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Hagen Kopp, Mitinitiator des Alarmphones, am Rande einer Demonstration gegen die geplante Asylrechtsverschärfung in Frankfurt am Main.

Die Initiative „Watch The Med“ hat eine Notrufnummer geschaltet, auf der sich Flüchtlinge in Seenot melden können. Wir sprachen mit Hagen Kopp, der in den letzten Wochen im Telefondienst dabei war, als Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer in Seenot geraten sind.

Die letz­ten Tage waren sicher sehr anstren­gend und ner­ven­auf­rei­bend. Wie habt ihr sie erlebt?

Seit Mit­te April haben wir eine neue Situa­ti­on. Es machen sich nun so vie­le Men­schen wie nie zuvor über das Mit­tel­meer auf den Weg nach Euro­pa. Am 12. April sind früh mor­gens sehr vie­le Boo­te auf­ge­bro­chen, es kamen ins­ge­samt zehn Anru­fe über Satel­li­ten­te­le­fo­ne bei uns an. An die­sem Tag ereig­ne­te sich auch die ers­te Kata­stro­phe mit 400 Toten. Das haben wir alle erst zwei Tage spä­ter erfah­ren. Das war sozu­sa­gen der Auf­takt zu der aktu­el­len dra­ma­ti­schen Lage. Seit­dem sind wir natür­lich sehr viel im Einsatz.

Wie ist der Ablauf, wenn ein Not­ruf bei euch eingeht? 

Wenn ein Not­ruf ein­geht, ver­su­chen wir zunächst die genaue Situa­ti­on der Flücht­lin­ge zu klä­ren: Wie vie­le Leu­te sind auf dem Boot, wie ist der Zustand des Boo­tes, wis­sen die Leu­te, von wo sie los­ge­fah­ren sind? Die zen­tra­le Infor­ma­ti­on sind natür­lich die Koor­di­na­ten – in den Satel­li­ten­te­le­fo­nen las­sen sich die GPS-Koor­di­na­ten des Auf­ent­halts­or­tes fin­den. Mit die­sen Infor­ma­tio­nen tre­ten wir direkt an die Leit­stel­le des Mari­tim Res­cue Coor­di­na­ti­on Cent­re (MRCC) in Rom heran.

Anschlie­ßend machen wir eine Art „Map­ping“, eine Kar­tie­rung. Wir schau­en über die Koor­di­na­ten, wel­che Schif­fe mög­li­cher­wei­se in der Nähe sind. Wir ver­su­chen, der zustän­di­gen Küs­ten­wa­che bei ihrer Ret­tungs­ope­ra­ti­on zuzu­ar­bei­ten, gleich­zei­tig aber auch, sie zu kon­trol­lie­ren oder Druck aus­zu­üben, wenn kei­ne Ret­tungs­maß­nah­men unter­nom­men werden.

Ihr bleibt dann mit den Boo­ten auch wei­ter­hin in Kontakt?

Genau, oft ist das tech­nisch schwie­rig, aber wir rufen immer wie­der zurück und sor­gen auch dafür, dass genü­gend Gut­ha­ben auf den Tele­fo­nen ist, damit sich die Leu­te mel­den können.

Wir haben oft über Stun­den hin­weg Kon­takt mit den Boat­peo­p­le. Wir aktua­li­sie­ren die Koor­di­na­ten, über­mit­teln Infor­ma­tio­nen und ver­su­chen, zu ver­hin­dern, dass Panik auf dem Schiff aus­bricht. Letz­ten Don­ners­tag wur­de von der Küs­ten­wa­che bei­spiels­wei­se auch der Name des geschick­ten Ret­tungs­schif­fes über­mit­telt. Da kön­nen wir berech­nen, wie lan­ge das Schiff unge­fähr noch benö­tigt und das den Men­schen auf dem Boot mitteilen.

Die Kom­mu­ni­ka­ti­on erfolgt also über Satel­li­ten­te­le­fo­ne? Sind sol­che Tele­fo­ne immer an Bord?

Wir arbei­ten ja im gesam­ten Mit­tel­meer. Anru­fe aus der Ägä­is erhal­ten wir auf­grund der gerin­gen Distanz zur Küs­te auch über Han­dys. Auch zwi­schen Marok­ko und Spa­ni­en kann das funktionieren.

Im zen­tra­len Mit­tel­meer haben wir die Infor­ma­ti­on, dass eigent­lich immer ein Satel­li­ten­te­le­fon an Bord ist. So skru­pel­los die Schlep­per auch agie­ren, ein Satel­li­ten­te­le­fon geben sie den Men­schen meis­tens mit auf die Rei­se. Die Num­mer des Tele­fons ist dann auch die ein­zi­ge Mög­lich­keit, das Schiff zu iden­ti­fi­zie­ren. Das ist wich­tig, wenn – wie am 12. April – über zwan­zig ver­schie­de­ne Ret­tungs­ope­ra­tio­nen von der Küs­ten­wa­che gestar­tet werden.

