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Zwischen »Boza« und Todesnachrichten
Unerschrocken, unermüdlich, professionell: Für den Einsatz für Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer und gegen brutale Pushbacks hat Watch the Med – Alarm Phone den Menschenrechtspreis 2020/21 der Stiftung PRO ASYL bekommen. Alarm Phone habe »die Leben von so vielen Menschen gerettet, die nach Schutz suchten«, sagte Laudatorin Tineke Strik.
»Boza« schallt es durch Chats und Maillisten von Alarm Phone, wenn Schutzsuchende es mit ihren Booten bis an eine Küste geschafft haben oder gerettet wurden. »Boza« bedeute »geschafft« oder »Sieg« in mehreren westafrikanischen Dialekten, sagte Hagen Kopp bei der Verleihung des Menschenrechtspreises der Stiftung PRO ASYL: »,Boza‘ ist der Freudenruf der Migrant*innen, die es geschafft haben, die Festung Europa zu überwinden.«
Hagen Kopp (Hanau) nahm zusammen mit Marion Bayer (Hanau) und Hela Kanakane (Tunis) stellvertretend für rund 200 ehrenamtliche Aktivisten*innen des transnationalen Netzwerks von Watch the Med – Alarm Phone den Menschenrechtspreis 2020/21 der Stiftung PRO ASYL am 28. August in Frankfurt am Main entgegen »Diese Organisation leistet Gewaltiges. Sie hat die Leben von so vielen Menschen gerettet, die nach Schutz suchten«, sagte Laudatorin Tineke Strik, Mitglied des Europäischen Parlaments, in ihrer zuvor aufgezeichneten Laudatio, vor rund 150 Zuschauer*innen am Frankfurter Osthafen bei Jazz Montez auf dem Gelände des Kunstvereins Familie Montez – und vor denen, die sich über den Livestream zugeschaltet hatten. Zwischen den Gesprächsbeiträgen spielte die Jazzband Carmino.
Die Preisverleihung im Livestream: Jetzt nachträglich auf Youtube anschauen!
24 Stunden, sieben Tage die Woche
Seit 2014 beantwortet das Alarm Phone 24 Stunden, sieben Tage die Woche Notrufe von Schutzsuchenden, die die lebensgefährliche Überfahrt nach Europa wagen. So stand das Alarm Phone bisher mit mehr als 3.700 Booten in Kontakt und versuchte alles, um die Rettung der Menschen sicherzustellen. Und die Aktivist*innen des Netzwerks dokumentieren und veröffentlichen unterlassene Lebensrettungen, systematische Menschenrechtsverletzungen, völkerrechtswidrige Pushbacks sowie das Zurückschaffen von Tausenden von Bootsflüchtlingen in die libyschen Haft- und Folterlager.
Mit ihrer Arbeit trotzen die Alarm Phone-Aktivist*innen allen Versuchen, den Zugang zu Schutz in Europa zu blockieren, bleiben dabei stets an der Seite der Schutzsuchenden und verteidigen konsequent das Recht auf Leben. »Denn im Mittelmeer sind weder der Zugang zu Schutz in Europa noch die Seenotrettung sichergestellt. Immer wieder wird das Alarm Phone zum Zeugen von Menschenrechtsverletzungen: von Rettungen, die verzögert werden oder gänzlich ausbleiben; vom tausendfachen Zurückschleppen durch die sogenannte libysche Küstenwache; von illegalen Pushback-Operationen. In all solchen Fällen hält das Alarm Phone den Kontakt zu den Betroffenen so lange es geht aufrecht und stellt eine internationale Öffentlichkeit her, um Druck auf die zuständigen Behörden aufzubauen«, so Andreas Lipsch, Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung PRO ASYL.
Drei Fragen an Hagen Kopp:
In Zeiten anhaltender Kriminalisierung der Seenotrettung ist solch ein Preis natürlich ein wichtiges Zeichen. Aber ehrlich gesagt bin ich kein Fan von Preisverleihungen für uns, zumal es ja immer Menschen gibt, die es viel mehr verdient hätten. Und vielleicht war es wichtiger, dass PRO ASYL uns gleich in der Anfangsphase in 2014 vertraut und politisch und finanziell unterstützt hat – in einer Phase, als viele noch skeptisch waren, ob solch ein Projekt überhaupt funktionieren kann.
