30.08.2018
Image
Abschiebungshaftanstalt in Ingelheim. Foto: Rainer Frey / Diakonisches Werk Hessen-Nassau

Über viele Jahre hinweg war die Zahl der Abschiebungshäftlinge vergleichsweise gering – aber seit 2016 ist es wieder an der Tagesordnung, dass Menschen vor ihrer Abschiebung inhaftiert werden. Zum Tag gegen Abschiebungshaft am 30. August erinnert PRO ASYL an die Opfer dieser Praxis.

Im Zuge der, im Okto­ber 2016 von der Bun­des­kanz­le­rin gefor­der­ten »natio­na­len Kraft­an­stren­gung« zum Voll­zug von mehr Abschie­bun­gen, wer­den bun­des­weit immer mehr neue Haft­an­stal­ten in Betrieb genom­men. Mit der stei­gen­den Zahl von Abschie­bungs­haft­plät­zen wächst nach allen Erfah­run­gen die Wahr­schein­lich­keit, dass vor­han­de­ne Plät­ze auch belegt wer­den. Hier­zu leis­tet eine Jus­tiz ihren Bei­trag, die in kaum einem ande­ren Bereich sehen­den Auges so häu­fig rechts­wid­rig ent­schei­det wie bei der Ver­hän­gung von Abschiebungshaft.

42%

der beglei­te­ten Ver­fah­ren in Nie­der­sach­sen erga­ben: Die Abschie­bungs­haft war rechtswidrig.

Eklatant hohe Zahl an rechtswidrigen Inhaftierungen

Ein Jahr lang, von Anfang August 2016 bis Ende Juli 2017, haben Mit­ar­bei­ten­de des Nie­der­säch­si­schen Flücht­lings­ra­tes mehr als 200 Abschie­bungs­haft­ge­fan­ge­ne bera­ten und 124 Haft­ver­fah­ren beglei­tet (aktu­ell steht das Pro­jekt vor dem Aus). In 42 Pro­zent die­ser Ver­fah­ren wur­de nach erneu­ter gericht­li­cher Prü­fung fest­ge­stellt, dass die Inhaf­tie­rung zu Unrecht erfolgt war.

Die Fest­stel­lung, dass sie unrecht­mä­ßig inhaf­tiert waren, hilft den Betrof­fe­nen nur wenig. Die Mehr­zahl der Ent­schei­dun­gen erging im Nachhinein.

60%

waren es sogar bei den Fäl­len, die eine Initia­ti­ve in Büren unter­sucht hat.

Zu ähn­li­chen Zah­len kommt der Ver­ein »Hil­fe für Men­schen in der Abschie­be­haft Büren e.V.« für den Zeit­raum von Mai 2015 bis Dezem­ber 2017 nach Unter­su­chung von 119 abge­schlos­se­nen Ver­fah­ren. In 60 Pro­zent der Fäl­le stell­te sich die Inhaf­tie­rung gericht­lich attes­tiert als rechts­wid­rig heraus.

Rund 50%

der 1.627 Mandant*innen eines Rechts­an­wal­tes waren zu Unrecht inhaftiert.

Am umfas­sends­ten ist die Sta­tis­tik des Han­no­ve­ra­ner Rechts­an­walts Peter Fahl­busch. Seit 2001 ver­tritt er Mandant*innen in Abschie­bungs­haft. Bei ins­ge­samt 1.627 rechts­kräf­ti­gen Ent­schei­dun­gen wur­den in 823 Fäl­len (also rund 50 Pro­zent!) fest­ge­stellt, dass die Men­schen rechts­wid­rig inhaf­tiert wur­den. Bei man­chen dau­er­te die Haft nur einen Tag, bei ande­ren meh­re­re Mona­te. Zusam­men­ge­nom­men kom­men Fahl­buschs Mandant*innen auf 21.538 rechts­wid­ri­ge Haft­ta­ge – durch­schnitt­lich waren das für jeden Betrof­fe­nen 26 Tage in Abschie­bungs­haft – zu Unrecht.

Image
Abschie­bungs­haft­an­stalt in Ingel­heim. Foto: Rai­ner Frey / Dia­ko­ni­sches Werk Hessen-Nassau

Wer den Rechts­staat dafür lobt, dass er die Ursprungs­ent­schei­dun­gen kor­ri­giert hat, der soll­te beden­ken: Die Fest­stel­lung, dass sie unrecht­mä­ßig inhaf­tiert waren, hilft den Betrof­fe­nen, die oft vie­le Tage ihres Lebens ihrer Frei­heit beraubt wur­den, nur wenig. Die Mehr­zahl der Ent­schei­dun­gen erging im Nachhinein.

