Hintergrund
Rechtswidrige Abschiebungshaft: »Es geht um uns. Darum, wie wir unsere Verfassung leben«
Rechtsanwalt Peter Fahlbusch setzt sich seit nahezu zwei Dekaden unbeirrbar für Menschen in der Abschiebungshaft ein. Im Interview erklärt er, warum die Hälfte der Betroffenen zu Unrecht in Haft sitzt und warum die Verteidigung ihrer Grundrechte in unserem eigenen gesellschaftlichen Interesse liegt.
Peter, Du hast als Rechtsanwalt in den letzten 18 Jahren Hunderte von Verfahren für Menschen in Abschiebungshaft geführt. In der Hälfte der Fälle erwies sich die Inhaftierung als rechtswidrig.
Ja, richtig. Ich habe seit 2001 über 1.700 Menschen in Abschiebungshaft vertreten und diese Verfahren statistisch ausgewertet. Über die ganzen Jahre hinweg waren nach den hier vorliegenden, rechtskräftigen Entscheidungen immer etwa 50 % der Haftentscheidungen rechtswidrig. Die Hälfte der Menschen, die ich vertreten habe, saß zu Unrecht in Haft: manche monatelang, manche »nur« einen Tag, im Durchschnitt jede*r knapp vier Wochen.
Wie kommt es zu diesen ganzen falschen Entscheidungen?
Ach, da werden zahlreiche Fehler gemacht: Es werden Menschen eingesperrt, die gar nicht ausreisepflichtig sind – dabei ist das ja die Grundvoraussetzung für Abschiebungshaft. Dann gibt es Menschen, die keinen Haftgrund verwirklichen, die also zum Beispiel nie untergetaucht waren, obwohl die Behörden das behaupten. Regelmäßig werden Haftanträge den Betroffenen nicht ausgehändigt oder sie werden nicht übersetzt.
Wie soll man sich da dann hinreichend verteidigen können? Teilweise sind die Menschen schwer krank und damit gar nicht haftfähig. Oder man betreibt die Abschiebung nicht mit der notwendigen Beschleunigung, dabei ist das ja der einzige Zweck der Haftanordnung. Und so weiter und so weiter. Man sieht, das ist ein bunter Strauß. Das Gros der Fehler liegt sicherlich im Verfahrensrecht.
»Teilweise sind die Menschen schwer krank und damit gar nicht haftfähig.«
Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung fällt oft erst im Nachhinein. Was motiviert Dich, dann noch über Verfahrensfehler zu streiten?
Stimmt, die meisten Leute bekommen eine Entscheidung erst, wenn sie nicht mehr im Gefängnis sitzen. Viele sind dann schon abgeschoben oder freigelassen worden. Ungefähr 10 Prozent werden aus der Haft entlassen, weil das Gericht es anordnet. Die nachträgliche Feststellung, dass die Haftanordnung rechtswidrig war, liegt natürlich erst mal im Interesse der Betroffenen – grundsätzlich geht es aber um viel mehr als das: Es geht um uns. Darum, wie wir unsere Verfassung leben.
Artikel 104 Grundgesetz besagt, dass man Menschen ihre Freiheit nur entziehen darf, wenn man dafür ein Gesetz hat, das die Voraussetzungen regelt, und wenn man das entsprechende Verfahren einhält. Verfahrensrecht ist also Verfassungsrecht. Das muss man ernst nehmen, finde ich.
Du bist also auch Verfassungsschützer.
Ja (lacht), es ist mir ganz wichtig, dass sowas – massenhafte rechtswidrige Inhaftierungen – in meinem Land nicht passiert. Dass man hinguckt und dass die Regeln, die wir uns gegeben haben, eingehalten werden. »Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit«, so hat das mal ein berühmter Kollege gesagt vor über 100 Jahren.
Da ist was dran. Und der Weg zur richtigen Entscheidung führt über das richtige Verfahren. Das Verfahren ist der Anker, der uns schützt vor Rechtsverletzungen. Verfahrensrecht ist Magna Charta.
Hast Du eine Erklärung dafür, dass eine eklatant rechtswidrige Praxis so viele Jahre lang bestehen kann?
