 1.000 Angehörige im Monat.
Im Februar 2018 einigten sich CDU/CSU und SPD im Bundestag, den für zwei Jahre abgeschafften Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte weiter auszusetzen. Damit zerstob die Hoffnung Zehntausender Menschen, die auf das Auslaufen der Regelung gewartet hatten. Zum Zeitpunkt der Verlängerung gab es noch keine Einigung über eine neue Regierungsbildung, doch die handelnden Akteur*innen wollten unbedingt vermeiden, dass die betroffenen Flüchtlinge wieder das Recht bekämen, ihre Familienangehörigen nachzuholen.
Am 1. August 2018 trat dann das sogenannte Familiennachzugsneuregelungsgesetz in Kraft. Seither dürfen – theoretisch – monatlich bis zu 1.000 Angehörige subsidiär geschützter Personen per Visum nach Deutschland kommen. Gleichzeitig haben die Regierungsfraktionen den Rechtsanspruch auf das Zusammenleben als Familie für subsidiär Geschützte vollständig abgeschafft.
Jegliche Art von Familiennachzug zu dieser Gruppe außerhalb des genannten Kontingents ist ausgeschlossen – selbst dann, wenn etwa Personen den Lebensunterhalt für die gesamte Familie bereits sicherstellen können.
Wie können aus der Gruppe von rund 25.000 potentiell in Frage kommenden Menschen 1.000 pro Monat ausgewählt werden? Für die Prüfung wurde ein irres bürokratisches System erdacht.
In den Mühlen der Bürokratie
Wie können aus der Gruppe von rund 25.000 potentiell in Frage kommenden Menschen 1.000 pro Monat ausgewählt werden? Für die Prüfung wurde ein irres bürokratisches System erdacht. Lange Zeit war es für viele Betroffene und die Beratungsstellen undurchschaubar.
Das Verfahren beginnt bei einer deutschen Auslandsvertretung, die vor allem Fragen der Familienzusammengehörigkeit sowie humanitäre Aspekte prüft. Zu den Letzteren zählt laut Gesetz etwa, wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist oder ein Kind betroffen ist. Hier zählen vor allem Kinder unter 14 Jahren. Weitere Kriterien sind die Fragen, ob Leib, Leben oder Freiheit der nachzugswilligen Personen im Aufenthaltsstaat ernsthaft gefährdet sind, oder aber ob diese schwerwiegend erkrankt oder pflegebedürftig sind oder eine schwere Behinderung haben.
Wenn eine oder mehrere dieser Voraussetzungen grundsätzlich bejaht werden, leitet die deutsche Auslandsvertretung den Antrag an die inländischen kommunalen Ausländerbehörden weiter. Diese sind nun für die Prüfung der inlandsbezogenen Aspekte zu der bereits in Deutschland lebenden Person zuständig. Dazu zählen humanitäre Gründe sowie Integrationsaspekte. Bei strafrechtlichen Verurteilungen soll ein Nachzug zu der in Deutschland lebenden Person in der Regel nicht stattfinden. Die kommunale Ausländerbehörde soll ein Votum abgeben und dieses dem Bundesverwaltungsamt (BVA) übermitteln.
Beim BVA wird schließlich auf Grundlage der übermittelten Falldaten die abschließende Entscheidung getroffen. Fällt sie positiv aus, erteilt die deutsche Auslandsvertretung anschließend das Visum.
Die Umsetzung: schleppend und kleinlich
Wie Menschenrechtsorganisationen befürchtet hatten, führte das Verfahren dazu, dass das monatliche Kontingent von 1.000 Visa zunächst gar nicht erreicht wurde. Das Gesetz sieht jedoch keine Übertragbarkeit eines monatlichen Kontingents auf den Folgemonat vor. Auf Grundlage eines politischen Kompromisses von CDU/CSU und SPD sollte jedoch bis zum Jahresende 2018 ein Gesamtkontingent von maximal 5.000 Visa gelten. Die amtlichen Zahlen belegen, dass bis Jahresende 2018 lediglich rund 2.600 von möglichen 5.000 Visa erteilt wurden. Um zur Beschleunigung der Verfahren beizutragen, verfügte das Bundesland Niedersachsen im Oktober 2018, dass die niedersächsischen Ausländerbehörden die Prüfung der Fälle auf das Vorliegen zwingender Versagungsgründe zu beschränken hätten. Schleswig-Holstein folgte einen Tag später diesem Beispiel. Erst im Dezember 2018 wurde das Kontingent erreicht.
