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Ukrainische Geflüchtete in Polen: Aufnahme statt Abwehr
Vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine war Polen vor allem für seine harte und menschenrechtswidrige Behandlung von Geflüchteten bekannt. Während Polen an der Grenze zu Belarus weiterhin brutal gegen Schutzsuchende vorgeht, zeigt sich das Land gegenüber ukrainischen Kriegsflüchtlingen von seiner freundlichen Seite.
Nur wenig erinnert im September 2022 in der polnischen Kleinstadt Przemyśl noch an die chaotischen Zustände der ersten Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Hier, im äußersten Südosten Polens, drängten sich damals Tausende ukrainische Kriegsflüchtlinge, die die Ukraine Hals über Kopf verlassen hatten, in den Kleinstadtbahnhof. Dazu kamen schnell etliche freiwillige Helfer*innen und Journalist*innen aus der ganzen Welt.
Mittlerweile ist am Bahnhof zwar immer noch deutlich mehr Betrieb als vor Kriegsausbruch. Aber es ist eine Form von Alltag eingekehrt: Noch immer stehen Helfer*innen bereit, um die etwa 2.000 Geflüchteten in Empfang zu nehmen, die täglich mit vier Zügen aus der Ukraine ankommen. Mobilfunkbetreiber haben kleine Stände aufgebaut und verteilen kostenfreie SIM-Karten. Polnische Firmen werben für Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor. Und die polnische Bahngesellschaft sorgt mit zusätzlichen Mitarbeiter*innen für eine reibungslose Weiterreise – auch wenn die Bahntickets seit einiger Zeit nicht mehr kostenlos zu haben sind. Einzige Ausnahme stellt ein Sonderzug nach Hannover dar, der nach wie vor alle paar Tage von Przemyśl aus direkt nach Hannover fährt.
Nach Polen und zurück
Was in Przemyśl sofort auffällt, ist die lange Schlange von Wartenden vor der Passkontrolle für Ausreisen in die Ukraine. Waren die Züge in der ersten Phase des Krieges fast leer in die Ukraine zurückgefahren, sind sie mittlerweile gut gefüllt. Der Eindruck, dass mittlerweile genauso viele Ukrainer*innen in die Ukraine fahren, wie aus ihr nach Polen einreisen, bestätigt sich auch in Warschau. Am dortigen Busbahnhof fahren jeden Tag etliche vollbesetzte Busse in verschiedenste ukrainische Städte ab.
Laut UNHCR-Statistik sind seit Kriegsausbruch bis Ende November 2022 fast acht Millionen Menschen aus der Ukraine nach Polen eingereist. Rund sechs Millionen Menschen haben Polen im selben Zeitraum in Richtung der Ukraine verlassen. Eine im Juni 2022 von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) veröffentlichte Studie, die auf der Befragung von knapp über 1.000 Rückkehrer*innen in Przemyśl basiert, kommt zu dem Ergebnis, dass etwa 50 Prozent der Befragten dauerhaft in die Ukraine zurückkehren wollten. 30 Prozent strebten lediglich einen Besuch an und 17 Prozent waren noch unentschlossen.
Heimweh und Sehnsucht nach Familienangehörigen
Eine weitere, vom Norwegischen Flüchtlingsrat NRC durchgeführte Befragung brachte im Juli 2022 zutage, dass sich ein Drittel der befragten Rückkehrer*innen länger als drei Monate außerhalb der Ukraine aufgehalten hatte. Ein weiteres Drittel hatte die Ukraine für ein bis drei Monate verlassen, der Rest lebte für weniger als einen Monat im Ausland oder hatte die Ukraine bereits vor Ausbruch des Krieges verlassen. Als zentrale Motive für die Rückkehr wurden Heimweh, der Wunsch nach Familienzusammenführung, berufliche Notwendigkeiten und die Ausstellung oder Verlängerung von Dokumenten genannt. Eine eher untergeordnete Rolle für die Rückreiseentscheidung spielten die Lebensbedingungen im Aufnahmestaat.
Es gehört zu den großen Vorteilen der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz (2001/55/EG), dass es für ukrainische Geflüchtete problemlos möglich ist, für kurzzeitige Besuche in die Ukraine zurückzukehren. Im Zuge langwieriger Asylverfahren wäre dies kaum möglich gewesen, da hier in aller Regel eine dauerhafte Anwesenheit vorausgesetzt wird. Und auch nach einer Schutzgewährung wäre ein Besuch im Heimatland nur schwer möglich gewesen, da das Asylrecht dies nur in Ausnahmefällen vorsieht.
Polen nimmt die meisten ukrainischen Kriegsflüchtlinge auf
Bis Ende November 2022 haben knapp über 1,5 Millionen Ukrainer*innen in Polen vorübergehenden Schutz gemäß der Richtlinie erhalten. Damit hat Polen innerhalb der EU mit Abstand die meisten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Innerhalb Polens wurden überproportional viele Geflüchtete in den Großstädten Warschau (etwa 130.000), Breslau (etwa 50.000), Krakau und Posen (jeweils etwa 35.000) registriert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele der landesweit etwa eine Million ukrainischen Arbeitsmigrant*innen, die bereits vor dem Krieg in den großen Städten gelebt haben, nach Kriegsausbruch Familienangehörige und Freund*innen aufgenommen haben. In Breslau stammt mittlerweile ein Viertel der Bevölkerung aus der Ukraine und an den Warschauer Bahnhöfen informieren Plakate darüber, dass die großen polnischen Städte bereits überfüllt seien und die kleineren Städte daher bessere Lebensbedingungen bieten würden.
