17.04.2019
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Was wird aus den wenigen Zugeständnissen an die Frauen- und Mädchenrechte in Afghanistan, sollten die Taliban wieder an der Macht mitmischen? Foto: Erik Marquardt

Verhandlungen in Doha, Dialog in Moskau: Im Frühjahr 2019 ist viel von einem möglichen Frieden in Afghanistan die Rede. Doch der Verlauf der Gespräche lässt kaum Raum für Optimismus. Und: Würde ein wie auch immer gearteter Frieden in Afghanistan auch das Ende der beinahe endlosen Historie der Flucht, Vertreibung und Exil der Bevölkerung bedeuten?

Das beginnt bereits bei der Fra­ge, wer betei­ligt wer­den müss­te: Wer sind die Geg­ner und Par­tei­en, die ihre Unter­schrift an den Anfang eines Frie­dens­pro­zes­ses set­zen könn­ten? Wie lan­ge wür­de er dau­ern? Lan­ge Krie­ge mün­den für gewöhn­lich, wenn sie nicht ein­deu­tig Sie­ger und Besieg­te haben, in län­ge­re Pro­zes­se, durch die der Krieg zunächst oft nur »ein­ge­hegt« wird, bevor an eine wirk­li­che Nach­kriegs­ord­nung oder gar Aus­söh­nung gedacht wer­den kann.

Doch so weit ist es noch lan­ge nicht. Es gibt nicht ein­mal einen Waf­fen­still­stand. Die Gesprä­che fin­den bis­lang ohne Ein­be­zie­hung der afgha­ni­schen Regie­rung zwi­schen den USA und den Tali­ban als Haupt­ak­teu­ren statt. Die afgha­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft ist in Sor­ge, dass ihre Inter­es­sen und selbst Rech­te, die die gel­ten­de Ver­fas­sung gewährt, zur Dis­po­si­ti­on gestellt werden.

Taliban hoffen auf schnellen Abzug

Die Trump-Regie­rung und die Tali­ban haben teil­wei­se kon­ver­gie­ren­de Inter­es­sen. Die US-Trup­pen sol­len schnell abge­zo­gen wer­den, nach­dem auch der afgha­ni­sche Teil des Pro­jek­tes eines »Glo­bal War on Ter­ror« geschei­tert ist. Die Tali­ban hof­fen, dass ihnen mit einem Trup­pen­ab­zug das Heft in die Hand gege­ben wäre – für eine Macht­über­nah­me und Durch­set­zung ihrer rück­wärts­ge­wand­ten Gesell­schafts­vor­stel­lung, ob allein oder zunächst in einer Koali­ti­on mit kon­ser­va­ti­ven Kräf­ten, die sich auch unter ihren bis­he­ri­gen Geg­nern fin­den lassen.

Was wür­de ein Kom­pro­miss für die Men­schen in Afgha­ni­stan bedeu­ten? Wer­den die Tali­ban gemä­ßig­te Posi­tio­nen, die sie nach ihrer Ver­trei­bung von der Macht teil­wei­se ein­ge­nom­men hat­ten, z.B. im Bereich der Mäd­chen­bil­dung oder bei der Dul­dung der Arbeit auch aus­län­di­scher Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen, bei­be­hal­ten? Sind ihre Zusi­che­run­gen, dass Frau­en ihre Ehe­part­ner selbst wäh­len und öffent­li­che Ämter beklei­den dür­fen, ernst zu neh­men – oder schei­tern sol­che Hoff­nun­gen an der Gene­ral­klau­sel, dass alles in Über­ein­stim­mung mit isla­mi­schen Prin­zi­pi­en zu gesche­hen hat?

Aller­dings: Der Islam­vor­be­halt ist auch Bestand­teil der heu­te gel­ten­den Ver­fas­sung. Die­se leh­nen die Tali­ban bekannt­lich trotz­dem ab. Über­dies ste­hen vie­le Ver­fas­sungs­rech­te schon heu­te nur auf dem Papier, weil eine kon­ser­va­ti­ve Mehr­heit im Par­la­ment neue Geset­ze ver­hin­dert und die Kon­ser­va­ti­ven in Macht­po­si­tio­nen die Umset­zung vor­han­de­ner Geset­ze blockieren.