Tja. Genau das ist die eigentlich spannende Frage. Wenn man sich vorstellt, jede zweite Abrissverfügung eines Hauses wäre fehlerhaft und bemerkt wird das immer erst, wenn das Haus nicht mehr steht… Oder jede zweite BAföG-Entscheidung wäre fehlerhaft, so dass unsere Kinder nicht studieren können… Oder jede zweite Haftentscheidung gegen ein paar minderjährige Eierdiebe wäre fehlerhaft: Das gäbe – vollkommen zu Recht – einen Aufschrei! Im Abschiebungshaftrecht hingegen scheint eine 50-prozentige Fehlerquote niemanden zu irritieren. Warum ist das so?
Ich denke, wir müssten uns auch mal um das Vorverständnis der Handelnden kümmern. Es scheint, als sei den Akteur*innen egal, was da passiert. Und ich glaube, dass dieser gruselige Befund sich letztlich dadurch erklären lässt, dass die von Haft betroffenen Menschen keine Lobby haben. Das sind oft Menschen, mit denen wir, das heißt die Mehrheit der Gesellschaft, zumeist nichts zu tun haben, die »wir« vielleicht sogar unsympathisch finden. »Die« sollen ja ohnehin raus, und dann ist es anscheinend auch egal, was mit denen passiert und wie.
»Der Einzelfall, so tragisch er ist, ist nicht das Hauptproblem, die Masse der fehlerhaften Verfahren ist das Problem. Das ist systemisch, was hier an rechtswidriger Haft produziert wird.«
Aber zum Glück gibt es doch die Rechtsbeistände?
Leider sind wir Anwält*innen im Abschiebungshaftrecht nicht so richtig stark vertreten. Klar, viele der migrationsrechtlich arbeitenden Kolleg*innen sind stark überlastet. Trotzdem müssten sich hier viel mehr Kolleg*innen drum kümmern.
Das ist ja auch eine gesellschaftliche Frage! Und man gewinnt nirgendwo so viele Verfahren wie im Abschiebungshaftrecht, das könnte ja auch ein Ansporn sein. Es braucht hier junge, wache und interessierte Kolleg*innen, die sich des Themas annehmen. Vielleicht wachsen die jetzt nach, etwa über die Refugee Law Clinics oder den Fachanwalt für Migrationsrecht.
Und die Öffentlichkeit?
Ich habe jahrelang die Erfahrung gemacht, dass das fast niemanden interessiert. Es war wie im Echoraum, ich bekam kaum Resonanz auf meine Zahlen, höchstens mal auf den einen oder anderen dramatischen Einzelfall. Aber der Einzelfall, so tragisch er ist, ist nicht das Hauptproblem, die Masse der fehlerhaften Verfahren ist das Problem. Das ist systemisch, was hier an rechtswidriger Haft produziert wird. Und wenn man da nicht rangeht, wird sich das nicht ändern. Immerhin: In letzter Zeit spüre ich ein wachsendes Unwohlsein der Zivilgesellschaft. Vielleicht ändert sich da gerade was.
Auf europäischer Ebene arbeitet man aber an einer massiven Ausweitung der Abschiebungshaft. Auch in Deutschland verfolgt der Bundesinnenminister konkrete Pläne, Abschiebungshaft einfacher zu ermöglichen. Was sagst Du dazu?
Das ist doch bezeichnend: Anstatt dafür zu sorgen, dass die geltenden Regeln für den Freiheitsentzug respektiert und eingehalten werden, wird versucht, diese Regeln aufzuweichen. Das ist bedenklich, auch verfahrensrechtlich bedenklich.
Viele der Ideen des Bundesinnenministers sind meines Erachtens mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht vereinbar. Dass man Straf- und Abschiebungsgefangene wieder zusammen unterbringen will, zum Beispiel, ist europarechtswidrig, und zwar auch dann, wenn man die Trakte trennt.
Es ist auch keine gute Idee, den Bundesgerichtshof aus den einzelnen Verfahren rauszunehmen und dort nur noch Grundsatzfragen klären zu lassen. Denn es ist ja gerade die Masse der Verfahren, die falsch läuft. Wenn der Bundesgerichtshof in diesen ganzen Einzelfällen nicht mehr entscheiden können soll, werden wie früher diese Einzelfälle wieder zum Bundesverfassungsgericht getragen werden müssen.
Ich glaube, mit einem Gesetz à la Seehofer wird sich rechtswidrige Haft potenzieren. Diese vielen Haftgründe – das ist alles aufgebläht, teilweise redundant, teilweise widerspricht es sich, teilweise ist es schlecht gemacht. So kann und darf das nicht Gesetz werden!
