15.05.2019
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Demonstration für Familiennachzug in Berlin. Foto: Thorsten Strasas

Seit März 2016 haben Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus kein Recht mehr, die engsten Angehörigen nachzuholen. Auch über drei Jahre später haben sich die Hoffnungen getrennter Familien auf ein Ende dieser Zumutung nicht erfüllt. Seit August 2018 gilt ein undurchsichtiges Gnadenrecht für maximal 1.000 Angehörige im Monat.

Im Febru­ar 2018 einig­ten sich CDU/CSU und SPD im Bun­des­tag, den für zwei Jah­re abge­schaff­ten Fami­li­en­nach­zug für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te wei­ter aus­zu­set­zen. Damit zer­stob die Hoff­nung Zehn­tau­sen­der Men­schen, die auf das Aus­lau­fen der Rege­lung gewar­tet hat­ten. Zum Zeit­punkt der Ver­län­ge­rung gab es noch kei­ne Eini­gung über eine neue Regie­rungs­bil­dung, doch die han­deln­den Akteur*innen woll­ten unbe­dingt ver­mei­den, dass die betrof­fe­nen Flücht­lin­ge wie­der das Recht bekä­men, ihre Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen nachzuholen.

Am 1. August 2018 trat dann das soge­nann­te Fami­li­en­nach­zugs­neu­re­ge­lungs­ge­setz in Kraft. Seit­her dür­fen – theo­re­tisch – monat­lich bis zu 1.000 Ange­hö­ri­ge sub­si­di­är geschütz­ter Per­so­nen per Visum nach Deutsch­land kom­men. Gleich­zei­tig haben die Regie­rungs­frak­tio­nen den Rechts­an­spruch auf das Zusam­men­le­ben als Fami­lie für sub­si­di­är Geschütz­te voll­stän­dig abgeschafft.

Jeg­li­che Art von Fami­li­en­nach­zug zu die­ser Grup­pe außer­halb des genann­ten Kon­tin­gents ist aus­ge­schlos­sen – selbst dann, wenn etwa Per­so­nen den Lebens­un­ter­halt für die gesam­te Fami­lie bereits sicher­stel­len können.

Wie kön­nen aus der Grup­pe von rund 25.000 poten­ti­ell in Fra­ge kom­men­den Men­schen 1.000 pro Monat aus­ge­wählt wer­den? Für die Prü­fung wur­de ein irres büro­kra­ti­sches Sys­tem erdacht.

In den Mühlen der Bürokratie 

Wie kön­nen aus der Grup­pe von rund 25.000 poten­ti­ell in Fra­ge kom­men­den Men­schen 1.000 pro Monat aus­ge­wählt wer­den? Für die Prü­fung wur­de ein irres büro­kra­ti­sches Sys­tem erdacht. Lan­ge Zeit war es für vie­le Betrof­fe­ne und die Bera­tungs­stel­len undurchschaubar.

Das Ver­fah­ren beginnt bei einer deut­schen Aus­lands­ver­tre­tung, die vor allem Fra­gen der Fami­li­en­zu­sam­men­ge­hö­rig­keit sowie huma­ni­tä­re Aspek­te prüft. Zu den Letz­te­ren zählt laut Gesetz etwa, wenn die Her­stel­lung der fami­liä­ren Lebens­ge­mein­schaft seit lan­ger Zeit nicht mög­lich ist oder ein Kind betrof­fen ist. Hier zäh­len vor allem Kin­der unter 14 Jah­ren. Wei­te­re Kri­te­ri­en sind die Fra­gen, ob Leib, Leben oder Frei­heit der nach­zugs­wil­li­gen Per­so­nen im Auf­ent­halts­staat ernst­haft gefähr­det sind, oder aber ob die­se schwer­wie­gend erkrankt oder pfle­ge­be­dürf­tig sind oder eine schwe­re Behin­de­rung haben.