Wie funk­tio­niert die Zusam­men­ar­beit mit den Behörden? 

Das ist ganz unter­schied­lich. Die Situa­ti­on im zen­tra­len Mit­tel­meer unter­schei­det sich noch von der Situa­ti­on in der Ägä­is, aber auch hier ist es wech­sel­haft. Es kommt tat­säch­lich auf den ein­zel­nen Beam­ten an. Am besag­ten Tag war die Kom­mu­ni­ka­ti­on mor­gens sehr gut und effek­tiv. Wir wur­den teil­wei­se sogar expli­zit gebe­ten, wei­ter mit den Men­schen auf den Boo­ten zu spre­chen und sie zu beru­hi­gen. Am Nach­mit­tag war dann Schicht­wech­sel, nun war man dort nicht mehr bereit, auch nur ein Wort dar­über zu ver­lie­ren, was für Ret­tungs­maß­nah­men ein­ge­lei­tet wur­den. Wenn die Zen­tra­le nicht bereit ist, mit uns zu kom­mu­ni­zie­ren, kön­nen wir natür­lich auch den Leu­ten kei­ne Infor­ma­tio­nen geben.

Was tut ihr genau, wenn die Behör­den nichts unternehmen?

Wir doku­men­tie­ren die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den Behör­den natür­lich, damit nicht ver­heim­licht wer­den kann, dass es die­se Boo­te gab und die Küs­ten­wa­che auch dar­über infor­miert wurde.

In den letz­ten Mona­ten waren wir bereits zwei­mal gezwun­gen, „Alarm aus­zu­lö­sen“, das heißt: Ande­re Akti­vis­tin­nen und Akti­vis­ten, Medi­en oder Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker dar­über zu infor­mie­ren, dass gera­de ein Boot in Not ist und wir nicht wis­sen, ob geret­tet wird. Die­se üben dann mit den kon­kre­ten Anga­ben Druck auf die Küs­ten­wa­che aus, damit dort klar ist: Die Men­schen auf die­sem Boot müs­sen geret­tet werden.

Wie vie­le Not­ru­fe gehen bei euch ein?

Seit letz­tem Okto­ber hat­ten wir unge­fähr 60 ernst­haf­te­re Not­ru­fe. Zu Beginn hat­ten wir auch vie­le Tage ohne Not­ruf, es war ja auch noch Win­ter. Seit ca. 14 Tagen nimmt die Zahl der Not­ru­fe rapi­de zu – die Spit­ze waren die bereits erwähn­ten zehn Not­ru­fe an einem Tag.

Wie gelan­gen die Flücht­lin­ge an die Num­mer? Klappt die Ver­brei­tung wie gewünscht? 

Eine Ver­brei­tungs­mög­lich­keit sind die sozia­len Medi­en. Wir haben aber auch Visi­ten­kar­ten und Fly­er in den Spra­chen der Her­kunfts­län­der gedruckt.

Der Ide­al­fall ist für uns natür­lich, wenn Flücht­lin­ge, die bereits hier ange­kom­men sind, die Num­mer wei­ter­ge­ben. An Bekann­te oder Ver­wand­te, die sich auf den Weg machen oder bereits in Liby­en fest­hän­gen. Am 08. Janu­ar gab es den ers­ten Fall, bei dem sich die­ser Kreis der „trans­na­tio­na­len Kom­mu­ni­ka­ti­on“ geschlos­sen hat. Ein Freund aus Hanau hat einem Cou­sin aus Eri­trea die Num­mer geschickt, er hat sie mit aufs Boot genom­men und uns von dort angerufen.

Dadurch wächst auch das Ver­trau­en zu der anony­men Num­mer. Der Pfar­rer Father Mus­sie Zerai aus der Schweiz kriegt bei­spiels­wei­se noch viel mehr Anru­fe als wir. Er ist vor 25 Jah­ren selbst aus Eri­trea geflo­hen und heu­te ist er die zen­tra­le Not­ruf­num­mer für Flücht­lin­ge, vor allem aus Eri­trea. Oft gibt er mitt­ler­wei­le Anru­fe an uns wei­ter. Unser Pro­jekt ist ja noch sehr jung, das Ver­trau­ens­ver­hält­nis muss erst entstehen.

Ihr seid im Okto­ber letz­ten Jah­res gestar­tet. Woher kam die Idee und wie habt ihr angefangen?

Der Aus­lö­ser war der 11. Okto­ber 2013. Ein Boot vol­ler syri­scher Flücht­lin­ge hat über Stun­den hin­weg ver­sucht, Hil­fe von den Küs­ten­be­hör­den zu erhal­ten. Alle Not­ru­fe wur­den igno­riert, erst nach fünf Stun­den  wur­den Ret­tungs­maß­nah­men ergrif­fen, über 260 Men­schen sind ertrun­ken. In dem Fall hat Fabri­zio Gat­ti aus­führ­lich recher­chiert und dafür ja auch den PRO ASYL-Preis erhalten.

