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Mauern überall: Nicht nur in Europa, sondern auch in der vermeintlich sicheren Türkei. Hier die neue Grenzbefestigung in Richtung Iran. Foto: picture alliance / AA | Mesut Varol

Das, wovon u.a. Jens Spahn bei »Hart aber Fair« träumt, ist für viele Schutzsuchende in Griechenland schon bittere Realität: Ihr Asylantrag wird abgelehnt, weil die Türkei für sie sicher sei – obwohl diese ihnen keinen Schutz bietet. Die Erfahrungen zeigen: Das Konzept von »sicheren Drittstaaten« ist brandgefährlich für den Flüchtlingsschutz.

Kha­led* kommt aus Syri­en. Dort wur­de er wegen sei­ner poli­ti­schen Mei­nung ver­folgt, inhaf­tiert und gefol­tert. Auf sei­ner Flucht wur­de er in der Tür­kei unter unmensch­li­chen Bedin­gun­gen inhaf­tiert und mehr­fach ille­gal von tür­ki­schen Grenzbeamt*innen zurück nach Syri­en gebracht. 2019 schaff­te er es end­lich in die EU, er kam in Grie­chen­land an. Eigent­lich ist es ein­deu­tig: Bei poli­ti­scher Ver­fol­gung im Hei­mat­land soll­te er Flücht­lings­schutz nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on bekom­men. Doch das ist nicht das, was passierte.

Anstatt ihm Flücht­lings­schutz zu geben, lehn­te die grie­chi­sche Asyl­be­hör­de sei­nen Asyl­an­trag ein Jahr spä­ter als »unzu­läs­sig« ab: Die Tür­kei sei für ihn ein »siche­rer Dritt­staat«. So wird in Grie­chen­land seit dem EU-Tür­kei Deal von 2016 regel­mä­ßig ent­schie­den. Das Gericht bestä­tig­te die Ent­schei­dung. Dar­auf­hin wur­de Kha­led im Febru­ar 2021 auf der Insel Kos für über zwei Mona­te in Abschie­bungs­haft genom­men – obwohl die Tür­kei seit 2020 kei­ne abge­lehn­ten Asyl­su­chen­den aus Grie­chen­land mehr zurück­nimmt (sie­he fol­gen­den Bericht, Rn. 36). Auch den fol­gen­den Asyl­an­trag lehn­te Grie­chen­land ab.

Wie kann es sein, dass jemand, der so ein­deu­tig poli­tisch ver­folgt ist wie Kha­led, in der EU kei­nen Flücht­lings­schutz bekommt?

Angebliche Sicherheit in »sicheren Drittstaaten«

Eigent­lich geht es im Asyl­ver­fah­ren um die Fra­ge, ob einer Per­son im Her­kunfts­land schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und Ver­fol­gung dro­hen. Doch vor­ge­schal­tet wird oft eine ande­re Fra­ge: Ist der Asyl­an­trag zuläs­sig? Das soll zum Bei­spiel nicht der Fall sein, wenn die schutz­su­chen­de Per­son sich zuvor in einem angeb­lich »siche­ren Dritt­staat« auf­ge­hal­ten hat.

Anstatt die Flucht­grün­de zu prü­fen, wird die Per­son also mit dem Argu­ment abge­lehnt, dass sie in die­sem Dritt­staat schon sicher gewe­sen sei und wird dahin abgeschoben. 

Anstatt die Flucht­grün­de zu prü­fen, wird die Per­son also mit dem Argu­ment abge­lehnt, dass sie in die­sem Dritt­staat schon sicher gewe­sen sei und wird dahin abge­scho­ben. Dass die­se ver­meint­li­che Sicher­heit, wie das Bei­spiel von Kha­led und der Tür­kei zeigt, in der Pra­xis nur sel­ten der Rea­li­tät ent­spricht, ist ein Teil des Pro­blems des Konzepts.

