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Kampf für Menschenrechte am Telefon: Alarm Phone erhält den PRO ASYL-Menschenrechtspreis
Panische Hilferufe, Freudenschreie am rettenden Ufer, tödliches Schweigen am Telefon: Für ihren unermüdlichen Einsatz für Schutzsuchende, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, verleiht die Stiftung PRO ASYL ihren Menschenrechtspreis 2020/21 stellvertretend für das Alarm Phone-Team an Marion Bayer, Hagen Kopp (Hanau) und Hela Kanakane (Tunis).
In case of emergency call: +334 86 51 71 61. Dieser Hinweis steht ganz oben auf der Homepage von Watch the Med – Alarm Phone, dem Träger des Menschenrechtspreises der Stiftung PRO ASYL 2020/21. Und weiter heißt es: »Hotline for boatpeople in distress. No rescue, but Alarm«. Hotline für Menschen in Seenot. Keine Rettung, aber Alarm.
Denn das ist es, was die rund 200 Aktivist*innen von Alarm Phone in zwölf Ländern Europas und Nordafrikas seit sieben Jahren leisten: Sie beantworten auf beiden Seiten des Mittelmeers ehrenamtlich Notrufe von Schutzsuchenden, die auf dem lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer in ihren untauglichen Booten nach Europa in Seenot geraten: 24 Stunden, sieben Tage die Woche – ohne Pause.
Rettungsschiffe informieren, Öffentlichkeit alarmieren
Die Ehrenamtlichen des transnationalen Netzwerks betreiben nicht selbst Rettungsschiffe, sondern informieren, sobald sie von in Seenot geratenen Menschen angerufen werden, die Küstenwache, zivile Rettungsschiffe sowie Frachtschiffe und Tanker in der Nähe. Und sie alarmieren die Öffentlichkeit wenn die Behörden nicht reagieren und die Menschen in den Booten ohne Hilfe bleiben.
Die Arbeit von Alarm Phone ist von herausragender Bedeutung, solange die EU und ihre Mitgliedsstaaten im Mittelmeer Fluchtabwehr um jeden Preis und eine Politik des Sterbenlassens betreiben.
Zudem dokumentieren und veröffentlichen sie unterlassene Lebensrettungen, systematische Menschenrechtsverletzungen, völkerrechtswidrige Pushbacks sowie das Zurückschaffen von Tausenden von Bootsflüchtlingen in die libyschen Haft- und Folterlager.
»Hello, my friend, I am from the alarm phone«, beschrieb Marion Bayer vor zwei Jahren, wie die Aktivist*innen schon mit der Begrüßung am Telefon klar machen, »dass wir weder die Polizei noch die Küstenwache sind«. Und sie bleiben in Kontakt mit den Anrufenden, oft über Stunden, bis sie wissen, was aus den Menschen in dem Boot geworden ist.
Hilfe für zehntausende Menschen
Marion Bayer wird am 28. August 2021 zusammen mit Hela Kanakane und Hagen Kopp von Watch the Med – Alarm Phone den Preis entgegennehmen – stellvertretend für das ganze Netzwerk. Denn die Arbeit von Alarm Phone ist von herausragender Bedeutung, solange die EU und ihre Mitgliedsstaaten im Mittelmeer Fluchtabwehr um jeden Preis und eine Politik des Sterbenlassens betreiben. Das Völkerrecht geht dabei über Bord – zusammen mit Tausenden Menschen, die jedes Jahr bei dem Versuch sterben, Europa übers Meer zu erreichen.
»Wir mussten erleben, wie die Kommunikation zu Booten abbrach und wir Stunden später herausfanden, dass diese Menschen es nicht geschafft, sondern ihr Leben verloren hatten.«
Seit der Gründung im Jahr 2014 waren Aktivist*innen von Alarm Phone mit mehr als 3.700 Booten in Kontakt. Eine Arbeit, mit der sie auch psychisch an die Grenzen gehen. Im Rückblick »5 Jahre Alarm Phone« heißt es: »Wir haben Sprachnachrichten und Videos erhalten, auf denen die Reisenden ihre Ankunft in Europa feierten. Wir haben erlebt, wie Menschen nach Stunden auf See ohne Aussicht auf Rettung panisch wurden. Und wir mussten erleben, wie die Kommunikation zu Booten abbrach und wir Stunden später herausfanden, dass diese Menschen es nicht geschafft, sondern ihr Leben verloren hatten.«
Druck ausüben, wenn die Behörden nicht reagieren
Über die Gründung und die Aufgaben von Alarm Phone hat Hagen Kopp vor einigen Jahren in einem Interview mit PRO ASYL Auskunft gegeben: »Der Auslöser war der 11. Oktober 2013. Ein Boot voller syrischer Flüchtlinge hat über Stunden hinweg versucht, Hilfe von den Küstenbehörden zu erhalten. Alle Notrufe wurden ignoriert, erst nach fünf Stunden wurden Rettungsmaßnahmen ergriffen, über 260 Menschen sind ertrunken. In dem Fall hat Fabrizio Gatti ausführlich recherchiert und dafür ja auch den PRO ASYL-Preis erhalten. Das Projekt ‚Watch The Med‘ gibt es ja schon länger, zu dem Zeitpunkt haben wir dann beschlossen, dass es nicht ausreicht, nur alles zu dokumentieren und quasi die Toten zu zählen, sondern dass wir ein Echtzeitprojekt starten müssen. Wenn der erste Anruf bei den Behörden nichts bewirkt, wollen wir eine weitere Anlaufstelle bieten, damit Druck ausgeübt werden kann und Rettungsmaßnahmen eingeleitet werden.«
Ein Vorbild war damals auch Mussie Zerai, ein katholischer Priester in Italien, der jahrelang ein Hilfstelefon für Menschen in Seenot betrieben hat – und dafür im Jahr 2016 ebenfalls mit dem Menschenrechtspreis der Stiftung PRO ASYL ausgezeichnet worden ist.