Unverändert schlechte Sicherheitslage

Die Sicher­heits­la­ge indes bleibt gemes­sen an der Zahl der mili­tä­ri­schen und zivi­len Opfer unver­än­dert schlecht – mit einer Ten­denz zum Nega­ti­ven. Abseits der gro­ßen Städ­te fal­len immer mehr Regio­nen unter die Herr­schaft der Tali­ban. Die­se kon­trol­lie­ren bzw. bedro­hen wich­ti­ge Ver­bin­dungs­stra­ßen. Über­land­rei­sen sind mit gro­ßen Risi­ken ver­bun­den. Anschlä­ge hat es in den letz­ten Jah­ren bis in die beson­ders gesi­cher­ten Zonen der Städ­te hin­ein gege­ben – mit vie­len Opfern.

Auch heu­te sind meh­re­re Pro­vinz­städ­te von den Tali­ban de fac­to umzingelt.

Was mög­lich ist, haben die Tali­ban bei der zeit­wei­li­gen Beset­zung von Städ­ten wie Kun­dus und Ghaz­ni in den Jah­ren 2015 bis 2018 bewie­sen. Dass sie dort nicht blie­ben, ist eines der schwa­chen Argu­men­te der Bun­des­re­gie­rung für die Behaup­tung, in Afgha­ni­stan herr­sche eine »mili­tä­ri­sche Patt­si­tua­ti­on«. Auch heu­te sind meh­re­re Pro­vinz­städ­te von den Tali­ban de fac­to umzin­gelt. War­um soll­ten sie mit Auf­wand und Ver­lus­ten Städ­te hal­ten, wenn ihnen die poli­ti­sche Ent­wick­lung in die Hän­de spielt?

72%

der Distrik­te waren im Novem­ber 2015 unter voll­stän­di­ger Kon­trol­le der afgha­ni­schen Regierung.

54%

waren es im Okto­ber 2018 nur noch.

Die Ver­lus­te der afgha­ni­schen Streit­kräf­te durch Tod, Ver­wun­dung und Deser­ti­on sind immens. Zah­len wer­den seit 2018 geheim gehal­ten, aber es gibt Äuße­run­gen des afgha­ni­schen Prä­si­den­ten, dass die mili­tä­ri­schen Ver­lus­te dop­pelt so hoch lie­gen wie die zivi­len. Dazu der Kon­troll­ver­lust: Noch im Novem­ber 2015 hat­ten die Regie­rungs­kräf­te laut SIG­AR-Report vom 30. Janu­ar 2019 in 72 Pro­zent aller Distrik­te des Lan­des die voll­stän­di­ge Kon­trol­le. Im Okto­ber 2018 waren es nur noch 54 Pro­zent. Die Tali­ban konn­ten ihre Gebiets­ge­win­ne im sel­ben Zeit­raum ver­dop­peln. Rund ein Vier­tel des Lan­des bleibt zwi­schen den Kriegs­par­tei­en kon­stant umkämpft.

Diverse Warlords sind auch militärisch aktiv

Die Tali­ban und die Regie­rungs­kräf­te sind dabei nicht die ein­zi­gen Akteu­re. Auch Mili­zen diver­ser War­lords, die mit bei­den Sei­ten ihre eige­nen Geschäf­te machen, kon­trol­lie­ren Tei­le der Öko­no­mie und herr­schen regio­nal über Leben und Tod. Allein in Nord­af­gha­ni­stan soll es etwa 350 nicht mit den Tali­ban ver­bün­de­te Mili­zen geben, von denen vie­le wohl kaum ein Inter­es­se an einer schnel­len Been­di­gung des Krie­ges haben wer­den. Denn sie und ihre Schutz­her­ren in den Rei­hen der afgha­ni­schen Regie­rung pro­fi­tie­ren von Weg­zöl­len, Schutz­gel­dern, Plün­de­rei und der Dro­gen­öko­no­mie. Was hät­te ihnen eine Frie­dens­ord­nung statt­des­sen anzubieten?