Der deutsche  »Asylkompromiss« von 1993 machte es vor

Das deut­sche Grund­ge­setz kennt eine sol­che Regel schon län­ger und ist gleich­zei­tig leben­di­ger Beweis dafür, wie gefähr­lich das Kon­zept der »siche­ren Dritt­staa­ten« für den Schutz ver­folg­ter Men­schen ist. Seit dem soge­nann­ten Asyl­kom­pro­miss von 1993, der nach den ras­sis­ti­schen Anschlä­gen in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen und Mölln von CDU/CSU,SPD und FDP ver­ein­bart wur­de, ist das deut­sche Grund­recht auf Asyl in Arti­kel 16a Grund­ge­setz wie folgt ein­ge­schränkt: Auf das Asyl­recht für poli­tisch Ver­folg­te kann sich nicht beru­fen, wer aus einem Mit­glied­staat der EU oder aus einem ande­ren Dritt­staat ein­reist, in dem die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on und die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on gelten.

Da Deutsch­land somit von »siche­ren Dritt­staa­ten« umge­ben ist, kön­nen sich nur Men­schen auf Arti­kel 16a Grund­ge­setz beru­fen, die per Flug­zeug ein­rei­sen – was für die meis­ten flie­hen­den Men­schen unmög­lich ist. So wur­den im Jahr 2022 nur 1.937 Men­schen als asyl­be­rech­tigt nach dem Grund­ge­setz aner­kannt (0,8 Pro­zent aller Ent­schei­dun­gen). Dage­gen erhiel­ten 40.911 Men­schen Flücht­lings­schutz nach der Gen­fer Flüchtlingskonvention.

Deutsches Grundrecht auf Asyl wurde in der Praxis irrelevant 

Da die bei­den Aner­ken­nun­gen fak­tisch die glei­chen Rech­te beinhal­ten, macht es für die Men­schen kei­nen Unter­schied, wel­chen Sta­tus sie bekom­men. Doch das Fazit bleibt: Die Ein­füh­rung von »siche­ren Dritt­staa­ten« im Grund­ge­setz hat dazu geführt, dass das deut­sche Grund­recht auf Asyl für poli­tisch Ver­folg­te – eine Leh­re der Müt­ter und Väter des Grund­ge­set­zes aus der Nazi­dik­ta­tur – in der Pra­xis irrele­vant gewor­den ist.

Wenn nun sys­te­ma­tisch auch der Flücht­lings­schutz nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on in Euro­pa über das Kon­zept der »siche­ren Dritt­staa­ten« aus­ge­he­belt wird, dann besteht die Gefahr, dass der Flücht­lings­schutz nur noch auf dem Papier exis­tiert. Wie ist hier­zu also die aktu­el­le Rechts­la­ge in der EU?

Die Genfer Flüchtlingskonvention kennt keine »sichere Drittstaaten« 

In der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) ist von einem sol­chen Kon­zept nicht die Rede. Zwar gibt es in ihr kein expli­zi­tes Recht auf freie Wahl des Schutz­lan­des, genau­so wenig gibt es in ihr aber eine Ver­pflich­tung für Flücht­lin­ge, im ers­ten mög­li­chen Staat Asyl zu suchen. Wie auch im Fak­ten­check von Hart aber Fair zu Äuße­run­gen des stell­ver­tre­ten­den CDU-Vor­sit­zen­den Jens Spahn klar gestellt wird: Die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on ver­pflich­tet die Staa­ten zudem, stets vor einer Abschie­bung zu prü­fen, ob einer schutz­su­chen­den Per­son Ver­fol­gung droht (soge­nann­tes Non-Refou­le­ment-Gebot, Arti­kel 33 GFK). Auch in Arti­kel 18 der EU-Grund­rech­te­char­ta, die das Asyl­recht nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on in der EU garan­tiert, steht nichts von »siche­ren Drittstaaten«.

