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Das Ausmaß der Zerstörung in Syrien nach dem Erdbeben. Foto: picture alliance / AA

Die Odyssee von Yassir* ist beispielhaft für die europäische Abschottungspolitik. Im Oktober 2021 wird er Opfer eines Pushbacks von Griechenland in die Türkei. Von dort erfolgt gar die Abschiebung nach Syrien, nun ist er vom verheerenden Erdbeben betroffen. Unsere griechischen Kolleg*innen von Refugee Support Aegean (RSA) stehen mit ihm in Kontakt.

»Es war 4 Uhr mor­gens und ich war wach, als das ers­te Erd­be­ben statt­fand. Das Haus schwank­te wie ein Segel. Drau­ßen reg­ne­te es in Strö­men und es war sehr kalt. Die Leu­te kamen bar­fuß aus ihren Häu­sern. Nach dem zwei­ten Beben fiel der Strom aus, und die Stadt war ver­wüs­tet«, berich­tet Yas­sir unse­rer Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Refu­gee Sup­port Aege­an am 14. Febru­ar im Inter­view. Er lebt zur­zeit in der syri­schen Stadt Afrin, die vom Erbe­ben schwer getrof­fen wur­de. Doch eigent­lich soll­te er sich in Euro­pa befinden.

Chronik eines Pushbacks

2021 floh Yas­sir aus dem Bür­ger­kriegs­land über die Tür­kei nach Grie­chen­land. In Grie­chen­land ange­kom­men erhielt er jedoch kei­nen Schutz, son­dern wur­de gemein­sam mit ande­ren Geflüch­te­ten Oper eines völ­ker­rechts­wid­ri­gen Push­backs. Nach Yas­sirs Aus­sa­ge igno­rier­ten die grie­chi­schen Beam­ten ihre aus­drück­li­chen Bit­ten um inter­na­tio­na­len Schutz, ent­klei­de­ten und miss­han­del­ten die Geflüch­te­ten. Sie wur­den ohne Regis­trie­rung in Iso­la­ti­ons­haft genom­men und beka­men nur ihre Unter­wä­sche zurück. Anschlie­ßend zwan­gen die Beam­ten sie dann auf ein Boot, das von zwei mas­kier­ten Män­nern gesteu­ert wur­de und setz­ten sie hilf­los auf einer klei­nen Insel im Fluss Evros aus.

Noch wäh­rend der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) über einen durch RSA ein­ge­reich­ten Eil­an­trag in Yas­sirs Fall beriet, wur­den also durch die grie­chi­schen Behör­den Tat­sa­chen geschaf­fen und die Grup­pe von Geflüch­te­ten in die Tür­kei abge­scho­ben. »Das war der ers­te Ver­such. Ich habe es noch ein­mal ver­sucht, wur­de aber von den grie­chi­schen Behör­den ver­haf­tet und noch am sel­ben Tag in die Tür­kei zurück­ge­schickt«, berich­tet er.

Mehr als 25.000

Opfer von Push­backs in 2022 – allein in der Ägäis

So wie Yas­sir geht es vie­len Schutz­su­chen­den. Denn die­se ille­ga­len Zurück­wei­sun­gen durch grie­chi­sche Grenz­be­am­te sind inzwi­schen trau­ri­ger All­tag in Grie­chen­land: Unab­hän­gi­ge Stel­len gehen allein 2022 von mehr als 25.000 Opfern ille­ga­ler Zurück­wei­sun­gen in der Ägä­is aus. Hin­zu kom­men die sich häu­fen­den Push­backs an der tür­kisch-grie­chi­schen Land­gren­ze ent­lang des Flus­ses Evros.

Die­se Vor­gän­ge sind Teil der restrik­ti­ven Abschre­ckungs­po­li­tik der grie­chi­schen Regie­rung. Die Tür­kei wird dort als soge­nann­ter »siche­rer Dritt­staat« betrach­tet, obwohl die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on dort nur unter Vor­be­halt gilt – und eben nicht für Men­schen, die nicht aus Euro­pa stam­men, so wie Yas­sir. Auch wenn Geflüch­te­te es schaf­fen, in Grie­chen­land einen Asyl­an­trag zu stel­len, wird das Gesuch häu­fig unter die­ser Prä­mis­se abge­lehnt. Dabei igno­rie­ren die grie­chi­schen Behör­den, dass die Betrof­fe­nen in der Tür­kei oft kei­nen Schutz erhal­ten, son­dern ihnen sogar die Ket­ten­ab­schie­bung nach Afgha­ni­stan oder Syri­en droht. Auch das ist Yas­sir widerfahren.

»Mei­ne Hän­de waren gefes­selt, sie lie­ßen mich 15 Stun­den lang ohne Was­ser und Essen und sie miss­han­del­ten mich.«

Erzwungene Abschiebung aus der Türkei nach Syrien

Wäh­rend sei­nes gesam­ten Auf­ent­halts in der Tür­kei bemüh­te sich Yas­sir, von den tür­ki­schen Behör­den regis­triert zu wer­den und einen befris­te­ten Auf­ent­halts­sta­tus zu erhal­ten. Die­se wei­ger­ten sich jedoch, ihn zu registrieren.