Wenn eine oder meh­re­re die­ser Vor­aus­set­zun­gen grund­sätz­lich bejaht wer­den, lei­tet die deut­sche Aus­lands­ver­tre­tung den Antrag an die inlän­di­schen kom­mu­na­len Aus­län­der­be­hör­den wei­ter. Die­se sind nun für die Prü­fung der inlands­be­zo­ge­nen Aspek­te zu der bereits in Deutsch­land leben­den Per­son zustän­dig. Dazu zäh­len huma­ni­tä­re Grün­de sowie Inte­gra­ti­ons­aspek­te. Bei straf­recht­li­chen Ver­ur­tei­lun­gen soll ein Nach­zug zu der in Deutsch­land leben­den Per­son in der Regel nicht statt­fin­den. Die kom­mu­na­le Aus­län­der­be­hör­de soll ein Votum abge­ben und die­ses dem Bun­des­ver­wal­tungs­amt (BVA) übermitteln.

Beim BVA wird schließ­lich auf Grund­la­ge der über­mit­tel­ten Fall­da­ten die abschlie­ßen­de Ent­schei­dung getrof­fen. Fällt sie posi­tiv aus, erteilt die deut­sche Aus­lands­ver­tre­tung anschlie­ßend das Visum.

Die Umsetzung: schleppend und kleinlich

Wie Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen befürch­tet hat­ten, führ­te das Ver­fah­ren dazu, dass das monat­li­che Kon­tin­gent von 1.000 Visa zunächst gar nicht erreicht wur­de. Das Gesetz sieht jedoch kei­ne Über­trag­bar­keit eines monat­li­chen Kon­tin­gents auf den Fol­ge­mo­nat vor. Auf Grund­la­ge eines poli­ti­schen Kom­pro­mis­ses von CDU/CSU und SPD soll­te jedoch bis zum Jah­res­en­de 2018 ein Gesamt­kon­tin­gent von maxi­mal 5.000 Visa gel­ten. Die amt­li­chen Zah­len bele­gen, dass bis Jah­res­en­de 2018 ledig­lich rund 2.600 von mög­li­chen 5.000 Visa erteilt wur­den. Um zur Beschleu­ni­gung der Ver­fah­ren bei­zu­tra­gen, ver­füg­te das Bun­des­land Nie­der­sach­sen im Okto­ber 2018, dass die nie­der­säch­si­schen Aus­län­der­be­hör­den die Prü­fung der Fäl­le auf das Vor­lie­gen zwin­gen­der Ver­sa­gungs­grün­de zu beschrän­ken hät­ten. Schles­wig-Hol­stein folg­te einen Tag spä­ter die­sem Bei­spiel. Erst im Dezem­ber 2018 wur­de das Kon­tin­gent erreicht.

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Erteil­te Visa im Ver­hält­nis zum Monats­kon­tin­gent seit August 2018

Ende 2018 wand­te sich der nie­der­säch­si­sche Innen­mi­nis­ter Pis­to­ri­us an Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer und for­der­te, die Mög­lich­keit einer Über­tra­gung der »Rest­plät­ze« in das Jahr 2019 zu schaf­fen. Pis­to­ri­us war bei den Ver­hand­lun­gen zum Koali­ti­ons­ver­trag der Gro­ßen Koali­ti­on in Ber­lin maß­geb­lich als Exper­te für Innen­po­li­tik betei­ligt gewesen.

Doch die poli­ti­sche Knaus­rig­keit in Sachen Fami­li­en­nach­zug wur­de noch auf die Spit­ze getrie­ben: Die Über­tra­gung der für 2018 vor­ge­se­he­nen, aber nicht ver­ge­be­nen 2.400 Visa­plät­ze mach­te Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer in Ver­hand­lun­gen mit der SPD von wei­te­ren Zuge­ständ­nis­sen in migra­ti­ons­po­li­ti­schen Fra­ge­stel­lun­gen abhän­gig. So will er aus dem Ver­sa­gen einer von ihm selbst gezim­mer­ten büro­kra­ti­schen Rege­lung auch noch poli­tisch Kapi­tal schlagen.

Das über­bü­ro­kra­ti­sier­te Ver­fah­ren hat eine nicht zu unter­schät­zen­de Neben­wir­kung auf ande­re Visa­ver­fah­ren. Die Bear­bei­tungs­zei­ten für ande­re Anspruchs­be­rech­tig­te, z.B. Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von GFK-Flücht­lin­gen, haben sich noch ein­mal ver­län­gert. Die Ange­hö­ri­gen war­ten der­zeit in Bei­rut etwa acht bis zehn Mona­te, in man­chen Fäl­len sogar bis zu einem Jahr, auf die Ent­schei­dung im Visums­ver­fah­ren – trotz unbe­strit­te­nen Rechtsanspruchs.