Die »siche­ren Dritt­staa­ten« tau­chen erst in Arti­kel 38 der EU-Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie auf. Die­se ermög­licht es den EU-Mit­glied­staa­ten, Asyl­an­trä­ge als unzu­läs­sig abzu­leh­nen, wenn sie sich in einem indi­vi­du­el­len Ver­fah­ren davon über­zeugt haben, dass die Per­son in dem Dritt­staat unter anderem

  • kei­ner Gefähr­dung von Leib und Leben auf­grund von Ras­sis­mus, Reli­gi­on, Natio­na­li­tät, Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimm­ten sozia­len Grup­pe oder poli­ti­scher Über­zeu­gung aus­ge­setzt ist;
  • nicht Gefahr läuft, einer ille­ga­len Zurück­wei­sung (soge­nann­te Push­backs) zum Opfer zu fallen;
  • die Mög­lich­keit hat, einen Asyl­an­trag zu stel­len und als Flücht­ling gemäß der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on aner­kannt zu werden.

Außer­dem muss es eine Ver­bin­dung zwi­schen der in der EU asyl­su­chen­den Per­son und dem außer­eu­ro­päi­schen Mit­glied­staat geben, auf­grund derer es »ver­nünf­tig« erscheint, dass die Per­son sich in die­sen Staat begibt.

Soweit die Theo­rie, doch wie die Pra­xis etwa in Grie­chen­land zeigt, wer­den die­se Kri­te­ri­en schon jetzt nicht eingehalten.

Im März 2023 jährt sich die Unter­zeich­nung des EU-Tür­kei-Deals zum sieb­ten Mal. Mit Punkt eins des Abkom­mens – »Alle neu­en irre­gu­lä­ren Migran­ten, die ab dem 20. März 2016 von der Tür­kei auf die grie­chi­schen Inseln gelan­gen, wer­den in die Tür­kei rück­ge­führt« – fand das Kon­zept des »siche­ren Dritt­staats« Ein­gang in Asyl­ver­fah­ren auf den grie­chi­schen Ägä­is-Inseln. Hier eta­blier­ten sich dis­kri­mi­nie­ren­de Ver­fah­ren: Abhän­gig von der Natio­na­li­tät und der Aner­ken­nungs­quo­te wur­de das Kon­zept des »siche­ren Dritt­staats« ange­wandt wird oder nicht. Syrer*innen fie­len immer darunter.

Zwi­schen 2016 und 2020 wur­den knap­pe 6.000 Anträ­ge syri­scher Antragsteller*innen mit der Begrün­dung abge­wie­sen, dass die Tür­kei ein »siche­rer Dritt­staat« sei. Die Ent­schei­dun­gen sahen meist gleich aus: Die grie­chi­sche Asyl­be­hör­de nut­ze Satz­bau­stei­ne, eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der indi­vi­du­el­len Situa­ti­on der antrags­stel­len­den Per­son im Fal­le einer Rück­füh­rung in die Tür­kei fand fak­tisch nicht statt. Zusätz­lich führ­te sie alte Quel­len und Garan­tien an, die längst nicht mehr der Rea­li­tät in der Tür­kei ent­spra­chen. Wäh­rend der schlep­pen­den Ver­fah­ren wur­den Flücht­lin­ge in Hot­spots unter­ge­bracht, die schnell zu Orten der Ver­wahr­lo­sung wur­den. Das abge­brann­te Lager Moria auf der Insel Les­bos ist das Sym­bol­bild die­ser geschei­ter­ten Politik.

Das abge­brann­te Lager Moria auf der Insel Les­bos ist das Sym­bol­bild die­ser geschei­ter­ten Politik.

4.144

Men­schen wur­den von der grie­chi­schen Asyl­be­hör­de 2022 in die Tür­kei zurückgeschickt

Im Som­mer 2021 ging die grie­chi­sche Regie­rung einen Schritt wei­ter: Per Minis­te­ri­al­ent­schei­dung wur­de die Tür­kei pau­schal für alle schutz­su­chen­den Men­schen aus Afgha­ni­stan, Syri­en, Soma­lia, Paki­stan und Ban­gla­desch für sicher erklärt. Und zwar nicht nur für neu­an­kom­men­de Asyl­su­chen­de, son­dern rück­wir­kend für alle Men­schen aus die­sen Her­kunfts­län­dern, die in Grie­chen­land – auch jen­seits der Ägä­is-Inseln – einen Asyl­an­trag gestellt haben.