Abschiebungshaftanstalten waren immer Orte von Tristesse, Verzweiflung und Gewalt. Was kannst Du über die heutigen Haftbedingungen sagen?
Naja, das ist wie in allen totalen Institutionen. Ich erlebe das in meinen Verfahren immer wieder, dass die Menschen sich aus Verzweiflung ritzen oder versuchen, sich aufzuhängen. Und manchmal sterben die Menschen auch in der Haft. Und ich höre immer mal wieder von Gefangenen, dass es da Beleidigungen, Schikanen bis hin zu körperlichen Übergriffen geben soll. Mal dürfen sie nicht mehr besucht werden, mal haben sie keinen Ausgang, mal dürfen sie alle kein Handy haben, mal wird das Handy Einzelnen weggenommen usw. Aufgrund welcher Anordnung und nach welcher gesetzlichen Regelung sowas geschieht, ist zumeist unklar. Das wird auch nicht weiter thematisiert.
Müssen wir uns mit der Situation hinter den Gittern stärker befassen?
Unbedingt. Vollzugsfragen sind vielfach unbearbeitet. Ich erinnere mich an eine Mutter mit vier Kindern, 3 bis 11 Jahre alt, die befanden sich in Transithaft am Flughafen Frankfurt/Main. Der Haftrichterin wurden sie vorgeführt mit sieben Bundespolizisten. Die Richterin hat dann auch den Kindern die Haftanträge verkündet und danach wurden sie allen Ernstes belehrt und befragt. Das dreijährige Kind sagte dazu dann nur: »Mama«. Die Frau und ihre Kinder sind im Übrigen nicht aus der Haft entlassen worden. Sie haben in der Haft hautnah erlebt, wie jemand versuchte, sich im Innenhof des Gefängnisses aufzuhängen.
»Ich erinnere mich an eine Mutter mit vier Kindern, 3 bis 11 Jahre alt, die befanden sich in Transithaft am Flughafen Frankfurt/Main. Die Richterin hat dann auch den Kindern die Haftanträge verkündet und danach wurden sie allen Ernstes belehrt und befragt. Das dreijährige Kind sagte dazu dann nur: »Mama«.«
Da frage ich mich: Wieso können im Transit Frankfurt Frauen, Kinder und Männer zusammen eingesperrt werden? Das gibt es doch sonst nirgendwo. Und wieso kann man überhaupt kleine und kleinste Kinder einsperren? Wie können wir sowas verantworten?
Welche Regeln gibt es denn für den Vollzug der Abschiebungshaft?
Tja, hier besteht ein Skandal im Skandal. Das Bundesverfassungsgericht hat vor vielen Jahren entschieden, dass derart grundrechtsrelevante Eingriffe durch ein Gesetz geregelt werden müssen. Aufgrund dieser Entscheidung aus dem Jahre 1972 wurde dann das Strafvollzugsgesetz geschaffen. Aber im Jahre 47 nach dieser Entscheidung haben immer noch einige Länder kein Abschiebungshaftvollzugsgesetz. Wie kann das sein? Dadurch werden die Leute dann oft wie Strafgefangene behandelt.
Was können Flüchtlingsinitiativen in der derzeitigen Situation tun?
Meiner Meinung nach bräuchte jede*r Gefangene zumindest eine Vertrauensperson. Wichtig ist dabei, dass da jemand kommt und nicht nur »Mensch-ärgere-dich-nicht« mit den Gefangenen spielt, sie beschäftigt, sich mit ihnen unterhält, sondern auch die Rechte der Gefangenen kennt und diese gegebenenfalls auch einklagt. Es gibt AbschiebungshaftInitiativen, die arbeiten hier großartig. Wenn jede*r Gefangene so jemanden hätte, sähe es ganz anders aus.
Es bräuchte zudem Beiräte in den Gefängnissen, wie im Strafvollzug. Die sich angucken, was da läuft. Das sagen eigentlich auch die europäischen Richtlinien. Und je grundrechtsintensiver die Eingriffe sind, desto größer müsste auch die Kontrollmöglichkeit sein. Es ist Aufgabe der Zivilgesellschaft, das einzufordern und umzusetzen!
Mit Blick aufs Ganze: Was, denkst Du, müsste passieren, um zu verhindern, dass weiterhin Leute reihenweise zu Unrecht inhaftiert werden?
