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Wieder vor dem Nichts: Geflüchtete im türkischen Erdbebengebiet
Am 6. Februar erschütterten Erdbeben das türkisch-syrische Grenzgebiet. 40.000 Todesopfer sind bereits bestätigt. Erst langsam wird das Ausmaß der Katastrophe sichtbar. PRO ASYL hat mit der Wissenschaftlerin Begüm Başdaş über die Krisenreaktion der Türkei, menschenrechtliche Bedenken und die prekäre Situation von Schutzsuchenden gesprochen.
Information: Das Interview wurde am 16.02.2023 geführt. Die Situation und die Regelungen können sich in der aktuellen Situation sehr schnell verändern.
Begüm, seit einer Woche stehst du im ständigen Kontakt mit Menschenrechtsaktivist*innen in der Türkei und verfolgst die Berichterstattung. Wie stellt sich die derzeitige Situation für dich dar?
Es ist schwierig in Worte zu fassen, was gerade vor Ort passiert. Die Auswirkungen des verheerenden Erdbebens sind kaum vorstellbar. Die Situation ist von Ort zu Ort unterschiedlich und es ist immer noch zu früh für eine umfassende Analyse. Die katastrophalen Folgen jedoch sind auch politisch bedingt. Es geht hier um verschiedene Probleme wie Baumängel, Korruption, Vernachlässigung von Aufsichtspflichten und die langsame Mobilisierung von Such- und Rettungsmaßnahmen durch die Behörden. An vielen Orten trafen die Teams mehr als 48 Stunden nach der Katastrophe ein, was viel zu spät war. Viele Leben fielen nicht unmittelbar dem Beben selbst zum Opfer, sondern der verspäteten Hilfeleistung. Rettungs- und Hilfsaktionen wurden zu großen Teilen selbstständig durch die Zivilgesellschaft organisiert, und in diesem Prozess wurden sie auch noch durch Behörden behindert.
Weiterhin fehlt es an Koordination und klarer Kommunikation, schnell verbreiten sich hingegen Falschinformationen und Hetze – insbesondere gegen Flüchtlinge und Migrant*innen. Es ist das totale Chaos. Die einzigen Gewissheiten sind, dass die Auswirkungen des Erdbebens auf die menschenrechtliche Lage in der Türkei immens sind und die Zahl der Todesopfer weiter steigen wird.
»In der Türkei erleben wir immer wieder, dass Menschenleben nichts wert sind.«
Wieder gibt es Berichte über die Inhaftierung von Journalist*innen und die Einschränkung der Pressefreiheit.
Kurz nach den Erdbeben war der Zugang zu Social Media-Kanälen wie Twitter eingeschränkt. Und das, obwohl es zu einem der wichtigsten Mittel geworden ist, um Rettungsaktionen zu koordinieren und an hunderten verschiedenen Orten in dem betroffenen Gebiet um Hilfe zu bitten. Offensichtlich hat der Schutz von Menschenleben keine Priorität für die Regierung. In der Türkei erleben wir immer wieder, dass Menschenleben nichts wert sind. Nutzer*innen Sozialer Medien und Journalist*innen wurden ins Visier genommen. Weil sie sich kritisch äußerten oder die Lage beobachteten, wurden einige zeitweise sogar festgenommen, was die Behörden mit dem kürzlich verabschiedeten »Desinformationsgesetz« leicht legitimieren konnten.
Der Präsident hat den Ausnahmezustand für die von dem Erdbeben betroffenen Städte verkündet, aber ich befürchte, dass er sogar landesweit verhängt werden könnte. Wir haben die Auswirkungen des Ausnahmezustands auf die Menschenrechte nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 gesehen und wie er zur Einschränkung der Meinungs‑, Versammlungs- und Medienfreiheit genutzt wurde. Dieses Mal haben diese Einschränkungen unmittelbare Auswirkungen auf Menschenleben.
In dem betroffenen Gebiet leben viele Flüchtlinge, die insbesondere vor dem Krieg in Syrien geflohen sind, aber auch Schutzsuchende aus anderen Ländern wie dem Iran und Afghanistan. Wie ist ihre Situation momentan?