Seit­dem bleibt dem Groß­teil der Schutz­su­chen­den in Grie­chen­land der Zugang zum Asyl­ver­fah­ren ver­wehrt. Asyl­an­trä­ge von Staats­an­ge­hö­ri­gen aus die­sen fünf Län­dern wer­den sys­te­ma­tisch als unzu­läs­sig abge­lehnt. Allei­ne 2022 ent­schied die grie­chi­sche Asyl­be­hör­de in 4.144 Fäl­len, dass die schutz­su­chen­de Per­son in die Tür­kei zurück müs­se – wie bei Khaled.

Die Tür­kei ist das Haupt­auf­nah­me­land welt­weit, 2021 waren es 3,8 Mil­lio­nen Flücht­lin­ge. Doch die recht­li­che Lage für die Geflüch­te­ten und auch die Lebens­be­din­gun­gen ent­spre­chen bei wei­tem nicht den Stan­dards für einen »siche­ren Dritt­staat«. Ihr recht­li­cher Sta­tus ist ent­we­der pre­kär – oder sie haben gar kei­nen, wenn sie sich nicht regis­trie­ren las­sen konn­ten und des­halb ille­ga­li­siert im Land sind. Vor Abschie­bun­gen sind vie­le nicht geschützt und häu­fig leben sie am Ran­de der Gesell­schaft. Dies wur­de in aus­führ­li­chen Stu­di­en dar­ge­legt (sie­he zum Bei­spiel das Rechts­gut­ach­ten von Dr. Rein­hard Marx von 2016 und bezo­gen auf afgha­ni­sche Flücht­lin­ge die­se Stu­die von 2021).

Die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on wur­de von der Tür­kei nur mit »geo­gra­phi­schem Vor­be­halt« unter­zeich­net, das heißt nur Flücht­lin­ge aus Euro­pa kön­nen sich auf sie beru­fen. Nicht-euro­päi­schen Flücht­lin­gen sicher­te die Tür­kei auf dem Papier Schutz vor Abschie­bun­gen zu – doch nicht ein­mal die­ser Mini­mal­an­for­de­rung wird sie gerecht. Syri­sche Flücht­lin­ge kön­nen auf­grund der ein­ge­schränk­ten Gel­tung der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on nur »tem­po­rä­ren Schutz« erhal­ten – ein Grup­pen­sta­tus, der jeder­zeit durch eine poli­ti­sche Ent­schei­dung des Prä­si­di­al­am­tes been­det wer­den kann. Neben Syri­en kom­men die meis­ten Flücht­lin­ge in der Tür­kei aus Afgha­ni­stan, dem Irak und dem Iran. Sie kön­nen soge­nann­ten »inter­na­tio­na­len Schutz« bean­tra­gen. In einem indi­vi­du­el­len Ver­fah­ren wird geprüft, ob sie einen »beding­ten Schutz­sta­tus« oder »sub­si­diä­ren Schutz« erhalten.

Auch wenn die Begrif­fe euro­päi­schen ähneln, sind sie weit von einem siche­ren Sta­tus ent­fernt (sie­he hier­zu auch den AIDA Bericht zur Tür­kei).

