07.10.2019
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Wieder brandaktuell - Karikatur von Harm Bengen aus dem Jahr 2015.

Eine aktuelle Studie der Sozialwissenschaftlerin Friederike Stahlmann zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen beschäftigt sich mit der Situation von aus Deutschland zwischen Dezember 2016 und April 2019 abgeschobenen Afghanen. Was ist aus ihnen geworden?

Wel­che Unter­stüt­zung fan­den sie? Hat­ten sie Zugang zu Obdach, Arbeit und medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung? Wel­che Gewalt­er­fah­run­gen mach­ten sie nach der Ankunft?

Die  Doku­men­ta­ti­on gelang der Wis­sen­schaft­le­rin in 55 Fäl­len, immer­hin also bei etwa 10 Pro­zent der in die­sem Zeit­raum Abge­scho­be­nen – trotz aller Sicher­heits­be­den­ken vie­ler Abge­scho­be­ner und der Schwie­rig­kei­ten, über­haupt einen Kon­takt herzustellen.

Die Ergeb­nis­se sind ver­stö­rend und soll­ten denen zu den­ken geben, die Afgha­ni­stan-Abschie­bun­gen immer noch für ver­tret­bar hal­ten, obwohl sich die Lage in Afgha­ni­stan stän­dig ver­schärft. Die Stu­die ergab, dass Gewalt gegen Abge­scho­be­ne und ihre Fami­li­en auf­grund ihrer Rück­kehr nicht nur mit hoher Wahr­schein­lich­keit ein­tritt, son­dern auch bereits inner­halb kür­zes­ter Zeit nach Ankunft.  Von den 31, die Afgha­ni­stan nicht bereits wie­der bin­nen zwei Mona­ten ver­las­sen haben und erneut auf die Flucht gin­gen – gaben 90 Pro­zent an, Gewalt­er­fah­run­gen gemacht zu haben. Über 50 Pro­zent berich­te­ten von Gewalt­er­fah­run­gen, die auch sonst den afgha­ni­schen All­tag prä­gen:  Drei Mal wur­den Abge­scho­be­ne durch Anschlä­ge so schwer ver­letzt, dass sie not­ver­sorgt wer­den muss­ten. Ande­re berich­te­ten über Fest­nah­men und Miss­hand­lun­gen bei Stra­ßen­kon­trol­len der Tali­ban beim Ver­such, von Kabul aus ihre Hei­mat­pro­vin­zen zu errei­chen, über Bedro­hun­gen und Zwangs­re­kru­tie­rungs­ver­su­che durch die Tali­ban. Acht wur­den Opfer von bewaff­ne­ten Raubüberfällen.

Misstrauen, Bedrohungen, Gewalt

Eben­falls über 50 Pro­zent berich­te­ten von Gewalt­er­fah­run­gen auf­grund ihres Auf­ent­halts in Euro­pa. Von Sei­ten der Tali­ban wird die Flucht nach Euro­pa mit Miss­trau­en beäugt oder gar als ein »Über­lau­fen zum Feind« betrach­tet. Bei den Bedro­hun­gen durch die Tali­ban fällt auf, dass die­se nicht sel­ten über den Aus­lands­auf­ent­halt und das Land der Zufluchts­su­che Bescheid wis­sen. Betrof­fe­ne berich­te­ten aber auch, dass sie von Nachbar*innen, Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen und sogar Frem­den auf der Stra­ße als »Ver­rä­ter« oder »Ungläu­bi­ge« ange­se­hen, bedroht, gejagt oder ange­grif­fen wur­den. Auch wer Kon­takt hält zu Europäer*innen, gar Journalist*innen, begibt sich in Gefahr. Die Bericht­erstat­tung der afgha­ni­schen Medi­en ist ein wei­te­res Gefährdungsmoment.

Mehr als 85 Pro­zent der Abge­scho­be­nen gaben an, sich haupt­säch­lich durch pri­va­te Unter­stüt­zung aus dem Aus­land über Was­ser zu hal­ten, soweit das über­haupt gelingt. Freund*innen, Ver­wand­te, Hel­fer­krei­se, Kir­chen­ge­mein­den, ehe­ma­li­ge Mitschüler*innen ver­su­chen zu hel­fen – auf Dau­er ange­legt und mög­lich ist die­se Unter­stüt­zung fast nie. Zumin­dest stel­len Unterstützer*innen jedoch einen wich­ti­gen psy­chi­schen Halt in der in der Regel als aus­sicht­los emp­fun­de­nen Situa­ti­on dar. Kei­nem ein­zi­gen der Befrag­ten ist eine Exis­tenz­grün­dung durch Arbeit oder auf ande­re nach­hal­ti­ge Wei­se gelun­gen. Ihre spe­zi­fi­schen Sicher­heits­ri­si­ken als Abge­scho­be­ne wir­ken sich hier erschwe­rend aus. Mit fami­liä­rer Soli­da­ri­tät in Afgha­ni­stan kön­nen Abge­scho­be­ne schon des­halb sel­ten rech­nen, weil sich die Fami­li­en dadurch selbst in Gefahr von Ver­fol­gung und kri­mi­nel­ler Über­grif­fe brin­gen würden.