Das Pro­jekt „Watch The Med“ gibt es ja schon län­ger, zu dem Zeit­punkt haben wir dann beschlos­sen, dass es nicht aus­reicht, nur alles zu doku­men­tie­ren und qua­si die Toten zu zäh­len, son­dern dass wir ein Echt­zeit­pro­jekt star­ten müs­sen. Wenn der ers­te Anruf bei den Behör­den nichts bewirkt, wol­len wir eine wei­te­re Anlauf­stel­le bie­ten, damit Druck aus­ge­übt wer­den kann und Ret­tungs­maß­nah­men ein­ge­lei­tet werden.

Der Auf­bau der Struk­tur hat dann natür­lich eine Wei­le gedau­ert. Wir haben Hand­bü­cher für die Arbeit in den ver­schie­de­nen Berei­chen (Ägä­is, zen­tra­les Mit­tel­meer, west­li­ches Mit­tel­meer) erstellt und Trai­nings ange­bo­ten, bis wir im Okto­ber 2014 mit dem Alarm­pho­ne gestar­tet sind.

Seit­dem hat sich poli­tisch vie­les geän­dert. Vor­fäl­le wie am 11. Okto­ber 2013 sind sel­te­ner gewor­den. Gera­de die Ita­lie­ner unter­neh­men heut­zu­ta­ge sehr viel, um zu ret­ten. Es feh­len aller­dings ein­fach die Kapa­zi­tä­ten für eine schnel­le Ret­tung. Das Pro­blem sind nicht mehr die Küs­ten­wa­chen, unser neu­es Pro­blem ist ein struk­tu­rel­les und insti­tu­tio­nel­les. Die Län­der, und allen vor­an die Euro­päi­sche Uni­on, stel­len kei­ne aus­rei­chen­den Mit­tel zur Verfügung.

Wie vie­le ehren­amt­li­che Mit­ar­bei­ter habt ihr?

Aktu­ell sind wir 80 bis 100 Hel­fe­rin­nen und Hel­fer aus ver­schie­de­nen Län­dern, die in 20 Schicht­teams arbei­ten. Eini­ge davon sind sel­ber Flücht­lin­ge, die mit Boo­ten nach Euro­pa kamen.

Wie kann man sich selbst einbringen?

Das geht auf ver­schie­de­nen Wegen. Wer Kon­tak­te zu Flücht­lin­gen hat, kann unse­re Num­mer in den Com­mu­ni­ties ver­brei­ten, damit sie an den rich­ti­gen Stel­len ankommt.

Wer wirk­lich aktiv am Tele­fon­dienst mit­ar­bei­ten möch­te, benö­tigt erst ein­mal eine gründ­li­che Ein­ar­bei­tung und muss dem gan­zen auch psy­cho­lo­gisch gewach­sen sein. Es kann schließ­lich auch pas­sie­ren, dass wir in Kon­takt mit einem Boot ste­hen, auf dem gera­de Men­schen sterben.

Wir arbei­ten, wie erwähnt, in Schicht­teams, jedes davon soll­te min­des­tens drei Mal im Monat im Ein­satz sein, da sich die Situa­ti­on immer wie­der etwas ver­än­dert und es nötig ist, dies kon­ti­nu­ier­lich zu ver­fol­gen. Ein beson­de­res Bei­spiel ist hier die Ägä­is. Dort waren bis Janu­ar 2015 die ille­ga­len Push-Backs die übli­che bru­ta­le Pra­xis der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che und wir konn­ten eigent­lich kei­ne Unter­stüt­zung der Behör­den erwar­ten. Das hat sich mit der neu­en Syri­za-Regie­rung ver­än­dert, die Leit­stel­le in Pirä­us gibt sich jetzt koope­ra­tiv und offen­sicht­lich gab es auch die Anwei­sung von oben, dass Push-Backs zu stop­pen sind. Ob die Grenz­schutz­ein­hei­ten das auch ein­hal­ten, müs­sen wir prü­fen, aber wir haben dort nun ganz neue Mög­lich­kei­ten der Inter­ven­ti­on. Dem­entspre­chend haben wir unse­re Alarm­plä­ne für die Ägä­is überarbeitet.

Auch außer­halb des Tele­fon­diens­tes kön­nen wir Men­schen mit Wis­sen und Erfah­rung immer gebrau­chen. Aktu­ell vor allem für die Doku­men­ta­ti­on der Fäl­le, für das Map­ping oder für Fund­rai­sing. Und natür­lich für Über­set­zun­gen von Berich­ten und Infor­ma­ti­ons­fly­ern in ver­schie­de­ne Sprachen.

Auch mit Spen­den kann man uns natür­lich sehr wei­ter­hel­fen, mitt­ler­wei­le haben wir dazu einen Auf­ruf veröffentlicht.

Mehr Infor­ma­tio­nen zum Alarm­pho­ne auf der Sei­te von Watch the Med