Dies zeigt sich ins­be­son­de­re an den tür­ki­schen Abschie­bun­gen und Push­backs. Berich­te von Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen in den letz­ten Jah­ren zei­gen durch­gän­gig, dass die Tür­kei kon­ti­nu­ier­lich gegen das völ­ker­recht­li­che Non-Refou­le­ment-Gebot ver­stößt. Die Pra­xis der erzwun­ge­nen »frei­wil­li­gen« Aus­rei­se von Syrer*innen und Abschie­bun­gen in das Bür­ger­kriegs­land sind breit doku­men­tiert (zum Bei­spiel von Human Rights Watch 2019, Amnes­ty Inter­na­tio­nal 2019, Human Rights Watch 2022). Nach Afgha­ni­stan schiebt die Tür­kei beson­ders mas­siv ab, selbst nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban. Im Jahr 2022 wur­den laut der zustän­di­gen tür­ki­schen Behör­den über 61.000 Men­schen nach Afgha­ni­stan abge­scho­ben und dies wohl in Koope­ra­ti­on mit den Tali­ban (sie­he hier­zu einen Bericht aus der taz und Human Rights Watch 2022).

Zwar war die Lage für vie­le Geflüch­te­te in der Tür­kei schon län­ger pre­kär, doch ist dies seit dem mas­si­ven Erbe­ben in der Regi­on umso stär­ker der Fall. Es gibt auch Berich­te über Angrif­fe auf syri­sche Flücht­lin­ge nach dem Erd­be­ben. Poli­tisch wird von fast allen Par­tei­en Druck gemacht, dass syri­sche Flücht­lin­ge mög­lichst in ihr Hei­mat­land zurück­keh­ren sollen.

Auch deut­sche Gerich­ten wider­spre­chen der Annah­me, die Tür­kei sei ein »siche­rer Dritt­staat«. So ent­schied das Ver­wal­tungs­ge­richt Mün­chen in einem von PRO ASYL und Equal Rights Bey­ond Bor­ders in Deutsch­land unter­stütz­tem Ver­fah­ren im Juli 2019, dass ein Syrer nicht im Rah­men von Dub­lin nach Grie­chen­land über­stellt wer­den darf, weil sein Asyl­ver­fah­ren als unzu­läs­sig abge­lehnt wur­de, aber die Tür­kei die Kri­te­ri­en für einen »siche­ren Dritt­staat« nicht erfül­le. Das Ver­wal­tungs­ge­richt Gel­sen­kir­chen stell­te mit Urteil vom 14. März 2022 fest, dass der tem­po­rä­re Schutz für Syrer*innen in der Tür­kei nicht aus­rei­chend vor Abschie­bun­gen nach Syri­en schützt und die Tür­kei ent­spre­chend kein »siche­rer Dritt­staat« ist.

Für die Schutz­su­chen­den in Grie­chen­land hat die Ableh­nung des Asyl­an­trags als »unzu­läs­sig« gra­vie­ren­de Fol­gen: Sie erhal­ten nicht den Schutz, der ihnen zusteht, statt­des­sen droht ihnen ein Leben auf dem Abstell­gleis. Vie­le Betrof­fe­ne enden, wie Kha­led, für eini­ge Zeit in Abschie­be­haft oder vege­tie­ren in den Lagern vor sich hin. Sie sind abge­lehnt, erhal­ten kei­ne finan­zi­el­le und sozia­le Unter­stüt­zung. Wie vie­le ange­sichts die­ser Per­spek­tiv­lo­sig­keit ver­su­chen, über die Bal­kan­rou­te wei­ter zu flie­hen, ist unklar.

Akut ist die Andro­hung der Abschie­bung in die Tür­kei dabei nicht: Wäh­rend rechts­wid­ri­ge Push­backs zum All­tag in der Ägä­is-Regi­on gehö­ren, haben schon seit drei Jah­ren kei­ne offi­zi­el­len Abschie­bun­gen mehr aus Grie­chen­land statt­ge­fun­den, weil die Tür­kei seit 2020 kei­ne abge­lehn­ten Asyl­su­chen­den aus Grie­chen­land mehr zurück­nimmt. Wenn eine Abschie­bung in den ver­meint­lich »siche­ren Dritt­staat« nicht mög­lich ist, ver­pflich­tet die euro­päi­sche Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie die Mit­glied­staa­ten, Zugang zum Asyl­ver­fah­ren zu gewäh­ren und eine inhalt­li­che Prü­fung im Hin­blick auf die Flucht­grün­de durch­zu­füh­ren. Den­noch hält Grie­chen­land wei­ter­hin dar­an fest, die Asyl­an­trä­ge von Men­schen aus den genann­ten fünf Län­dern als »unzu­läs­sig« abzulehnen.