»In den vergangenen Monaten wurden wir im Zentralen Mittelmeer Zeug*innen einer Kontinuität des Rückzugs staatlicher Akteure aus ihren Rettungsverpflichtungen.«
Unverändert treten Tausende von Flüchtlingen in unsicheren Booten die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer an, hören die Aktivist*innen die Hilferufe und sogar Todesschreie am Telefon. Verändert haben sich die Bedingungen, wie Alarm Phone zum Beispiel Anfang 2021 in einer Sechsmonatsbilanz schreibt:
»In den vergangenen sechs Monaten, von Juli bis Dezember 2020, wurden wir im Zentralen Mittelmeer Zeug*innen einer Kontinuität des Rückzugs italienischer und maltesischer staatlicher Akteure aus ihren Rettungsverpflichtungen, der administrativen Festsetzung der zivilen Flotte und der Untätigkeit der sogenannten libyschen Küstenwache in Situationen, in denen sich Menschen vor den libyschen Küsten in extremer Seenot befanden. Die Kombination dieser Elemente hat unweigerlich zu einer wachsenden Rettungslücke, mehr Leid und vielen Schiffbrüchen auf See geführt.«
Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen
Durch die Arbeit wird das Alarm Phone regelmäßig Zeuge von Menschenrechtsverletzungen und veröffentlicht sie in Form von Berichten und via Social Media.
Einige Beispiele:
- Pushbacks nach Libyen durch Handelsschiffe: Das Alarm Phone dokumentiert diese Fälle und macht auf den Rechtsbruch aufmerksam, wenn Schutzsuchende nach Libyen zurück geschleppt werden.
- EU-Grenzschutzagentur Frontex : In einem Bericht mit Seenotrettungsorganisationen beschreibt das Alarm Phone, wie die EU-Grenzschutzagentur Frontex in Pullbacks nach Libyen durch die sogenannte »libysche Küstenwache« involviert ist.
- Pushbacks nach Libyen: Am Osterwochenende 2020 koordiniert Malta Pushbacks nach Libyen.
- Undokumentierter Schiffbruch: Um das Sterben sichtbar zu machen, rekonstruiert das Alarm Phone einen undokumentierten Schiffbruch im Februar 2020 vor Libyen.
- Rassismus: In Berichten über die westliche Mittelmeerroute thematisiert das Alarm Phone auch Rassismus, Repressionen und Menschenrechtsverletzungen gegen Schutzsuchende in Marokko.
- Weiteres: Über die Notruf-Hotline hinaus unterstützt das Alarm Phone Schutzsuchende der »El Hiblu 3«, die in einem skandalösen Verfahren auf Malta angeklagt sind und langjährige Haftstrafen fürchten müssen.
Preisverleihung am 28. August
Weil PRO ASYL die drei Preisträger*innen im vergangen Jahr wegen der Corona-Einschränkungen nicht persönlich ehren konnte, wird das in diesem Jahr nachgeholt:
Die Preisverleihung beginnt am Samstag, 28. August, von 15.30 beim Kunstverein Familie Montez, Honsellstraße 7, 60314 Frankfurt am Main, am Hafenpark im Osthafen. Die Laudatio auf die Preisträger*innen hält Tineke Strik, Mitglied im Europa-Parlament.
Den Menschenrechtspreis verleiht die Stiftung PRO ASYL seit 2006 jährlich an Personen, die sich in herausragender Weise für die Achtung der Menschenrechte und den Schutz von Flüchtlingen einsetzen.
Den Menschenrechtspreis verleiht die Stiftung PRO ASYL seit 2006 jährlich an Personen, die sich in herausragender Weise für die Achtung der Menschenrechte und den Schutz von Flüchtlingen einsetzen. Der Preis ist mit 5.000 Euro und der Plastik der PRO-ASYL-Hand des Künstlers Ariel Auslender, Professor an der Technischen Universität Darmstadt, dotiert. In diesem Jahr verdoppelt sich die Summe aufgrund der Verleihung für zwei Jahre gleichzeitig.
Eine Teilnahme an der Preisverleihung ist nach Anmeldung unter stiftung@proasyl.de möglich, die Veranstaltung wird aber auch im Livestream auf Deutsch und Englisch übertragen.
(wr/dm)