Ende 2018 wandte sich der niedersächsische Innenminister Pistorius an Bundesinnenminister Seehofer und forderte, die Möglichkeit einer Übertragung der »Restplätze« in das Jahr 2019 zu schaffen. Pistorius war bei den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag der Großen Koalition in Berlin maßgeblich als Experte für Innenpolitik beteiligt gewesen.
Doch die politische Knausrigkeit in Sachen Familiennachzug wurde noch auf die Spitze getrieben: Die Übertragung der für 2018 vorgesehenen, aber nicht vergebenen 2.400 Visaplätze machte Bundesinnenminister Seehofer in Verhandlungen mit der SPD von weiteren Zugeständnissen in migrationspolitischen Fragestellungen abhängig. So will er aus dem Versagen einer von ihm selbst gezimmerten bürokratischen Regelung auch noch politisch Kapital schlagen.
Das überbürokratisierte Verfahren hat eine nicht zu unterschätzende Nebenwirkung auf andere Visaverfahren. Die Bearbeitungszeiten für andere Anspruchsberechtigte, z.B. Familienangehörige von GFK-Flüchtlingen, haben sich noch einmal verlängert. Die Angehörigen warten derzeit in Beirut etwa acht bis zehn Monate, in manchen Fällen sogar bis zu einem Jahr, auf die Entscheidung im Visumsverfahren – trotz unbestrittenen Rechtsanspruchs.
Angehörige selbst von GFK-Flüchtlingen warten derzeit in Beirut etwa acht bis zehn Monate, in manchen Fällen sogar bis zu einem Jahr, auf die Entscheidung im Visumsverfahren – trotz unbestrittenen Rechtsanspruchs.
Recht auf Familie wiederherstellen!
Die anhaltende Trennung von Familien führt zu kaum erträglichem, alltäglichem Leid. Ein Rechtsanspruch wurde abgeschafft, die damit verbundenen Probleme bleiben ungelöst. Eine abschreckende Wirkung ist sicher politisch gewollt. Der Flaschenhals Terminvergabe bei einer deutschen Auslandsvertretung ist ein großes Verfahrenshindernis. Die betroffenen Familien wissen nicht, wann oder ob sie je von dem Gesetz profitieren werden. Im schlimmsten Fall müssen sie weiterhin jahrelang warten, Ehepartner*innen werden auf Jahre getrennt, Kinder wachsen – wie im Fall unten – ohne Mutter oder Vater auf.
Der Rechtsanspruch auf Familiennachzug für subsidiär Geschützte muss umgehend wiederhergestellt werden. Als ersten Schritt dahin sollten die bürokratische Hürden umgehend abgebaut und die Wartezeiten in den Verfahren verringert werden. Die deutschen Standards etwa zur Identitätsklärung sollten an den europäischen Rahmen und an die Lebensrealität von mehrfach vertriebenen Familien angepasst werden. Der verfassungs‑, europa- und völkerrechtlich garantierte Schutz der Familie muss für Flüchtlingsfamilien in Deutschland endlich Realität werden.
Karim Alwasiti, Flüchtlingsrat Niedersachsen
Zwei Fallbeispiele*
Luna A.* stammt aus der Stadt Kunaitra in Syrien, dicht an der israelischen Grenze. Sie lebt in einem Vorort von Damaskus, der lange Zeit von der syrischen Armee eingekesselt wird. Dann wird ihr Ehemann als Reservist zum Militärdienst einberufen. Da er nicht für die syrische Armee kämpfen will, flieht er und versteckt sich. Nachdem das Haus der Familie im Zuge von Kampfhandlungen bombardiert und dabei ihr kleiner Sohn verletzt wird, entscheidet sich Luna, den abgeriegelten Ort allein mit ihrem Sohn zu verlassen.