Ob das recht­mä­ßig ist, hat im Febru­ar 2023 das höchs­te grie­chi­sche Gericht den Gerichts­hof der Euro­päi­schen Uni­on gefragt. Die Vor­la­ge­fra­ge ist ein Mei­len­stein in der Aus­ein­an­der­set­zung um das siche­re Dritt­staats­kon­zept und erfolgt in einem Ver­fah­ren, das von der PRO ASYL Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Refu­gee Sup­port Aege­an und dem Grie­chi­schen Flücht­lings­rat betrie­ben wird.

Die gefährlichen Pläne aus Brüssel

Der EU-Tür­kei Deal und die aktu­el­le Pra­xis in Grie­chen­land zei­gen, wie gefähr­lich das Dritt­staa­ten-Kon­zept für den Schutz von Geflüch­te­ten ist und wie sich die EU so nur noch abhän­gi­ger von eben die­sen Dritt­staa­ten macht. Trotz­dem wach­sen die Begehr­lich­kei­ten in der EU, die­se Aus­la­ge­rung des Flücht­lings­schut­zes wei­ter vor­an zu treiben.

Beim Son­der­rats­gip­fel der euro­päi­schen Regierungschef*innen am 9. Febru­ar 2023 wur­de zum Bei­spiel fest­ge­hal­ten, dass das Kon­zept »siche­rer Dritt­staa­ten« stär­ker genutzt wer­den und die Euro­päi­sche Asyl­agen­tur hier­für Leit­li­ni­en auf­stel­len soll. Auch eine gemein­sa­me EU-Lis­te von »siche­rer Dritt­staa­ten« soll laut den Schluss­fol­ge­run­gen erstellt wer­den (Rn. 22).

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Im Rah­men der Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­rechts sol­len zudem die Kri­te­ri­en für »siche­re Dritt­staa­ten« so weit her­un­ter gefah­ren wer­den, dass einer mas­sen­haf­ten Ableh­nung eigent­lich schutz­be­rech­tig­ter Men­schen in der EU kaum noch etwas ent­ge­gen­steht. Wäh­rend die Anwen­dung des Kon­zepts bis­lang optio­nal für Mit­glied­staa­ten ist, soll die­se Prü­fung laut den Vor­schlä­gen der Kom­mis­si­on für eine Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung zukünf­tig stets ver­pflich­tend sein. (sie­he hier­zu eine Ana­ly­se von PRO ASYL zu den Vor­schlä­gen). Außer­dem soll es nicht mehr Vor­aus­set­zung sein, dass die abge­lehn­te Per­son im Dritt­staat vol­len Flücht­lings­schutz nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on bekom­men kann. Offen­kun­dig hat die Kom­mis­si­on hier­bei die Tür­kei im Blick, wel­che die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on nur mit einem geo­gra­phi­schen Vor­be­halt rati­fi­ziert hat. Auch soll allein die Durch­rei­se durch einen Dritt­staat aus­rei­chen, um eine schutz­be­dürf­ti­ge Per­son in die­sen zurück zu schicken.

Bundesregierung muss sich für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Flüchtlingsschutz einsetzen!

Doch die­sen Ver­schär­fungs­plä­nen kann und muss sich die Bun­des­re­gie­rung noch ent­ge­gen stel­len: Im Rat für Inne­res wird unter der schwe­di­schen Rats­prä­si­dent­schaft die­ser Vor­schlag zur Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung in den nächs­ten Wochen und Mona­ten dis­ku­tiert. Es ist zwin­gend not­wen­dig, dass Deutsch­land hier für Rechts­staat­lich­keit, Men­schen­rech­te und Flücht­lings­schutz ein­tritt und den Ver­schär­fun­gen eine Absa­ge erteilt. Dies hat PRO ASYL mit einem Schrei­ben an die zustän­di­gen Minis­te­ri­en und Regie­rungs­frak­tio­nen deut­lich gemacht und not­wen­di­ge rote Lini­en der Bun­des­re­gie­rung bei der Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems gefordert.

