02.10.2020
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Nein, Afghanistan ist nicht sicher: Seit Jahren gibt es Proteste gegen Sammelabschiebungen nach Afghanistan wie hier Hamburg im Februar 2017. Doch die EU und auch die Bundesregierung machen einfach weiter – trotz der desaströsen Lage im Land. Foto: flickr / Rasande Tyskar / CC BY-NC 2.0

Vor vier Jahren schlossen die Bundesregierung und die EU jeweils Deals mit Afghanistan ab, um Abschiebungen in das Kriegsland zu forcieren. Im Gegenzug wurden dem Land Entwicklungsgelder zugesagt. Der EU-Deal »Joint Way Forward« wurde nun bis 31.12. verlängert, die EU will in den kommenden Wochen aber ein neues Abkommen zum Abschluss bringen.

Unmit­tel­bar nach Abschluss des »Joint Way For­ward« (JWF) und des bila­te­ra­len Abkom­mens zwi­schen Deutsch­land und Afgha­ni­stan am 2. Okto­ber 2016 began­nen die ers­ten Sam­mel­ab­schie­bungs­flü­ge in das von Gewalt und Kämp­fen erschüt­ter­te Afghanistan.

Abschiebungsdeal der EU mit Afghanistan

Im Zen­trum des EU-Papiers stand nicht etwa die wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung Afgha­ni­stans, son­dern der Aus­bau einer Abschie­bungs­lo­gis­tik, um Rück­füh­run­gen nach Afgha­ni­stan zu erleich­tern, unter ande­rem durch die Ein­füh­rung eines Pass­ersatz­pa­piers, um Geflüch­te­te abschie­ben zu kön­nen und eines neu­en, eigens für Rück­füh­run­gen geschaf­fe­nen Ter­mi­nals am Kabu­ler Flug­ha­fen. Auch soll­ten in den ers­ten sechs Mona­ten nicht mehr als 50 Per­so­nen pro Flug abge­scho­ben wer­den, die Zahl der Flü­ge wur­de jedoch nicht limi­tiert. Das Abkom­men wur­de am EU-Par­la­ment vor­bei abge­schlos­sen und ist ohne recht­li­che Bindung.

Zwi­schen 13. Sep­tem­ber 2016 und 30. März 2020 hat die EU mit 73 Fron­tex-Char­ter­flü­gen 1.844 Afghan*innen rück­ge­führt (sie­he Ant­wort der EU-Kom­mis­si­on vom 24. Juli 2020). Zusätz­lich wur­den auf Lini­en­flü­gen zwi­schen 9. Mai 2019 und 30. März 2020 wei­te­re 58 Afghan*innen mit Hil­fe von Fron­tex rück­ge­führt; wei­te­re mög­li­che Abschie­bun­gen direkt aus den Mit­glied­staa­ten sind in der Ant­wort nicht enthalten.

Die EU schließt sogar Abschie­bun­gen von jun­gen, unver­hei­ra­te­ten Frau­en sowie unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen nicht aus (JWF, Sei­te 3) – und behält sich dies auch künf­tig vor. Bemü­hun­gen von afgha­ni­scher Sei­te in den Ver­hand­lun­gen, die­se Grup­pen von Abschie­bun­gen aus­zu­neh­men, blie­ben ohne Erfolg.

»Joint Way For­ward« wur­de inzwi­schen bis Jah­res­en­de 2020 ver­län­gert. Für die Zeit danach ver­han­delt die EU mit Afgha­ni­stan der­zeit an einem wei­te­ren Rück­füh­rungs­deal, um Abschie­bun­gen in das gefähr­lichs­te Land der Welt wei­ter durchzusetzen.

Auch Deutschland schiebt in das Kriegsland ab

Die Abschie­bun­gen aus Deutsch­land hat­te die Bun­des­re­gie­rung gegen­über Afgha­ni­stan mit einem eige­nen Abkom­men bila­te­ral for­ciert. Ab Dezem­ber 2016 star­te­ten – bis auf weni­ge Aus­nah­men – regel­mä­ßig monat­li­che Sam­mel­ab­schie­be­flie­ger aus Deutsch­land Rich­tung Kabul, zuletzt im März 2020. Die Flü­ge sind seit­dem pan­de­mie­be­dingt auf Bit­ten der afgha­ni­schen Regie­rung aus­ge­setzt, die Bun­des­re­gie­rung macht aus ihrer Eile, sie wie­der anlau­fen zu las­sen, jedoch kei­nen Hehl.