Jedes Jahr Todesfälle in Abschiebungshaft

Ekla­tan­te und von den Ober­instan­zen spä­ter gerüg­te Rechts­feh­ler legen die Schluss­fol­ge­rung nahe:  In vie­len Köp­fen der Amtsrichter*innen stand die Ent­schei­dung zur Inhaf­tie­rung bereits vor­her fest. Man­che Betrof­fe­ne erhiel­ten gar erst Gele­gen­heit, sich zur Sache zu äußern, nach­dem sie längst inhaf­tiert waren. Mit der Renais­sance der Abschie­bungs­haft wächst das Risi­ko, dass sich in immer mehr Abschie­bungs­haft­an­stal­ten das abspielt, was seit Jahr­zehn­ten als Pro­blem bekannt ist:

Ein Kon­glo­me­rat aus Psy­chost­ress, Ver­zweif­lung, Ent­täu­schung und ver­letz­ten Gerech­tig­keits­ge­füh­len zieht eine Palet­te von Reak­tio­nen nach sich, die von Aggres­sio­nen gegen das Per­so­nal über Selbst­ver­let­zun­gen und Hun­ger­streiks bis zu schwe­ren psy­chi­schen Erkran­kun­gen und Sui­zi­den reicht. Im Zeit­raum von 1993 bis 2010 haben sich nach Recher­chen der »Anti­ras­sis­ti­schen Initia­ti­ve Ber­lin« im Durch­schnitt drei bis vier Men­schen pro Jahr in Abschie­bungs­haft das Leben genom­men. Auch aus den Fol­ge­jah­ren sind Sui­zi­de bekannt, die zum Teil mit erheb­li­chem Behör­den­ver­sa­gen einhergingen.

Der 30. August: Ein Mahnmal

Der bekann­tes­te Fall geschah aber noch viel frü­her: Vor 35 Jah­ren stürz­te sich am 30. August 1983 der poli­ti­sche Flücht­ling Kemal Alt­un im Alter von 23 Jah­ren aus dem Fens­ter eines Gerichts­saals in Ber­lin, wo über sei­ne Aus­lie­fe­rung an die Tür­kei ver­han­delt wur­de. Der Schock dar­über war einer der Initi­al­zün­dun­gen für die Grün­dung vie­ler zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen, die sich für das Asyl­recht, gegen Abschie­bun­gen und Abschie­bungs­haft einsetzen.

Seit 1983 sind noch drei wei­te­re Todes­fäl­le an einem 30. August, die in unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hang mit Abschie­bungs­maß­nah­men ste­hen, bekannt gewor­den. Daher machen seit 2001 Flücht­lings­in­itia­ti­ven mit einem bun­des­wei­ten Akti­ons­tag gegen Abschie­bungs­haft am 30. August auf die Situa­ti­on auf­merk­sam. An meh­re­ren Orten fin­den Ver­an­stal­tun­gen statt, zum Bei­spiel in Ber­lin und Büren.

Image
Abschie­bungs­haft­an­stalt in Ingel­heim. Foto: Rai­ner Frey / Dia­ko­ni­sches Werk Hessen-Nassau

Protest ist wichtig!

Zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen und Initia­ti­ven ste­hen heu­te vor alten und neu­en Auf­ga­ben: Die Kon­tak­te zu den Abschie­bungs­häft­lin­gen her­zu­stel­len, sich gegen Haft­be­din­gun­gen zu wen­den, die sich auch heut­zu­ta­ge wie­der vie­ler­orts denen der Straf­haft annä­hern, obwohl Abschie­bungs­haft kei­ne Straf­haft ist und sein darf.

Vor allem aber ist dage­gen anzu­ge­hen, dass Abschie­bungs­haft­plät­ze wei­ter aus­ge­baut wer­den. Statt der viel zitier­ten »ulti­ma ratio« wird Abschie­be­haft so zu einer als »nor­mal« emp­fun­de­nen Maß­nah­me. In die­sem Kli­ma wer­den auch rechts­wid­ri­ge Ent­schei­dun­gen der Amts­ge­rich­te zur Normalität.

(bm)