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Das Team vom Watch the Med - Alarm Phone bei einem Treffen 2019.

Panische Hilferufe, Freudenschreie am rettenden Ufer, tödliches Schweigen am Telefon: Für ihren unermüdlichen Einsatz für Schutzsuchende, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, verleiht die Stiftung PRO ASYL ihren Menschenrechtspreis 2020/21 stellvertretend für das Alarm Phone-Team an Marion Bayer, Hagen Kopp (Hanau) und Hela Kanakane (Tunis).

In case of emer­gen­cy call: +334 86 51 71 61. Die­ser Hin­weis steht ganz oben auf der Home­page von Watch the Med – Alarm Pho­ne, dem Trä­ger des Men­schen­rechts­prei­ses der Stif­tung PRO ASYL 2020/21. Und wei­ter heißt es: »Hot­line for boat­peo­p­le in distress. No res­cue, but Alarm«. Hot­line für Men­schen in See­not. Kei­ne Ret­tung, aber Alarm.

Denn das ist es, was die rund 200 Aktivist*innen von Alarm Pho­ne in zwölf Län­dern Euro­pas und Nord­afri­kas seit sie­ben Jah­ren leis­ten: Sie beant­wor­ten auf bei­den Sei­ten des Mit­tel­meers ehren­amt­lich Not­ru­fe von Schutz­su­chen­den, die auf dem lebens­ge­fähr­li­chen Weg über das Mit­tel­meer in ihren untaug­li­chen Boo­ten nach Euro­pa in See­not gera­ten: 24 Stun­den, sie­ben Tage die Woche – ohne Pause.

Rettungsschiffe informieren, Öffentlichkeit alarmieren

Die Ehren­amt­li­chen des trans­na­tio­na­len Netz­werks betrei­ben nicht selbst Ret­tungs­schif­fe, son­dern infor­mie­ren, sobald sie von in See­not gera­te­nen Men­schen ange­ru­fen wer­den, die Küs­ten­wa­che, zivi­le Ret­tungs­schif­fe sowie Fracht­schif­fe und Tan­ker in der Nähe. Und sie alar­mie­ren die Öffent­lich­keit wenn die Behör­den nicht reagie­ren und die Men­schen in den Boo­ten ohne Hil­fe bleiben.

Die Arbeit von Alarm Pho­ne ist von her­aus­ra­gen­der Bedeu­tung, solan­ge die EU und ihre Mit­glieds­staa­ten im Mit­tel­meer Flucht­ab­wehr um jeden Preis und eine Poli­tik des Ster­ben­las­sens betreiben.

Zudem doku­men­tie­ren und ver­öf­fent­li­chen sie unter­las­se­ne Lebens­ret­tun­gen, sys­te­ma­ti­sche Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, völ­ker­rechts­wid­ri­ge Push­backs sowie das Zurück­schaf­fen von Tau­sen­den von Boots­flücht­lin­gen in die liby­schen Haft- und Folterlager.

»Hel­lo, my fri­end, I am from the alarm pho­ne«, beschrieb Mari­on Bay­er vor zwei Jah­ren, wie die Aktivist*innen schon mit der Begrü­ßung am Tele­fon klar machen, »dass wir weder die Poli­zei noch die Küs­ten­wa­che sind«. Und sie blei­ben in Kon­takt mit den Anru­fen­den, oft über Stun­den, bis sie wis­sen, was aus den Men­schen in dem Boot gewor­den ist.

Hilfe für zehntausende Menschen

Mari­on Bay­er wird am 28. August 2021 zusam­men mit Hela Kana­ka­ne und Hagen Kopp von Watch the Med – Alarm Pho­ne den Preis ent­ge­gen­neh­men – stell­ver­tre­tend für das gan­ze Netz­werk. Denn die Arbeit von Alarm Pho­ne ist von her­aus­ra­gen­der Bedeu­tung, solan­ge die EU und ihre Mit­glieds­staa­ten im Mit­tel­meer Flucht­ab­wehr um jeden Preis und eine Poli­tik des Ster­ben­las­sens betrei­ben. Das Völ­ker­recht geht dabei über Bord – zusam­men mit Tau­sen­den Men­schen, die jedes Jahr bei dem Ver­such ster­ben, Euro­pa übers Meer zu erreichen.