Lage für Abgeschobene gefährlich und prekär

Eine Beschrän­kung der Abschie­bun­gen auf Per­so­nen, die von Behör­den­sei­te als Straf­tä­ter, Gefähr­der oder soge­nann­te »Iden­ti­täts­ver­wei­ge­rer« ein­ge­stuft wer­den, hat­te die Bun­des­re­gie­rung nur zeit­wei­se unter dem Ein­druck eines ver­hee­ren­den Anschlags auf die deut­sche Bot­schaft in Kabul Ende Mai 2018 eingeführt.

Seit Juni 2018 ist es den Bun­des­län­dern frei­ge­stellt, ob und, wenn ja, in wel­chem Umfang sie sich an den schänd­li­chen Sam­mel­ab­schie­bun­gen betei­li­gen. Von die­ser Mög­lich­keit machen die Bun­des­län­der in unter­schied­li­chem Maße Gebrauch. Fami­li­en, Frau­en und Kin­der wer­den fak­tisch bis­her zwar nicht abge­scho­ben. Anders als oft­mals öffent­lich behaup­tet, han­delt es sich bei dem Groß­teil der Abge­scho­be­nen jedoch um Män­ner, die sich nichts zu Schul­den haben kom­men las­sen, ihren Lebens­mit­tel­punkt in Deutsch­land hat­ten und teil­wei­se noch nie in Afgha­ni­stan waren. Und auch vor der Abschie­bung von kran­ken Men­schen in das Bür­ger­kriegs­land wird nicht zurück­ge­schreckt. Deutsch­land hat auf ins­ge­samt 33 vom Bund orga­ni­sier­ten Abschie­bungs­flü­gen 907 Men­schen nach Afgha­ni­stan abge­scho­ben.

Eine Stu­die zur Situa­ti­on von aus Deutsch­land abge­scho­be­nen Afgha­nen aus 2019 belegt, dass die Betrof­fe­nen zumeist unmit­tel­bar nach ihrer Ankunft Gewalt, Bedro­hung und Elend aus­ge­setzt sind und sich in den meis­ten Fäl­len zur erneu­ten Flucht gezwun­gen sehen.

Hunderttausende Rückkehrer*innen und Binnenvertriebene 

Afgha­ni­stan ver­sinkt wei­ter im Cha­os. Das Land ist kaum in der Lage, Hun­dert­tau­sen­de Afghan*innen, die Iran und Paki­stan zwangs­wei­se ver­las­sen muss­ten, zu ver­sor­gen. Allein seit Jah­res­be­ginn 2020 bis 19. Sep­tem­ber waren dies laut UNHCR rund 550.000 Men­schen.

Auch die Tür­kei schiebt mas­siv nach Afgha­ni­stan ab. Exak­te Zah­len gibt es nicht, aber eine Grö­ßen­ord­nung: 2019 waren laut OCHA min­des­tens 16.000 Afghan*innen davon betrof­fen, IOM ver­mel­de­te bis Mit­te Novem­ber 2019 sogar rund 24.000 Rück­füh­run­gen von der Tür­kei nach Afgha­ni­stan. Die Tür­kei hat­te die Abschie­bung von 100.000 Afghan*innen in 2019 ange­droht (Sei­te 28, OCHA-Bericht), die Lage afgha­ni­scher Geflüch­te­ter im Land wird von Tag zu Tag prekärer.

Hin­zu kom­men wei­te­re rund 185.000 Bin­nen­ver­trie­be­ne seit Jah­res­be­ginn 2020 auf­grund von Kon­flik­ten und Gefech­ten in 30 von 34 Pro­vin­zen des Lan­des (Quel­le: OCHA, Stand 27. September).