Aus meiner Sicht müsste es hier erst einmal sofort ein vollständiges Moratorium der Abschiebungshaft geben. Ich habe eigentlich immer darauf gewartet, dass man von offizieller Seite sagt: Ok, wir gucken uns jetzt mal gründlich mal an, was da eigentlich schiefläuft. Und so lange sperren wir keinen mehr ein.
Vielleicht mal eine provokante Vergleichsüberlegung: Man stelle sich vor, Haftrichter und Ausländerbehördenmitarbeiter gehen nach jeder Haftanhörung in die Gerichtskantine, und jedes zweite Mal kommt einer der beiden schwer krank wieder raus, weil das Essen ungenießbar war, und manchmal stirbt auch einer… In einem solchen Fall würde man doch erst mal die Kantine schließen und sich anschauen, was da eigentlich los ist. Sowas wäre im Haftrecht auch nötig: erst mal schauen, was da los ist, das Ganze womöglich auch einmal vernünftig evaluieren, und bis dahin Haftanordnungen aussetzen!
Aber nichts dergleichen: Bis heute werden ja noch nicht einmal offiziell Zahlen erhoben. Dabei versteht es sich doch eigentlich von selbst, dass man bei gravierenden Grundrechtseingriffen eine Berichtspflicht installiert – nicht nur damit man weiß, wie viele Menschen man eingesperrt hat, sondern auch, ob das rechtlich in Ordnung ist, was man da macht.
Ist eine vollständige Aussetzung der Abschiebungshaft denn realistisch?
Im Sommer 2014, nachdem der Europäische Gerichtshof das Trennungsgebot von Abschiebungs- und Strafhäftlingen bestätigte, und eine Woche später dann der Bundesgerichtshof die Dublin-Haft für unzulässig erklärte, da waren viele Gefängnisse leer. Und: Die Welt ist nicht untergegangen.
»Im Sommer 2014, nach wegweisenden Gerichtsurteilen von obersten Instanzen, da waren viele Gefängnisse leer. Und: Die Welt ist nicht untergegangen.«
Solange es die Haft gibt: Was muss getan werden, um die Rechte der Betroffenen zu wahren?
Am dringendsten brauchen die Menschen einen Anwalt, und zwar vom ersten Tag an. Man muss das regeln wie im Untersuchungshaftrecht und gleich nach Festnahme einen Anwalt beiordnen. So würde jede Menge rechtswidriger Haft vermieden. Jeder Hafttag kostet im Übrigen um die 200 Euro. Mit einem Pflichtanwalt würde nicht nur persönliches Leid vermieden, es könnten sogar Kosten für die Allgemeinheit eingespart werden. Auch aus fiskalischen Gründen ist das also interessant.
Wo siehst Du die Zivilgesellschaft in der Pflicht?
Wenn wir solche eklatanten Rechtsbrüche nicht akzeptieren wollen, müssen wir aktiv werden, in die Gefängnisse gehen, Initiativen unterstützen, die Gefangene unterstützen. Geld spenden für Rechtsvertretung. Öffentlichkeit herstellen. Abgeordnete fragen, warum passiert das in meinem Land.
Denn wir müssen auch aus einem bestimmten Grund aufpassen: Das Migrationsrecht war schon immer eine Spielwiese des Gesetzgebers für die Einschränkung von Rechten. Wenn solche Einschränkungen erst einmal im System sind, dann wird das irgendwann auch andere Rechtsbereiche und Menschen betreffen, die sich das heute gar nicht vorstellen können. Dann sagt man zum Beispiel: Ein weiteres Rechtsmittel? Braucht es nicht, hat sich doch schon im Asylrecht bewährt. Auch deshalb müssen wir da ein Auge darauf haben, weil es uns irgendwann vielleicht selbst trifft.
Peter, ich danke Dir für das Gespräch.
Das Interview führte Andrea Kothen.
Am 31. August 2019 zeichnet die Stiftung PRO ASYL Rechtsanwalt Peter Fahlbusch in Frankfurt am Main mit ihrem Menschenrechtspreis 2019 aus.
Mehr zur Arbeit der Stiftung unter https://www.proasyl.de/stiftung-pro-asyl/.
Über einen Rechtshilfefonds unterstützt PRO ASYL auch Verfahren von Geflüchteten in Abschiebungshaft – jede Spende hilft!