»Die tür­ki­schen Behör­den haben mich vor zwei Mona­ten zurück nach Syri­en abge­scho­ben. Es war die drit­te Abschie­bung, seit ich gezwun­gen wur­de, Syri­en zu ver­las­sen. Das war im Dezem­ber 2022. Ich ver­ließ die Woh­nung, in der ich in Istan­bul wohn­te, um etwas Brot zu kau­fen. Dann wur­de ich von vier Per­so­nen in Zivil­klei­dung ange­hal­ten, die mich auf Tür­kisch anspra­chen und mich nach einer Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung frag­ten. Als ich ihnen sag­te, dass ich kei­ne habe, setz­ten sie mich in ein Fahr­zeug und brach­ten mich nach Tuz­la. Um Mit­ter­nacht wur­de ich nach Ada­na gebracht, wo ich vier Tage, bis zu mei­ner Abschie­bung nach Syri­en, fest­ge­hal­ten wurde.«

Und wieder: Gewalt und Misshandlungen

Yas­sir berich­tet außer­dem über die bru­ta­le Behand­lung durch die tür­ki­schen Behör­den. »Mei­ne Hän­de waren gefes­selt, sie lie­ßen mich 15 Stun­den lang ohne Was­ser und Essen, sie miss­han­del­ten mich kör­per­lich, indem sie mir ins Gesicht schlu­gen und auf den Rest mei­nes Kör­pers tra­ten, und sie beschimpf­ten mich. In Ada­na zwan­gen sie mich gewalt­sam, mei­ne Fin­ger­ab­drü­cke abzu­ge­ben. Sie nah­men mir die bei­den Han­dys ab, die ich bei mir hat­te. Bei mei­ner Abschie­bung nach Syri­en haben sie mir nur eines zurückgegeben.«

Obwohl es Yas­sir über einen Ver­wand­ten gelang, RSA über sei­ne Fest­nah­me zu infor­mie­ren, konn­te sein Anwalt ihn nicht aus­fin­dig machen, da die tür­ki­schen Behör­den bestrit­ten, ihn fest­ge­nom­men zu haben. Er selbst hat­te wäh­rend sei­ner Inhaf­tie­rung weder Zugang zu einem Tele­fon noch zu einem Anwalt. Sei­ne Abschie­bung wur­de in einem Schnell­ver­fah­ren durch­ge­führt, ohne dass er Zugang zu einem vor­über­ge­hen­den Schutz­sta­tus oder zu Rechts­mit­teln oder Rechts­be­hel­fen hatte.

»Die tür­ki­schen Behör­den haben mich ins syri­sche Grenz­ge­biet abge­scho­ben und ich bin nach Afrin gegan­gen«, sag­te er RSA. »In Afrin spür­te ich von Anfang an Angst, ich fühl­te mich auf­grund mei­ner per­sön­li­chen Geschich­te in Syri­en nicht sicher, ich ver­such­te mich zu ver­ste­cken, um nicht zur Ziel­schei­be der Behör­den zu wer­den. Dann kam die Kata­stro­phe mit den Erdbeben.«

Solidarität mit den Erdbebenopfern? 

Wie er betont, gibt es zahl­rei­che Men­schen, die nir­gend­wo unter­kom­men kön­nen und obdach­los auf der Stra­ße leben. Nach Anga­ben des UNHCR benö­ti­gen schät­zungs­wei­se 5,3 Mil­lio­nen Men­schen in Syri­en irgend­ei­ne Form von Wohn­hil­fe. Und die Situa­ti­on, die er im Febru­ar schil­dert, ist erschre­ckend: »Eini­ge der Obdach­lo­sen haben nicht ein­mal Decken, um sich zuzu­de­cken, obwohl es sehr kalt ist. Vie­le Men­schen sind hung­rig. Das liegt dar­an, dass die Lebens­mit­tel zu teu­er sind, um sie zu kau­fen, oder ein­fach dar­an, dass es nichts zu essen gibt! Auch vie­le Sachen, die hier­her geschickt wer­den, kom­men nicht bei den Men­schen an.«

Yas­sir hilft dort nun mit, wo er kann und unter­stützt bei den Auf­räum­ar­bei­ten – aber im Gebiet der mit der Tür­kei koope­rie­ren­den »Frei­en Syri­schen Armee« fühlt er sich nicht sicher. Er wür­de die Regi­on lie­ber heu­te als mor­gen wie­der ver­las­sen, allein: Es feh­len die Mit­tel und Wege. Wir und unse­re Kolleg*innen von RSA blei­ben wei­ter an sei­ner Sei­te und ver­tre­ten Yas­sir vor dem Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te – die­ses Ver­fah­ren hat auch über den Ein­zel­fall hin­aus gro­ße Bedeutung.

Über 50.000

Afghan*innen wur­den 2022 aus der Tür­kei abge­scho­ben – trotz der Herr­schaft der Taliban

Denn Yas­sirs Odys­see ist bei­spiel­haft für die euro­päi­sche Abschot­tungs­po­li­tik und ihre bit­te­ren Fol­gen. Sowohl in der Tür­kei als auch in Syri­en befin­den sich im Erd­be­ben­ge­biet etli­che Men­schen, die schon ein­mal aus ihrer Hei­mat ver­trie­ben wur­den und teil­wei­se ver­geb­lich in Euro­pa um Schutz ersucht hat­ten. Und selbst in der aktu­el­len Situa­ti­on hören die Abschie­bun­gen nicht auf:

In Grie­chen­land gehen die Push­backs unver­min­dert wei­ter, auch Deutsch­land schiebt in die tür­ki­schen Erd­be­ben­ge­bie­te ab, in der Tür­kei selbst wach­sen in der Not die Res­sen­ti­ments gegen Geflüch­te­te. Allein 2022 wur­den von dort über 50.000 Afghan*innen abge­scho­ben – trotz der Macht­über­nah­me der Tali­ban. Über die genaue Zahl der Abschie­bun­gen nach Syri­en ist nichts bekannt, Human Rights Watch doku­men­tier­te aber hun­der­te Fäl­le. Soli­da­ri­tät mit den Opfern des Erd­be­bens sieht anders aus.

*Name geän­dert

 

(jo, mk)