Hintergrund
Wohin treibt Afghanistan: Das Ende eines vierzigjährigen Krieges?
Verhandlungen in Doha, Dialog in Moskau: Im Frühjahr 2019 ist viel von einem möglichen Frieden in Afghanistan die Rede. Doch der Verlauf der Gespräche lässt kaum Raum für Optimismus. Und: Würde ein wie auch immer gearteter Frieden in Afghanistan auch das Ende der beinahe endlosen Historie der Flucht, Vertreibung und Exil der Bevölkerung bedeuten?
Das beginnt bereits bei der Frage, wer beteiligt werden müsste: Wer sind die Gegner und Parteien, die ihre Unterschrift an den Anfang eines Friedensprozesses setzen könnten? Wie lange würde er dauern? Lange Kriege münden für gewöhnlich, wenn sie nicht eindeutig Sieger und Besiegte haben, in längere Prozesse, durch die der Krieg zunächst oft nur »eingehegt« wird, bevor an eine wirkliche Nachkriegsordnung oder gar Aussöhnung gedacht werden kann.
Doch so weit ist es noch lange nicht. Es gibt nicht einmal einen Waffenstillstand. Die Gespräche finden bislang ohne Einbeziehung der afghanischen Regierung zwischen den USA und den Taliban als Hauptakteuren statt. Die afghanische Zivilgesellschaft ist in Sorge, dass ihre Interessen und selbst Rechte, die die geltende Verfassung gewährt, zur Disposition gestellt werden.
Taliban hoffen auf schnellen Abzug
Die Trump-Regierung und die Taliban haben teilweise konvergierende Interessen. Die US-Truppen sollen schnell abgezogen werden, nachdem auch der afghanische Teil des Projektes eines »Global War on Terror« gescheitert ist. Die Taliban hoffen, dass ihnen mit einem Truppenabzug das Heft in die Hand gegeben wäre – für eine Machtübernahme und Durchsetzung ihrer rückwärtsgewandten Gesellschaftsvorstellung, ob allein oder zunächst in einer Koalition mit konservativen Kräften, die sich auch unter ihren bisherigen Gegnern finden lassen.
Was würde ein Kompromiss für die Menschen in Afghanistan bedeuten? Werden die Taliban gemäßigte Positionen, die sie nach ihrer Vertreibung von der Macht teilweise eingenommen hatten, z.B. im Bereich der Mädchenbildung oder bei der Duldung der Arbeit auch ausländischer Hilfsorganisationen, beibehalten? Sind ihre Zusicherungen, dass Frauen ihre Ehepartner selbst wählen und öffentliche Ämter bekleiden dürfen, ernst zu nehmen – oder scheitern solche Hoffnungen an der Generalklausel, dass alles in Übereinstimmung mit islamischen Prinzipien zu geschehen hat?
Allerdings: Der Islamvorbehalt ist auch Bestandteil der heute geltenden Verfassung. Diese lehnen die Taliban bekanntlich trotzdem ab. Überdies stehen viele Verfassungsrechte schon heute nur auf dem Papier, weil eine konservative Mehrheit im Parlament neue Gesetze verhindert und die Konservativen in Machtpositionen die Umsetzung vorhandener Gesetze blockieren.
Unverändert schlechte Sicherheitslage
Die Sicherheitslage indes bleibt gemessen an der Zahl der militärischen und zivilen Opfer unverändert schlecht – mit einer Tendenz zum Negativen. Abseits der großen Städte fallen immer mehr Regionen unter die Herrschaft der Taliban. Diese kontrollieren bzw. bedrohen wichtige Verbindungsstraßen. Überlandreisen sind mit großen Risiken verbunden. Anschläge hat es in den letzten Jahren bis in die besonders gesicherten Zonen der Städte hinein gegeben – mit vielen Opfern.
Auch heute sind mehrere Provinzstädte von den Taliban de facto umzingelt.
Was möglich ist, haben die Taliban bei der zeitweiligen Besetzung von Städten wie Kundus und Ghazni in den Jahren 2015 bis 2018 bewiesen. Dass sie dort nicht blieben, ist eines der schwachen Argumente der Bundesregierung für die Behauptung, in Afghanistan herrsche eine »militärische Pattsituation«. Auch heute sind mehrere Provinzstädte von den Taliban de facto umzingelt. Warum sollten sie mit Aufwand und Verlusten Städte halten, wenn ihnen die politische Entwicklung in die Hände spielt?