Luna ist schwanger, als sie im November 2015 im Alter von 20 Jahren nach Europa flieht. Sie reist unter sehr schwierigen Bedingungen über die Balkan-Route ein. Ihren einjährigen Sohn trägt die Schwangere oft selbst. Vor Erschöpfung bricht Luna in Serbien zusammen und muss einige Zeit im Krankenhaus behandelt werden. Im April 2016 erreicht sie Deutschland und stellt einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) spricht ihr im August 2016 subsidiären Schutz zu. In Deutschland bringt Luna ihr zweites Kind zur Welt.
Die Familie lebt nun seit über drei Jahren getrennt. Die dreijährige Tochter hat ihren Vater noch nie getroffen.
Mittlerweile sind die beiden Kinder viereinhalb und fast drei Jahre alt. Luna geht es sehr schlecht. Sie ist in ständiger Sorge um ihren Mann und am Ende ihrer Kräfte.
Lunas Mann befindet sich derweil im Irak. Er beantragt Anfang März 2018 beim deutschen Generalkonsulat in Erbil einen Termin – in der bangen Erwartung, dass die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Geschützten, wie von der Politik beschlossen, im gleichen Monat auslaufen würde. Doch er wird enttäuscht. Bisher hat er nicht einmal einen Termin für die Antragstellung erhalten.
Die Familie lebt nun seit über drei Jahren getrennt. Die dreijährige Tochter hat ihren Vater noch nie getroffen. Regelmäßig fragt Luna bei den zuständigen Behörden nach, erhält jedoch keine klaren Antworten.
Der aus Homs stammende 51-jährige Malek E.* flieht im Herbst 2015 mit seinen damals 11- und 20-jährigen Töchtern nach Deutschland. Bereits 2012 hatte die Familie Syrien Richtung Türkei verlassen müssen. Da sie nicht genug Geld hatten, um gemeinsam weiter zu flüchten, hat Malek seine Frau und zwei weitere Töchter im Alter von damals 10 und 15 Jahren zurückgelassen. Sie leben im Flüchtlingslager Obeyden nahe der türkisch-syrischen Grenze, das die Bewohner*innen nur mit besonderer Erlaubnis verlassen dürfen.
Bis Malek in Deutschland einen Asylantrag stellen darf, vergeht ein halbes Jahr. Mehr als ein Jahr später – im Oktober 2017 – spricht ihm das BAMF subsidiären Schutz zu. Die im Lager ausharrende Familie hofft, dass der Familiennachzug zu subsidiär Geschützten nur bis März 2018 ausgesetzt wird. Im Januar 2018 vereinbart Maleks Ehefrau mit den beiden Kindern einen Termin beim deutschen Generalkonsulat in Istanbul, um einen Visumantrag zu stellen.
Vor Ort wird sie informiert, dass ihr Antrag nicht entgegengenommen werden könne, weil noch unklar sei, wie die Gesetzeslage beim Familiennachzug sich zukünftig gestalten werde. Die beschwerliche Reise der Familie nach Istanbul ist umsonst gewesen. Nach Inkrafttreten des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes im August 2018 beantragt die Familie einen neuen Termin bei der deutschen Auslandsvertretung, den sie aber bis heute nicht erhält.
Maleks in Deutschland lebende 14-jährige Tochter ist aufgrund der Ereignisse in Syrien und auf der Flucht schwer traumatisiert, sie befindet sich in therapeutischer Behandlung. Sie leidet sehr unter der Trennung insbesondere von der Mutter als wichtigste Bezugsperson. Die fortdauernde Trennung von ihr verstärkt nach Einschätzung der behandelnden Ärzte die schwere Belastung. Die Familie lebt nun seit über drei Jahren in verschiedenen Staaten.