Nicht nur jun­ge, auch Afghan*innen mitt­le­ren Alters ken­nen kaum etwas ande­res als Krieg und Zer­stö­rung, Ver­trei­bung und Exil. 18 Jah­re dau­ert bereits der Krieg zwi­schen Tali­ban, Regie­rungs­trup­pen, aus­län­di­schen Trup­pen und War­lords. Jahr für Jahr wer­den Hun­dert­tau­sen­de Afghan*innen als Bin­nen­flücht­lin­ge neu ver­trie­ben oder müs­sen das Land ganz verlassen.

Ins­ge­samt wird in Afgha­ni­stan – von kur­zen ruhi­ge­ren Pha­sen abge­se­hen – seit 40 Jah­ren gekämpft. 

18 Jah­re

sind seit dem Ein­marsch der USA in Afgha­ni­stan ver­gan­gen. Seit­her herrscht Krieg mit den Taliban.

Ins­ge­samt wird in Afgha­ni­stan – von kur­zen ruhi­ge­ren Pha­sen abge­se­hen – seit 40 Jah­ren gekämpft. Damals nah­men Mud­scha­hed­din-Grup­pen nach dem sowje­ti­schen Ein­marsch den Kampf gegen die Inva­so­ren auf. Was als eine Epi­so­de des Kal­ten Krie­ges begann, hat Gene­ra­tio­nen von Afghan*innen geprägt. Kaum eine Fami­lie, die nicht eine Viel­zahl von Ange­hö­ri­gen ver­lo­ren hat. Kaum Men­schen, die nicht min­des­tens zeit­wei­lig Haus und Hof als Bin­nen­ver­trie­be­ne ver­las­sen muss­ten, oft mehr­fach. Mil­lio­nen afgha­ni­sche Flücht­lin­ge im Iran und in Paki­stan, die nach Jahr­zehn­ten des Exils aus dem Lan­de gedrängt wer­den in eine Hei­mat, die sie nicht wie­der­erken­nen, die fast so arm ist wie zu Zei­ten der Tali­ban-Herr­schaft bis 2001.

Hoffen auf die Zivilgesellschaft

Hoff­nun­gen kann man even­tu­ell set­zen in die Zivil­ge­sell­schaft, die gleich­sam durch den lan­gen Krieg und die Ent­wur­ze­lung teil­wei­se aus tra­di­tio­nel­len Bin­dun­gen her­aus­ge­ris­sen wor­den ist. Die extrem jun­ge Bevöl­ke­rung Afgha­ni­stans hat per Radio, Han­dy und Inter­net Zugang zu Infor­ma­tio­nen und Debat­ten. Die Mäch­ti­gen im Lan­de hal­ten Vie­le für düs­te­re Gestal­ten der Ver­gan­gen­heit. Tra­di­tio­nen und reli­giö­se Zwän­ge wer­den hinterfragt.

Schon Ansät­ze zu moder­nen, nicht tra­di­tio­nell gepräg­ten Lebens­ent­wür­fen sind aber nicht nur den Tali­ban ein Dorn im Auge. Ihren Stand der Din­ge in Sachen Frau­en­rech­te haben sie schon in einem State­ment bei den Ver­hand­lun­gen in Katar ver­brei­tet: »Im Namen der Frau­en­rech­te gab es eine Arbeit für Immo­ra­li­tät, Scham­lo­sig­keit und die Ver­brei­tung nicht-isla­mi­scher Kul­tur«. West­li­che »soap operas« hät­ten zu Sit­ten­ver­fall und Moral­ver­bre­chen geführt. Sol­che Posi­tio­nen, die nicht nur von den Tali­ban ver­tre­ten wer­den, las­sen wenig Gutes erwar­ten in Bezug auf das, was Frau­en durch eine Nach­kriegs­ord­nung, die die Tali­ban wesent­lich mit­be­stim­men, auf­er­legt würde.

Krieg und Unsi­cher­heit haben die Flucht­be­we­gun­gen aus Afgha­ni­stan über Jahr­zehn­te geprägt. Nicht undenk­bar, dass selbst ein Frie­den neue For­men der Ver­fol­gung und aufs Neue Flücht­lin­ge schaf­fen könnte.

Bernd Meso­vic


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