Gewalt in Afghanistan geht weiter 

Laut Glo­bal Peace Index 2020 ist Afgha­ni­stan bereits das zwei­te Jahr in Fol­ge das unsi­chers­te Land der Welt – noch vor Syri­en. Der Halb­jah­res­be­richt 2020 der United Nati­ons Assis­tance Mis­si­on in Afgha­ni­stan (UNAMA) zeigt, dass die Gewalt in Afgha­ni­stan wei­ter unge­bro­chen ist und tau­sen­de zivi­le Opfer for­dert. Zwar sei die Zahl mit ins­ge­samt 3.484 doku­men­tier­ten Toten und Ver­letz­ten im Ver­gleicht zum Vor­jah­res­zeit­raum leicht rück­läu­fig; UNAMA schreibt die­se Ent­wick­lung dem Rück­zug der US-Trup­pen und dem gerin­ge­ren Anteil durch Anschlä­ge und Gefech­te mit Betei­li­gung des soge­nann­ten Isla­mi­schen Staa­tes (IS) zu.

Die Gewalt zwi­schen Tali­ban und den afgha­ni­schen Regie­rungs­kräf­ten geht trotz inner­af­gha­ni­scher Ver­hand­lun­gen seit 12. Sep­tem­ber in Doha jedoch unver­min­dert wei­ter (sie­he Bei­spie­le hier und hier). Dem Long War Jour­nal zufol­ge sind 66 Pro­zent des Lan­des ent­we­der in Tali­ban-Hand oder zwi­schen Tali­ban und den Regie­rungs­kräf­ten umkämpft.

Corona-Pandemie verschärft die Lage 

Noch vor dem Aus­bruch der Coro­na-Pan­de­mie war laut Schät­zun­gen von OCHA mehr als ein Vier­tel der Bevöl­ke­rung Afgha­ni­stans auf huma­ni­tä­re Hil­fe ange­wie­sen (9.4 von rund 38 Mil­lio­nen). Wie das kaum exis­tie­ren­de Gesund­heits­sys­tem in Afgha­ni­stan den Aus­bruch von Covid-19 bewäl­ti­gen soll, ist unklar.

Nach Recher­chen der Wis­sen­schaft­le­rin Frie­de­ri­ke Stahl­mann stan­den im März im Afghan-Japan-Kran­ken­haus in Kabul, das zur natio­na­len Anlauf­stel­le für behand­lungs­be­dürf­ti­ge Corona-Patient*innen bestimmt wur­de, ledig­lich 100 Bet­ten zur Ver­fü­gung. Zudem sei es nur mög­lich, vier (!) Patient*innen gleich­zei­tig mit Sau­er­stoff zu versorgen.

Die afgha­ni­sche Regie­rung hat­te zur Ein­däm­mung der Pan­de­mie einen Lock­down bis ein­schließ­lich Sep­tem­ber beschlos­sen. Der Lock­down hat unter ande­rem zur Fol­ge, dass auch NGOs und huma­ni­tä­re Orga­ni­sa­tio­nen in ihrer Bewe­gungs­frei­heit ein­ge­schränkt sind und daher ihre drin­gend benö­tig­te Unter­stüt­zung nicht ankommt oder für die Betrof­fe­nen nicht erreich­bar ist. In Fol­ge der Maß­nah­men zur Ein­däm­mung des Coro­na­vi­rus haben 2 Mil­lio­nen Afghan*innen ihre Jobs ver­lo­ren, der Arbeits­markt für Tage­löh­ner, auf die das BAMF und deut­sche Gerich­te afgha­ni­sche Asyl­su­chen­de ger­ne ver­wei­sen, ist kaum exis­tent. (Aus­führ­li­che Infor­ma­tio­nen über die Aus­wir­kun­gen von Covid-19 in Afgha­ni­stan gibt es hier.)

Keine Abschiebungen nach Afghanistan!

PRO ASYL erneu­ert die For­de­rung nach einem Abschie­bungs­stopp nach Afgha­ni­stan. Abschie­bun­gen in Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­te darf es nicht geben. PRO ASYL unter­stützt zudem das euro­pa­wei­te State­ment des Euro­päi­schen Flücht­lings­rats (ECRE) gegen die Abschie­bungs­plä­ne der EU für Afghanistan.

(akr/ame)