Auf wel­che ver­meint­lich »siche­ren Dritt­staa­ten« will die EU die Geflüch­te­ten über­haupt verweisen?

72%

der Flücht­lin­ge leben in Nachbarstaaten

Die stan­dard­mä­ßi­ge Anwen­dung des Kon­zepts der »siche­ren Dritt­staa­ten« könn­te im schlimms­ten Fall das Ende für den Flücht­lings­schutz in Euro­pa bedeu­ten. Dabei nimmt die EU als wohl reichs­te Staa­ten­ge­mein­schaft der Welt schon jetzt nur einen Bruch­teil der welt­wei­ten Flücht­lin­ge auf. Von den über 100 Mil­lio­nen Flücht­lin­gen leben cir­ca drei Vier­tel in armen oder ein­kom­mens­schwa­chen Auf­nah­me­län­dern – und das oft schon seit vie­len Jah­ren. Im Jahr 2021 leb­ten laut UNHCR welt­weit 72 Pro­zent der Flücht­lin­ge in Nach­bar­län­dern ihres Her­kunfts­staa­tes. Die Wahr­neh­mung in der EU, alle schutz­su­chen­den Men­schen wür­den nach Euro­pa kom­men, ist bewuss­te Panik­ma­che und Sinn­bild für eine euro­päi­sche Nabelschau.

Internationaler Rückschritt im Flüchtlingsschutz zu befürchten

Ein ent­spre­chen­der Rück­zug der EU aus dem Flücht­lings­schutz wür­de abseh­bar einen gefähr­li­chen Domi­no­ef­fekt aus­lö­sen. Denn wenn sich die EU ihrer Ver­ant­wor­tung ent­le­di­gen will, war­um soll­ten das ande­re Staa­ten nicht auch tun? Schon jetzt sieht man auf den Haupt­flucht­rou­ten, wie Tran­sit­län­der wie die Tür­kei es der EU nach­ma­chen und Mau­ern etwa zum Iran bau­en. Die jüngs­te Ent­wick­lung in Groß­bri­tan­ni­en ist dies­be­züg­lich beson­ders dra­ma­tisch, wo die Regie­rung das Asyl­recht de fac­to abschaf­fen will und damit den Bruch mit Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on und der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on wis­sent­lich in Kauf nimmt.

Abschlie­ßend blei­ben die Verfechter*innen der Aus­la­ge­rung des Flücht­lings­schut­zes stets eine ent­schei­den­de Ant­wort schul­dig: Auf wel­che ver­meint­lich »siche­ren Dritt­staa­ten« will die EU die Geflüch­te­ten über­haupt ver­wei­sen? Die EU ist aktu­ell nicht gera­de von Staa­ten umge­ben, in denen Men­schen­rech­te und Flücht­lings­schutz hoch­ge­hal­ten wer­den. Für die Tür­kei wur­de dies schon aus­ge­führt. Aber auch wenn man über das Mit­tel­meer blickt, ist die Situa­ti­on in Län­dern wie Alge­ri­en oder Tune­si­en – ganz zu schwei­gen von Liby­en – für Schutz­su­chen­de schwie­rig bis gefähr­lich. Hin­zu kommt: Die­se Län­der haben auch kein Inter­es­se, die Hand­lan­ger euro­päi­scher Inter­es­sen zu wer­den. Anders­her­um muss auch die EU sich fra­gen las­sen: Von wel­cher auto­kra­ti­schen Regie­rung will sie sich als nächs­tes abhän­gig machen?

*Name zum Schutz der Person geändert.

(wj)