Die Verluste der afghanischen Streitkräfte durch Tod, Verwundung und Desertion sind immens. Zahlen werden seit 2018 geheim gehalten, aber es gibt Äußerungen des afghanischen Präsidenten, dass die militärischen Verluste doppelt so hoch liegen wie die zivilen. Dazu der Kontrollverlust: Noch im November 2015 hatten die Regierungskräfte laut SIGAR-Report vom 30. Januar 2019 in 72 Prozent aller Distrikte des Landes die vollständige Kontrolle. Im Oktober 2018 waren es nur noch 54 Prozent. Die Taliban konnten ihre Gebietsgewinne im selben Zeitraum verdoppeln. Rund ein Viertel des Landes bleibt zwischen den Kriegsparteien konstant umkämpft.
Diverse Warlords sind auch militärisch aktiv
Die Taliban und die Regierungskräfte sind dabei nicht die einzigen Akteure. Auch Milizen diverser Warlords, die mit beiden Seiten ihre eigenen Geschäfte machen, kontrollieren Teile der Ökonomie und herrschen regional über Leben und Tod. Allein in Nordafghanistan soll es etwa 350 nicht mit den Taliban verbündete Milizen geben, von denen viele wohl kaum ein Interesse an einer schnellen Beendigung des Krieges haben werden. Denn sie und ihre Schutzherren in den Reihen der afghanischen Regierung profitieren von Wegzöllen, Schutzgeldern, Plünderei und der Drogenökonomie. Was hätte ihnen eine Friedensordnung stattdessen anzubieten?
Nicht nur junge, auch Afghan*innen mittleren Alters kennen kaum etwas anderes als Krieg und Zerstörung, Vertreibung und Exil. 18 Jahre dauert bereits der Krieg zwischen Taliban, Regierungstruppen, ausländischen Truppen und Warlords. Jahr für Jahr werden Hunderttausende Afghan*innen als Binnenflüchtlinge neu vertrieben oder müssen das Land ganz verlassen.
Insgesamt wird in Afghanistan – von kurzen ruhigeren Phasen abgesehen – seit 40 Jahren gekämpft.
Insgesamt wird in Afghanistan – von kurzen ruhigeren Phasen abgesehen – seit 40 Jahren gekämpft. Damals nahmen Mudschaheddin-Gruppen nach dem sowjetischen Einmarsch den Kampf gegen die Invasoren auf. Was als eine Episode des Kalten Krieges begann, hat Generationen von Afghan*innen geprägt. Kaum eine Familie, die nicht eine Vielzahl von Angehörigen verloren hat. Kaum Menschen, die nicht mindestens zeitweilig Haus und Hof als Binnenvertriebene verlassen mussten, oft mehrfach. Millionen afghanische Flüchtlinge im Iran und in Pakistan, die nach Jahrzehnten des Exils aus dem Lande gedrängt werden in eine Heimat, die sie nicht wiedererkennen, die fast so arm ist wie zu Zeiten der Taliban-Herrschaft bis 2001.
Hoffen auf die Zivilgesellschaft
Hoffnungen kann man eventuell setzen in die Zivilgesellschaft, die gleichsam durch den langen Krieg und die Entwurzelung teilweise aus traditionellen Bindungen herausgerissen worden ist. Die extrem junge Bevölkerung Afghanistans hat per Radio, Handy und Internet Zugang zu Informationen und Debatten. Die Mächtigen im Lande halten Viele für düstere Gestalten der Vergangenheit. Traditionen und religiöse Zwänge werden hinterfragt.
Schon Ansätze zu modernen, nicht traditionell geprägten Lebensentwürfen sind aber nicht nur den Taliban ein Dorn im Auge. Ihren Stand der Dinge in Sachen Frauenrechte haben sie schon in einem Statement bei den Verhandlungen in Katar verbreitet: »Im Namen der Frauenrechte gab es eine Arbeit für Immoralität, Schamlosigkeit und die Verbreitung nicht-islamischer Kultur«. Westliche »soap operas« hätten zu Sittenverfall und Moralverbrechen geführt. Solche Positionen, die nicht nur von den Taliban vertreten werden, lassen wenig Gutes erwarten in Bezug auf das, was Frauen durch eine Nachkriegsordnung, die die Taliban wesentlich mitbestimmen, auferlegt würde.
Krieg und Unsicherheit haben die Fluchtbewegungen aus Afghanistan über Jahrzehnte geprägt. Nicht undenkbar, dass selbst ein Frieden neue Formen der Verfolgung und aufs Neue Flüchtlinge schaffen könnte.
Bernd Mesovic