Laut den türkischen Behörden leben in den elf betroffenen Provinzen mindestens 1,7 Millionen registrierte Geflüchtete. Den Großteil machen Syrer*innen unter dem sogenannten Temporären Schutz aus. Wir wissen nicht, wie viele Schutzsuchende ohne Papiere in dem betroffenen Gebiet gelebt haben. Schon vor dem Erdbeben war das Leben von Schutzsuchenden und Migrant*innen in der Türkei schwierig, was den Zugang zu Schutz und grundlegenden Rechten, aber auch die gesellschaftliche Akzeptanz, anbelangt.
Die zunehmend migrationsfeindliche Rhetorik im Land trug zur Verschlechterung ihrer Situation bei. Insbesondere nach 2019, mit der wirtschaftlichen Talfahrt in der Türkei, werden Flüchtlinge und Migrant*innen ins Visier genommen und weiter marginalisiert, was ihre Vulnerabilität noch verstärkt. Das Erdbeben hat das ganze Land getroffen, aber wie bei allen Krisen, Katastrophen und Konflikten bleiben vulnerable Gruppen auf der Strecke. Der Staat muss den Schutz der gefährdeten Gruppen sicherstellen, aber heute sind sie alle auf sich allein gestellt.
Kannst du das weiter ausführen?
Ich habe bereits erwähnt, dass der Zugang zu klaren Informationen ein Problem ist. Es gibt keine klaren Leitlinien für Flüchtlinge und Migrant*innen. Selbst auf der Website des zuständigen Präsidiums für Migrationsmanagements fehlen Informationen, abgesehen von einer Meldung über die Aussetzung bestimmter Dienste in einigen Städten. Menschen vor Ort sagen, dass die Verteilung von Hilfsgütern, wie zum Beispiel Lebensmitteln, Geflüchtete erreicht, aber auch hier sind wir nicht in der Lage, das mit Sicherheit zu bestätigen.
Aus einem der Dokumente, die zirkulieren, geht hervor, dass Geflüchtete nicht bei der Evakuierung in andere Städte oder Unterbringungen unterstützt werden. Während einige Syrer*innen sagen, dass unter den Überlebenden ein hohes Maß an Solidarität gelebt wird und sie in Antakya unmittelbar nach den Erdbeben keine Diskriminierung erlebt haben, gibt es viele Berichte, in denen ein ganz anderes Bild gemalt wird. Die Defizite in der Koordinierung und der klaren Kommunikation der Behörden eröffnen Raum für Hassreden, Syrer*innen werden zur Zielscheibe und es kommt zu gewalttätigen Angriffen.
Von wem geht diese Hetze aus?
Hochrangige Politiker rechtsextremer Parteien und ihre Anhänger nutzen die Situation aus und machen Flüchtlinge mit einer diskriminierenden Rhetorik zum Sündenbock. Das ist in dem Zusammenhang sehr gefährlich.
Es gibt Berichte über Menschen, die in den Trümmern plündern oder sogar Tote auf den Straßen bestehlen. Wir wissen nicht, um wen es sich dabei handelt, es könnten darunter auch Überlebende sein, die ihr eigenes Eigentum durchsuchen. Es ist aktuell völlig unklar, um wen es sich handelt. Viele Menschen werden jedoch gezielt und gewaltsam angegriffen.
»Sie fürchteten, nicht gerettet zu werden, wenn die Menschen erkennen, dass sie Syrer*innen sind.«
Vor allem Syrer*innen werden beschuldigt, ohne dass es irgendwelche Beweise gibt. Es gibt schwerwiegende Vorwürfe der Misshandlungen und Folter durch die Polizei von Menschen, die mutmaßlich geplündert haben. Dies sind sehr schwere Menschenrechtsverletzungen, die untersucht werden müssen. Es gibt aktuell eindeutige Sicherheitsbedenken, aber nichts kann die Angriffe legitimieren. Dies ist eine direkte Folge des flüchtlingsfeindlichen Stimmung, der Menschenleben kostet.
Wie meinst du das?