»Wir muss­ten erle­ben, wie die Kom­mu­ni­ka­ti­on zu Boo­ten abbrach und wir Stun­den spä­ter her­aus­fan­den, dass die­se Men­schen es nicht geschafft, son­dern ihr Leben ver­lo­ren hatten.«

Mari­on Bayer
3.700

Boo­te stan­den in den letz­ten 7 Jah­ren in Kon­takt mit dem Alarm Phone

Seit der Grün­dung im Jahr 2014 waren Aktivist*innen von Alarm Pho­ne mit mehr als 3.700 Boo­ten in Kon­takt. Eine Arbeit, mit der sie auch psy­chisch an die Gren­zen gehen. Im Rück­blick »5 Jah­re Alarm Pho­ne« heißt es: »Wir haben Sprach­nach­rich­ten und Vide­os erhal­ten, auf denen die Rei­sen­den ihre Ankunft in Euro­pa fei­er­ten. Wir haben erlebt, wie Men­schen nach Stun­den auf See ohne Aus­sicht auf Ret­tung panisch wur­den. Und wir muss­ten erle­ben, wie die Kom­mu­ni­ka­ti­on zu Boo­ten abbrach und wir Stun­den spä­ter her­aus­fan­den, dass die­se Men­schen es nicht geschafft, son­dern ihr Leben ver­lo­ren hatten.«

Druck ausüben, wenn die Behörden nicht reagieren

Über die Grün­dung und die Auf­ga­ben von Alarm Pho­ne hat Hagen Kopp vor eini­gen Jah­ren in einem Inter­view mit PRO ASYL Aus­kunft gege­ben: »Der Aus­lö­ser war der 11. Okto­ber 2013. Ein Boot vol­ler syri­scher Flücht­lin­ge hat über Stun­den hin­weg ver­sucht, Hil­fe von den Küs­ten­be­hör­den zu erhal­ten. Alle Not­ru­fe wur­den igno­riert, erst nach fünf Stun­den wur­den Ret­tungs­maß­nah­men ergrif­fen, über 260 Men­schen sind ertrun­ken. In dem Fall hat Fabri­zio Gat­ti aus­führ­lich recher­chiert und dafür ja auch den PRO ASYL-Preis erhal­ten. Das Pro­jekt ‚Watch The Med‘ gibt es ja schon län­ger, zu dem Zeit­punkt haben wir dann beschlos­sen, dass es nicht aus­reicht, nur alles zu doku­men­tie­ren und qua­si die Toten zu zäh­len, son­dern dass wir ein Echt­zeit­pro­jekt star­ten müs­sen. Wenn der ers­te Anruf bei den Behör­den nichts bewirkt, wol­len wir eine wei­te­re Anlauf­stel­le bie­ten, damit Druck aus­ge­übt wer­den kann und Ret­tungs­maß­nah­men ein­ge­lei­tet werden.«

Ein Vor­bild war damals auch Mus­sie Zerai, ein katho­li­scher Pries­ter in Ita­li­en, der jah­re­lang ein Hilfs­te­le­fon für Men­schen in See­not betrie­ben hat – und dafür im Jahr 2016 eben­falls mit dem Men­schen­rechts­preis der Stif­tung PRO ASYL aus­ge­zeich­net wor­den ist.

»In den ver­gan­ge­nen Mona­ten wur­den wir im Zen­tra­len Mit­tel­meer Zeug*innen einer Kon­ti­nui­tät des Rück­zugs staat­li­cher Akteu­re aus ihren Rettungsverpflichtungen.«

Alarm Pho­ne

Unver­än­dert tre­ten Tau­sen­de von Flücht­lin­gen in unsi­che­ren Boo­ten die lebens­ge­fähr­li­che Flucht über das Mit­tel­meer an, hören die Aktivist*innen die Hil­fe­ru­fe und sogar Todes­schreie am Tele­fon. Ver­än­dert haben sich die Bedin­gun­gen, wie Alarm Pho­ne zum Bei­spiel Anfang 2021 in einer Sechs­mo­nats­bi­lanz schreibt:

»In den ver­gan­ge­nen sechs Mona­ten, von Juli bis Dezem­ber 2020, wur­den wir im Zen­tra­len Mit­tel­meer Zeug*innen einer Kon­ti­nui­tät des Rück­zugs ita­lie­ni­scher und mal­te­si­scher staat­li­cher Akteu­re aus ihren Ret­tungs­ver­pflich­tun­gen, der admi­nis­tra­ti­ven Fest­set­zung der zivi­len Flot­te und der Untä­tig­keit der soge­nann­ten liby­schen Küs­ten­wa­che in Situa­tio­nen, in denen sich Men­schen vor den liby­schen Küs­ten in extre­mer See­not befan­den. Die Kom­bi­na­ti­on die­ser Ele­men­te hat unwei­ger­lich zu einer wach­sen­den Ret­tungs­lü­cke, mehr Leid und vie­len Schiff­brü­chen auf See geführt.«

Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen

Durch die Arbeit wird das Alarm Pho­ne regel­mä­ßig Zeu­ge von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und ver­öf­fent­licht sie in Form von Berich­ten und via Social Media.

Eini­ge Beispiele:

  • Push­backs nach Liby­en durch Han­dels­schif­fe: Das Alarm Pho­ne doku­men­tiert die­se Fäl­le und macht auf den Rechts­bruch auf­merk­sam, wenn Schutz­su­chen­de nach Liby­en zurück geschleppt werden.
  • EU-Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex : In einem Bericht mit See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen beschreibt das Alarm Pho­ne, wie die EU-Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex in Pull­backs nach Liby­en durch die soge­nann­te »liby­sche Küs­ten­wa­che« invol­viert ist.
  • Push­backs nach Liby­en: Am Oster­wo­chen­en­de 2020 koor­di­niert Mal­ta Push­backs nach Libyen.
  • Undo­ku­men­tier­ter Schiff­bruch: Um das Ster­ben sicht­bar zu machen, rekon­stru­iert das Alarm Pho­ne einen undo­ku­men­tier­ten Schiff­bruch im Febru­ar 2020 vor Libyen.
  • Ras­sis­mus: In Berich­ten über die west­li­che Mit­tel­meer­rou­te the­ma­ti­siert das Alarm Pho­ne auch Ras­sis­mus, Repres­sio­nen und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gegen Schutz­su­chen­de in Marok­ko.
  • Wei­te­res: Über die Not­ruf-Hot­line hin­aus unter­stützt das Alarm Pho­ne Schutz­su­chen­de der »El Hib­lu 3«, die in einem skan­da­lö­sen Ver­fah­ren auf Mal­ta ange­klagt sind und lang­jäh­ri­ge Haft­stra­fen fürch­ten müssen.

Preisverleihung am 28. August

Weil PRO ASYL die drei Preisträger*innen im ver­gan­gen Jahr wegen der Coro­na-Ein­schrän­kun­gen nicht per­sön­lich ehren konn­te, wird das in die­sem Jahr nachgeholt:

Die Preis­ver­lei­hung beginnt am Sams­tag, 28. August, von 15.30 beim Kunst­ver­ein Fami­lie Mon­tez, Hon­sell­stra­ße 7, 60314 Frank­furt am Main, am Hafen­park im Ost­ha­fen. Die Lau­da­tio auf die Preisträger*innen hält Tine­ke Strik, Mit­glied im Europa-Parlament.

Den Men­schen­rechts­preis ver­leiht die Stif­tung PRO ASYL seit 2006 jähr­lich an Per­so­nen, die sich in her­aus­ra­gen­der Wei­se für die Ach­tung der Men­schen­rech­te und den Schutz von Flücht­lin­gen einsetzen.

Den Men­schen­rechts­preis ver­leiht die Stif­tung PRO ASYL seit 2006 jähr­lich an Per­so­nen, die sich in her­aus­ra­gen­der Wei­se für die Ach­tung der Men­schen­rech­te und den Schutz von Flücht­lin­gen ein­set­zen. Der Preis ist mit 5.000 Euro und der Plas­tik der PRO-ASYL-Hand des Künst­lers Ari­el Aus­len­der, Pro­fes­sor an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Darm­stadt, dotiert. In die­sem Jahr ver­dop­pelt sich die Sum­me auf­grund der Ver­lei­hung für zwei Jah­re gleichzeitig.

Eine Teil­nah­me an der Preis­ver­lei­hung ist nach Anmel­dung unter stiftung@proasyl.de mög­lich, die Ver­an­stal­tung wird aber auch im Live­stream auf Deutsch und Eng­lisch übertragen.

(wr/dm)