Ich gehöre zu der Kerngruppe, die das Projekt 2013/14 vorbereitet hat. Aber das war nur denkbar auf dem Hintergrund von transnationalen Netzwerkprozessen, die sich in den Jahren zuvor unter anderem mit Initiativen wie Welcome to Europe und Boats4People entwickelt hatten.
Die jeweiligen Situationen und entsprechende Handlungsmöglichkeiten entlang der drei zentralen Routen verändern sich ständig. Insgesamt ist das EU-Grenzregime immer repressiver geworden, die Küstenwachen haben mit Ausnahme von Spanien proaktive Rettungsoperationen komplett eingestellt. Wir müssen sie mit öffentlichem Druck zwingen, die Menschen in Seenot zu retten beziehungsweise nicht zurückzuschieben. Im zentralen Mittelmeer mit den zivilen Rettungsschiffen sind wir mit einer immer komplexeren Situation konfrontiert, in der das Alarm Phone sich oft in einer koordinierenden Funktion wiederfindet. Last not least: Die Migrationsbewegungen passen sich an beziehungsweise erfinden neue Taktiken, die Küsten Europas zu erreichen. Umkämpfte Räume, in denen wir ständig flexibel und lernbereit sein müssen.
»Es ist furchtbar und kaum auszuhalten, wenn auf einmal die Stille kommt – weil die Stimme eines Menschen erstickt ist am Wasser.«
Aktivist*innen aus vielen Ländern
Mit »Boza« berichtete Hagen Kopp von der positiven Seite des unermüdlichen Engagements der Alarm-Phone-Menschen, die aus vielen Ländern rund um das Mittelmeer kommen. Die negative Seite der auch psychisch anstrengenden Arbeit schilderte Marion Bayer: »Es ist furchtbar und kaum auszuhalten, wenn auf einmal die Stille kommt – weil die Stimme eines Menschen erstickt ist am Wasser. Egal, wie sehr wir uns anstrengen, bleibt diese Reise über das Mittelmeer eine tödliche Gefahr. Keiner sollte gezwungen sein, dieses Risiko einzugehen. Es bleibt eine Notwendigkeit, weil die einfachste Lösung, um dem Sterben an den europäischen Seegrenzen ein Ende zu setzen, politisch nicht gewünscht ist: Bewegungsfreiheit für alle.« Und Alarmphone-Mitglied Hela Kanakane aus Tunis, die nicht persönlich zur Preisverleihung kommen konnte, hatte eine Videobotschaft vorbereitet. »Wir sind die, die jeden Stein aus einer Mauer entfernen und zu einer Brücke hinzufügen«, erklärte sie bildlich die Arbeit der ehrenamtlichen Helfer*innen.
Als Überraschung hatte auch Stefan Schmidt, Flüchtlingsbeauftragter des Bundeslandes Schleswig-Holstein und ehemaliger Kapitän auf dem Schiff Cap Anamur, der im Jahr 2006 den ersten Menschenrechtspreis der Stiftung PRO ASYL bekommen hatte, eine Videobotschaft nach Frankfurt geschickt. In dieser würdigte er die Arbeit der Menschenrechtsaktivist*innen von Alarm Phone mit den Worten: »Ich wüsste nicht, was man besser machen könnte.«
Warum sie dabei sind und was sie tun erklärten einige Aktivist*innen – ebenfalls mit Videobotschaften aus der Ferne. Zum Beispiel Anouar Elkhatari aus Marokko: »Ich bin stolz auf die Arbeit, die wir als Alarm Phone machen und ich hoffe, dass wir weiter zusammenarbeiten werden, bis die Grenzen aufhören zu existieren und die Menschen in Frieden dahin Reisen können, wohin sie möchten.«
Und der Senegalese Babacar Ndiaye, der im marokkanischen Laayoune in der Sahara lebt, von wo Mienschen in wackeligen Booten zu den kanarischen Inseln fahren: Er verteilt Armbänder mit der Alarmphone-Nummer und wirbt für Satellitentelefone. Doch »viele Boote kentern und Menschen sterben«, sagte er: »Wenn Migrant*innen ertrunken sind, arbeiten wir auch mit den zuständigen Behörden zusammen. Wir gehen in die Leichenhallen der Krankenhäuser, um verstorbene zu identifizieren und benachrichtigen ihre Familien, wenn wir sie kennen. Falls wir keine Familienangehörigen finden, organisieren wir die notwendigen Schritte für eine Beerdigung in Laayoune.«