Menschen werden brutal zusammengeschlagen. Aber was uns das Herz bricht, ist, dass viele Syrer*innen, die das Erdbeben überlebt haben, sagten, sie hätten Angst gehabt um Hilfe zu rufen. Sie versuchten stattdessen, unter den Trümmern Geräusche zu machen, weil sie fürchteten, nicht gerettet zu werden, wenn die Menschen erkennen, dass sie Syrer*innen sind. In einigen Gebieten haben sie auch Angst, um Hilfe zu bitten. Dies ist ein kumulatives Ergebnis jahrelanger Hassreden und Diskriminierung.
In der Türkei unterliegen Flüchtlinge einer Gebietsbeschränkung. Ohne Antrag dürfen sie die ihnen zugewiesene Region nicht verlassen. Gilt dies weiterhin?
Syrer*innen unter vorübergehendem Schutz und andere Geflüchtete unter internationalem Schutz müssen in der Regel in den Städten bleiben, in denen sie registriert sind.* Um in der Türkei zu reisen benötigen sie »road permits«. Nach dem Erdbeben wurde diese Regelung für Geflüchtete in den betroffenen Städten gelockert. Laut einem Dokument der türkischen Migrationsbehörde vom 13. Februar dürfen Betroffenen für die nächste 60 Tage ohne die vorherige Genehmigung reisen. In einem früheren Dokument war von 90 Tagen die Rede.
Die Türkei hält an einer geografischen Beschränkung der Genfer Flüchtlingskonvention fest. Der Flüchtlingsstatus wird nur Personen gewährt, die aus Ländern des Europarats stammen. Personen, die aus sogenannten ‚nicht-Europäischen Herkunftsländern‘ stammen und unter die Flüchtlingsdefinition fallen, können nach erfolgreichem Antrag einen bedingten Schutzstatuts erhalten. Für Flüchtlinge aus Syrien hat die Türkei den Temporären Schutz eingerichtet.
Ich verstehe das Dokument so, dass die Lockerung für Betroffene aus sehr schwer betroffenen Städten beziehungsweise Gebieten, etwa Hatay oder Kahramanmaraş, gilt. Sie können in andere Städte fahren und sich dann nach der Ankunft vor Ort bei den Behörden registrieren. Personen, die in weniger betroffenen Städten wie Diyarbakır oder Adana leben, müssen weiterhin vor der Reise eine Genehmigung einholen. Es hängt wohl vom Ausmaß der Schäden in ihren Wohngebieten und ihrer Bedürftigkeit ab, ob diese erteilt wird.
Es gibt keine detaillierten Leitlinien, aber es ist klar, dass ihnen in den Städten, in denen sie ankommen, keine Unterbringung gestellt wird. Die gesamte Last der Unterstützung ruht auf den Geflüchteten selbst und ihren Netzwerken. Die von den Behörden veröffentlichten Informationen gehen nicht auf die Bedürfnisse der erneut vertriebenen Geflüchteten ein, sondern legen ihnen stattdessen neue Einschränkungen auf.
Die Ausnahmeregelung gilt für 60 Tage. Danach sind sie verpflichtet, in die betroffenen Gebiete zurückzukehren. Dies wirft mehrere menschenrechtliche Fragen auf. Wohin sollen sie nach 60 Tagen zurückkehren und wie werden sie unterstützt? Wie werden sie medizinische Versorgung oder Bildung erhalten? Darauf gibt es derzeit keine Antworten, wir müssen abwarten. Die Behörden müssen allen betroffenen Menschen gleichermaßen, ohne Diskriminierung, unterstützen. Menschen, die bereits zuvor keine Papiere hatten, stehen weiterhin mit leeren Händen da. Wir wissen nicht, was mit ihnen passiert. Sie könnten von Abschiebungen betroffen sein.
Große Städte, etwa Istanbul oder Ankara, die bereits vorher für Registrierung gesperrt waren, sollen weiterhin und auch für den temporären Zuzug tabu sein. Einige gehen dennoch in diese Städte, da sie dort Verwandte und Freunde haben, bei denen sie temporär unterkommen können. Da es keine klaren Richtlinien gibt, diese jeden Tag verändert werden, liegt die gesamte Verantwortung auf den Schultern der Flüchtlinge, die bereits mehrfach durch Krieg und Armut vertrieben wurden.
Du befasst dich auch mit den Problemen bei der Identifizierung und Registrierung von Menschen, die bei den Erdbeben ihr Leben verloren haben. Kannst du dazu etwas sagen?