Ange­hö­ri­ge selbst von GFK-Flücht­lin­gen war­ten der­zeit in Bei­rut etwa acht bis zehn Mona­te, in man­chen Fäl­len sogar bis zu einem Jahr, auf die Ent­schei­dung im Visums­ver­fah­ren – trotz unbe­strit­te­nen Rechtsanspruchs.

Recht auf Familie wiederherstellen!

Die anhal­ten­de Tren­nung von Fami­li­en führt zu kaum erträg­li­chem, all­täg­li­chem Leid. Ein Rechts­an­spruch wur­de abge­schafft, die damit ver­bun­de­nen Pro­ble­me blei­ben unge­löst. Eine abschre­cken­de Wir­kung ist sicher poli­tisch gewollt. Der Fla­schen­hals Ter­min­ver­ga­be bei 
einer deut­schen Aus­lands­ver­tre­tung ist ein gro­ßes Ver­fah­rens­hin­der­nis. Die betrof­fe­nen Fami­li­en wis­sen nicht, wann oder ob sie je von dem Gesetz pro­fi­tie­ren wer­den. Im schlimms­ten Fall müs­sen sie wei­ter­hin jah­re­lang war­ten, Ehepartner*innen wer­den auf Jah­re getrennt, Kin­der wach­sen – wie im Fall unten – ohne Mut­ter oder Vater auf.

Der Rechts­an­spruch auf Fami­li­en­nach­zug für sub­si­di­är Geschütz­te muss umge­hend wie­der­her­ge­stellt wer­den. Als ers­ten Schritt dahin soll­ten die büro­kra­ti­sche Hür­den umge­hend abge­baut und die War­te­zei­ten in den Ver­fah­ren ver­rin­gert wer­den. Die deut­schen Stan­dards etwa zur Iden­ti­täts­klä­rung soll­ten an den euro­päi­schen Rah­men und an die Lebens­rea­li­tät von mehr­fach ver­trie­be­nen Fami­li­en ange­passt wer­den. Der verfassungs‑, euro­pa- und völ­ker­recht­lich garan­tier­te Schutz der Fami­lie muss für Flücht­lings­fa­mi­li­en in Deutsch­land end­lich Rea­li­tät werden.

Karim Alwa­si­ti, Flücht­lings­rat Niedersachsen

Zwei Fallbeispiele*

Luna A.* stammt aus der Stadt Kunai­tra in Syri­en, dicht an der israe­li­schen Gren­ze. Sie lebt in einem Vor­ort von Damas­kus, der lan­ge Zeit von der syri­schen Armee ein­ge­kes­selt wird. Dann wird ihr Ehe­mann als Reser­vist zum Mili­tär­dienst ein­be­ru­fen. Da er nicht für die syri­sche Armee kämp­fen will, flieht er und ver­steckt sich. Nach­dem das Haus der Fami­lie im Zuge von Kampf­hand­lun­gen bom­bar­diert und dabei ihr klei­ner Sohn ver­letzt wird, ent­schei­det sich Luna, den abge­rie­gel­ten Ort allein mit ihrem Sohn zu verlassen.

Luna ist schwan­ger, als sie im Novem­ber 2015 im Alter von 20 Jah­ren nach Euro­pa flieht. Sie reist unter sehr schwie­ri­gen Bedin­gun­gen über die Bal­kan-Rou­te ein. Ihren ein­jäh­ri­gen Sohn trägt die Schwan­ge­re oft selbst. Vor Erschöp­fung bricht Luna in Ser­bi­en zusam­men und muss eini­ge Zeit im Kran­ken­haus behan­delt wer­den. Im April 2016 erreicht sie Deutsch­land und stellt einen Asyl­an­trag. Das Bun­des­amt 
für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) spricht ihr im August 2016 sub­si­diä­ren Schutz zu. In Deutsch­land bringt Luna ihr zwei­tes Kind zur Welt.