90 Pro­zent der befrag­ten Betrof­fe­nen leben in Verstecken

Rück­kehr­hil­fen erwei­sen sich als wenig wirk­sam. Nur sie­ben von 47 zu die­sem The­ma Befrag­ten erhiel­ten finan­zi­el­le Unter­stüt­zung des sog. ERRIN-Pro­gram­mes (Euro­pean Return and Reinte­gra­ti­on Net­work). Selbst wenn alle not­wen­di­gen Doku­men­te bei­gebracht wer­den konn­ten, waren die Vor­aus­set­zun­gen für die erfolg­rei­che Antrag­stel­lung inner­halb der Fris­ten meist nicht zu erfül­len. Und auch die­se Unter­stüt­zung leis­tet kei­ne huma­ni­tä­re Absi­che­rung oder eine rea­lis­ti­sche Chan­ce auf Existenzgründung.

Die meisten müssen sich verstecken

Die Wohn­si­tua­ti­on der meis­ten Betrof­fe­nen ist schon auf­grund der Sicher­heits­la­ge desas­trös. So waren fast 90 Pro­zent der Unter­künf­te Ver­ste­cke. 21 der Abge­scho­be­nen ver­steck­ten sich nach Ein­tref­fen in Kabul zunächst bei Freund*innen oder Ver­wand­ten, kei­ne Dau­er­lö­sung. Ansons­ten sind Ver­ste­cke von pri­va­ter finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung aus dem Aus­land abhän­gig. Neun waren zeit­wei­lig oder dau­er­haft obdachlos.

Die Fra­ge, ob Abge­scho­be­ne pla­nen, in Afgha­ni­stan zu blei­ben, erbrach­te vor dem Hin­ter­grund der Erfah­run­gen der Betrof­fe­nen ein ein­deu­ti­ges Ergeb­nis: Nur einer der 51 Kon­tak­tier­ten erklär­te, in Afgha­ni­stan blei­ben zu wol­len, nach­dem er aus dem Iran erneut abge­scho­ben wor­den war. Von den 26 Per­so­nen, die sich zum Abschluss der Unter­su­chung noch in Afgha­ni­stan auf­hiel­ten, hoff­ten 16 auf eine lega­le Rück­kehr nach Deutsch­land im Rah­men des Visum­ver­fah­rens, was bis­her drei gelun­gen war. Doch die Hür­den sind hoch.

Wer abschiebt, weiß, dass er Men­schen in Ver­zweif­lung stürzt, dass er aku­te Gefähr­dung pro­vo­ziert, Obdach­lo­sig­keit und Ver­elen­dung schafft.

Ange­sichts der Aus­weg­lo­sig­keit in Afgha­ni­stan sehen vie­le Betrof­fe­ne in den gro­ßen Risi­ken einer Flucht – von der Inhaf­tie­rung über die erneu­te Abschie­bung bis zum mög­li­chen Tod auf dem Mit­tel­meer – die gerin­ge­re Bedro­hung. Selbst drei der Befrag­ten, die gute Chan­cen auf ein Visum für Deutsch­land gehabt hät­ten, sahen sich auf­grund der lan­gen War­te­zeit zu erneu­ter Flucht gezwun­gen. 19 wei­te­re Per­so­nen hat­ten sich bereits auf eine erneu­te Flucht  bege­ben, wobei 10 wie­der in Euro­pa ange­kom­men waren – wo die ein­zi­ge Chan­ce auf tat­säch­li­chen Schutz besteht.

Abschiebungen sind nicht hinnehmbar

Die Stu­die von Frie­de­ri­ke Stahl­mann zeigt deut­lich: Die Erfah­run­gen der Abge­scho­be­nen wider­le­gen das Gere­de von den angeb­lich siche­ren Regio­nen Afgha­ni­stans und der gerin­gen »Gefah­ren­dich­te« im Lan­de, die den Betrof­fe­nen zumut­bar sei. Wer abschiebt, weiß, dass er Men­schen in Ver­zweif­lung stürzt, dass er aku­te Gefähr­dung pro­vo­ziert, Obdach­lo­sig­keit und Ver­elen­dung schafft. PRO ASYL for­dert schon seit Beginn der Sam­mel­ab­schie­bun­gen im Dezem­ber 2016, die­se wie­der zu stoppen.

Denn: Ange­sichts der Ent­wick­lun­gen in Afgha­ni­stan sind Abschie­bun­gen dort­hin nicht hin­nehm­bar. In der Ein­lei­tung ihrer Stu­die weist die Ver­fas­se­rin auf die Fak­ten hin: Das Armuts­ni­veau lag schon 2016 wie­der auf dem Niveau des Endes der ers­ten Tali­ban-Herr­schaft. Die Zahl der Men­schen, die auf huma­ni­tä­re Hil­fe ange­wie­sen sind, hat sich 2018 nahe­zu ver­dop­pelt. Mehr Hun­gern­de gibt es aktu­ell nur noch im Jemen. Nach dem Glo­bal Peace Index ist Afgha­ni­stan das unsi­chers­te Land der Welt. Im  Jahr  2018  gab  es  in  Afgha­ni­stan mit gro­ßem Abstand die meis­ten Kriegs­to­ten welt­weit  und  die  Macht  der  Tali­ban  ist  wie­der  so  groß,  dass sie selbst in Tei­len Kabuls regu­lär Steu­ern ein­trei­ben können.

(bm)