Als Frau hat die Senegalesin Khady Ciss, die in Tanger lebt, einen speziellen Blick auf ihr Engagement: »Wir als Frauen und Aktivistinnen sind trotz aller Schwierigkeiten und Risiken hier vor Ort. Das gibt uns Kraft, um den Kampf weiterzuführen als Aktivistinnen für das Recht auf Bewegungsfreiheit _ mit der Hand auf dem Herzen.«
Auch im Rückblick »5 Jahre Alarm Phone» wird die Spannbreite zwischen panische Hilferufen, dem tödlichen Schweigen am Telefon und den Boza-Freudenschreie deutlich: »Wir haben Sprachnachrichten und Videos erhalten, auf denen die Reisenden ihre Ankunft in Europa feierten. Wir haben erlebt, wie Menschen nach Stunden auf See ohne Aussicht auf Rettung panisch wurden. Und wir mussten erleben, wie die Kommunikation zu Booten abbrach und wir Stunden später herausfanden, dass diese Menschen es nicht geschafft, sondern ihr Leben verloren hatten.«
Beweise für etliche illegale Pushbacks
Marion Bayer berichtete von den zahlreichen illegalen Pushbacks, zum Beispiel in der Ägäis: Alarm Phone und andere wie die griechische Partner-Organisation von PRO ASYL, »Refugee Support Aegean« haben »Beweise dafür gesammelt, dass Menschen in türkischen Gewässern in Rettungsinseln im Meer ausgesetzt wurden. Oftmals, nachdem sie von der griechischen Küstenwache gerettet worden waren oder sogar, nachdem sie bereits eine der Inseln erreicht und um Asyl gebeten hatten. Einmal waren die Menschen, die sich schlussendlich in Rettungsinseln in türkischem Gewässer wiederfanden, zuvor nahe Kreta aus Seenot gerettet worden, also mehr als 200 km weit von der türkischen Seegrenze entfernt.«
MdEP Tineke Strik beklagte eine »Atmosphäre der Straflosigkeit« und warnte: »Das Recht auf den Zugang zu Asyl war noch nie so bedroht wie heute.« Sie forderte: »Wir brauchen ein gesetzliches Verbot der Kriminalisierung humanitärer Organisationen, die Migranten an See- und Landgrenzen retten.
»Hunderte weitere Menschen, die stundenlang um Hilfe riefen, und Malta und Italien, die jeweils die Zuständigkeit von sich wiesen, bis das Boot schließlich sank und viele ertranken. Da haben wir es einfach nicht mehr aushalten können, es nicht zu versuchen.«
Als einen »exemplarischen Fall der Kriminalisierung der Migration« bezeichnete Hagen Kopp die Anklage gegen die El Hiblu 3 und warb, im passenden T‑Shirt, für die Aktion »Free the El Hiblu three»: Die drei jungen Männer hatten mitgewirkt, einen illegalen Push-Back zurück in die Hölle der libyschen Lager zu verhindern und wurden dafür auf Malta angeklagt. »Als Alarm Phone sind wir an der Kampagne von Anfang an beteiligt, im Juni diesen Jahres hatte ich die drei Jungs das letzte Mal in Malta besucht. Sie versuchen stark zu sein, aber sie sind tief verunsichert, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Zukunft planen können. Weil sie Angst haben, wieder im Gefängnis zu landen«, sagte Hagen Kopp und forderte: »El Hiblu 3 sind keine Terroristen sondern drei Helden, die dazu beigetragen haben, 108 Leben zu retten. Wir bitten alle mitzuhelfen, die Kampagne zur sofortigen Einstellung des Verfahrens zu verbreiten und zu unterstützen. Statt in Malta mit lebenslanger Haft bedroht zu sein, sollten die Drei heute hier stehen und für ihren Einsatz für Menschenrechte geehrt werden!«
Lampedusa war der Anstoß zur Gründung
Die Ausgezeichnete Marion Bayer erinnerte an die Gründung des Alarm Phone nach dem großen Schiffsunglück im Oktober 2013 vor Lampedusa und vielen weiteren gekenterten Booten: »Hunderte weitere Menschen, die stundenlang um Hilfe riefen, und Malta und Italien, die jeweils die Zuständigkeit von sich wiesen, bis das Boot schließlich sank und viele ertranken. Da haben wir es einfach nicht mehr aushalten können, es nicht zu versuchen.« Mit dem Entstehen der zivilen Seenotrettung auf dem zentralen Mittelmeer hätten sie erlebt, dass auch viele andere etwas tun wollten, »um dem Morden auf dem Mittelmeer ein Ende zu setzen«.
(wr)