Es gibt Berichte über die Massenbestattungen von nicht identifizierten Leichen. Das besorgt mich sehr, denn jeder hat das Recht auf eine Bestattung in Würde. Natürlich gibt es aktuell sehr ernste Risiken für die öffentliche Gesundheit, wenn die Leichen nicht zeitnah beerdigt werden, aber es muss Vorschriften geben, damit Angehörige auch in Zukunft noch die Menschen identifizieren können. Ich befürchte, dass dies Geflüchtete unverhältnismäßig stark treffen könnte.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob Geflüchtete in den offiziellen Zahlen berücksichtigt werden. Die Frage, welche Leichen als würdig erachtet werden, um sie zu trauern, ist von entscheidender Bedeutung. Einer meiner Kollegen in der Türkei verwies auf NGOs, die in Gaziantep tätig sind. Diese haben von mindestens 600 Geflüchteten berichtet, die bei dem Erdbeben ums Leben kamen. Dies ist nur eine Stadt und muss natürlich überprüft werden, lässt aber erahnen, dass viele Geflüchtete ihr Leben verloren haben.
»Das Erdbeben hat das ganze Land getroffen, aber einzelne Gruppen bleiben auf der Strecke.«
Was ist deiner Meinung nach jetzt wesentlich?
Die Erdbeben haben Hunderttausende von Menschen obdachlos gemacht. Die Türkei ist jetzt mit einer großen Zahl Binnenvertriebener konfrontiert, die keine eindeutige Unterstützung durch die Behörden erhalten. Dazu gehören auch Menschen, die bereits aus ihren Herkunftsländern vertrieben wurden und in der Türkei Schutz suchen. Ihre Perspektiven und ihr Schutz waren bereits vor den Erdbeben gefährdet. Statt Ad-hoc-Lösungen, die die Menschen noch weiter benachteiligen, brauchen wir jetzt dauerhafte Lösungen. Auch die EU ist gefragt. Sie muss handeln und Verantwortung übernehmen.
Die internationale Gemeinschaft, auch viele EU-Mitgliedsstaaten, haben in Reaktion auf das Erdbeben dringend benötigte Unterstützung für die Such- und Rettungsmaßnahmen geleistet, und es besteht ein spürbarer Drang, Hilfe zu schicken. Wir sind jedoch mit einer Situation konfrontiert, die die Wahrung der Menschenrechte Vieler auf Jahre hinaus gefährden wird. Deshalb brauchen wir langfristige und dauerhafte Lösungen.
Visa für kurze Aufenthalte mit weniger bürokratischen Maßnahmen, wie sie von Deutschland diskutiert werden, sind davon weit entfernt. Sie sind lebenswichtig für Menschen in dringenden Notlagen, insbesondere zur medizinischen Versorgung, aber sie sind nicht für alle gleichermaßen zugänglich und bestehende praktische Zugangshindernisse werden weiterhin nicht behoben.
Selbst in den Tagen nach dem Erdbeben und während Zehntausende in einem Nachbarland ums Leben gekommen sind, drehte sich die Diskussion auf EU-Ebene und in den Medien um die Kontrolle von Migrationsbewegung und die Verringerung der Ankünfte in der EU. Mein hoffnungsloser Wunsch ist, dass die EU ihre Bemühungen verstärkt, effektiven Schutz zu bieten und bereits bestehende Mechanismen, wie das Resettlement-Verfahren und den Familiennachzug, nutzt, wenigstens für die von dem Erdbeben betroffenen Menschen. Wir müssen jetzt den gesamten Werkzeugkasten für eine nachhaltige Zukunft nutzen. Die Türkei ist kein sicheres Drittland für Flüchtlinge.
Begüm Başdaş ist Postdoctoral Researcher am Centre for Fundamental Rights der Hertie School mit einem Fokus auf Migration, Menschenrechte, politische Theorie, Geschlecht und Sexualität in der EU und der Türkei. In dem TV Programm »On the Move with Begüm Başdaş« diskutiert sie regelmäßig mit geladenen Gästen über aktuelle Fragen der Migration. Derzeit lebt sie in Berlin.