Die Fami­lie lebt nun seit über drei Jah­ren getrennt. Die drei­jäh­ri­ge Toch­ter hat ihren Vater noch nie getroffen.

Mitt­ler­wei­le sind die bei­den Kin­der vier­ein­halb und fast drei Jah­re alt. Luna geht es sehr schlecht. Sie ist in stän­di­ger Sor­ge um ihren Mann und am Ende ihrer Kräfte.

Lunas Mann befin­det sich der­weil im Irak. Er bean­tragt Anfang März 2018 beim deut­schen Gene­ral­kon­su­lat in Erbil einen Ter­min – in der ban­gen Erwar­tung, dass die Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs zu sub­si­di­är Geschütz­ten, wie von der Poli­tik beschlos­sen, im glei­chen Monat aus­lau­fen wür­de. Doch er wird ent­täuscht. Bis­her hat er nicht ein­mal einen Ter­min für die Antrag­stel­lung erhalten.

Die Fami­lie lebt nun seit über drei Jah­ren getrennt. Die drei­jäh­ri­ge Toch­ter hat ihren Vater noch nie getrof­fen. Regel­mä­ßig fragt Luna bei den zustän­di­gen Behör­den nach, erhält jedoch kei­ne kla­ren Antworten.

Der aus Homs stam­men­de 51-jäh­ri­ge Malek E.* flieht im Herbst 2015 mit sei­nen damals 11- und 20-jäh­ri­gen Töch­tern nach Deutsch­land. Bereits 2012 hat­te die Fami­lie Syri­en Rich­tung Tür­kei ver­las­sen müs­sen. Da sie nicht genug Geld hat­ten, um gemein­sam wei­ter zu flüch­ten, hat Malek sei­ne Frau und zwei wei­te­re Töch­ter im Alter von damals 10 und 15 Jah­ren zurück­ge­las­sen. Sie leben im Flücht­lings­la­ger Obey­den nahe der tür­kisch-syri­schen Gren­ze, das die Bewohner*innen nur mit beson­de­rer Erlaub­nis ver­las­sen dürfen.

Bis Malek in Deutsch­land einen Asyl­an­trag stel­len darf, ver­geht ein hal­bes Jahr. Mehr als ein Jahr spä­ter – im Okto­ber 2017 – spricht ihm das BAMF sub­si­diä­ren Schutz zu. Die im Lager aus­har­ren­de Fami­lie hofft, dass der Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Geschütz­ten nur bis März 2018 aus­ge­setzt wird. Im Janu­ar 2018 ver­ein­bart Mal­eks Ehe­frau mit den bei­den Kin­dern einen Ter­min beim deut­schen Gene­ral­kon­su­lat in 
Istan­bul, um einen Visum­an­trag zu stellen.

Vor Ort wird sie infor­miert, dass ihr Antrag nicht ent­ge­gen­ge­nom­men wer­den kön­ne, weil noch unklar sei, wie die Geset­zes­la­ge beim Fami­li­en­nach­zug sich zukünf­tig gestal­ten wer­de. Die beschwer­li­che Rei­se der Fami­lie nach Istan­bul ist umsonst gewe­sen. Nach Inkraft­tre­ten des Fami­li­en­nach­zugs­neu­re­ge­lungs­ge­set­zes im August 2018 bean­tragt die Fami­lie einen neu­en Ter­min bei der deut­schen Aus­lands­ver­tre­tung, den sie aber bis heu­te nicht erhält.

Mal­eks in Deutsch­land leben­de 14-jäh­ri­ge Toch­ter ist auf­grund der Ereig­nis­se in Syri­en und auf der Flucht schwer trau­ma­ti­siert, sie befin­det sich in the­ra­peu­ti­scher Behand­lung. Sie lei­det sehr unter der Tren­nung ins­be­son­de­re von der Mut­ter als wich­tigs­te Bezugs­per­son. Die fort­dau­ern­de Tren­nung von ihr ver­stärkt nach Ein­schät­zung der behan­deln­den Ärz­te die schwe­re Belas­tung. Die Fami­lie lebt nun seit über drei Jah­ren in ver­schie­de­nen Staaten.

*Die Fallskizzen haben wir zum Schutz der Beteiligten anonymisiert. 

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