Schutz ohne »Papier«
Aufgrund der immensen Anzahl von Geflüchteten, die insbesondere kurz nach Beginn des Krieges nach Polen kamen, entschied sich die polnische Regierung dazu, ukrainischen Staatsangehörigen, die nach dem 24. Februar 2022 eingereist sind, pauschal ein 18-monatiges Aufenthaltsrecht gemäß der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz zu gewähren. Anders als in anderen europäischen Ländern muss hierfür kein gesonderter Antrag gestellt werden. Allerdings ist die Beantragung einer sogenannten Pesel-Nummer notwendig. Diese persönliche Identifikationsnummer, die auch an polnische Staatsangehörige vergeben und von der jeweiligen Gemeindeverwaltung ausgestellt wird, wird für ukrainische Staatsangehörige mit dem Zusatz »UKR« versehen.
Die Beantragung einer Pesel-Nummer ist zwar nicht vorgeschrieben, jedoch notwendig, um die mit der Aufenthaltsgewährung einhergehenden Rechte uneingeschränkt in Anspruch nehmen zu können. Zwischenzeitlich wurde zudem ein Verfahren eingeführt, das es ukrainischen Geflüchteten ermöglicht, über ihre Pesel-Nummer auch einen elektronischen Aufenthaltstitel zu beantragen, der auf dem Handy angezeigt werden kann.
Umfassender Zugang zu Sozialleistungen
Zu den Rechten, die sich aus einer Registrierung im »Pesel«-System ergeben, zählen eine Einmalzahlung in Höhe von 300 Złoty (etwa 65 Euro) sowie der uneingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung, zu Sozialhilfe und zu verschiedenen Familienleistungen, die auch polnischen Staatsangehörigen gewährt werden. Hier spielt insbesondere das Erziehungsgeld »500+« eine Rolle, das 2016 eingeführt wurde und das die einkommensunabhängige monatliche Auszahlung von 500 Złoty (etwa 105 Euro) für jedes Kind vorsieht. Weiterhin besteht – bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen – die Möglichkeit, staatliche Grundsicherung zu erhalten: Diese beträgt für Einzelpersonen maximal 701 Złoty (etwa 150 Euro) und für Familien maximal 528 Złoty (etwa 110 Euro) pro Familienmitglied.
Von dem »Cash-Program«, das der UNHCR kurz nach Beginn des Krieges in Polen etabliert hat, können seit August 2022 nur noch besonders schutzbedürftige Geflüchtete profitieren. Bis dahin wurden fast 100 Millionen Euro an rund 250.000 Ukrainer*innen ausgezahlt. Dabei erhielten Einzelpersonen monatlich 700 Złoty (etwa 150 Euro) und jedes weitere Familienmitglied 600 Złoty (etwa 130 Euro), wobei an jeden Haushalt maximal 2.500 Złoty (etwa 530 Euro) pro Monat ausgezahlt wurden.
Einschränkungen bei längerfristiger Ausreise
Bei Ukrainer*innen, die Polen länger als einen Monat verlassen, wird der Zusatz »UKR« der Pesel-Nummer durch den Zusatz »NUE« ersetzt, was dem Status eines Ausländers entspricht, der weder Bürger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union noch Familienmitglied eines EU-Bürgers ist. Die Folge davon ist unter anderem, dass kein Zugang zu Sozialleistungen mehr besteht.
In der Praxis sind diesbezüglich vor allem längerfristige Ausreisen aus dem Schengenraum relevant, da in diesem Fall Ein- und Ausreisedaten grundsätzlich vom polnischen Grenzschutz erfasst und weitergegeben werden. Dies bedeutet, dass auch im Falle einer Rückkehr in die Ukraine nach Ablauf eines Monats zwar in der Regel eine Wiedereinreise möglich ist, die spezielle Pesel-Nummer für ukrainische Kriegsflüchtlinge jedoch deaktiviert ist. Der »UKR-Status« kann jedoch wiederhergestellt werden, wenn die betreffende Person erklärt, dass der Aufenthalt außerhalb Polens nicht länger als einen Monat gedauert hat oder kriegerische Auseinandersetzungen ursächlich für die Wiedereinreise waren. Mittels schriftlicher Erklärung kann auch der Verzicht auf die Pesel-Nummer erklärt werden, was die Aufenthaltsgewährung gemäß der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz in einem anderen EU-Staat möglicherweise beschleunigt.
Langfristige Aufenthaltssicherung bereits wenige Monate nach Einreise möglich
Zudem wurde beschlossen, das Aufenthaltsrecht von ukrainischen Staatsbürger*innen, die sich bereits vor dem 24. Februar 2022 in Polen aufgehalten haben – und die damit nicht unter die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz fallen – pauschal bis mindestens zum 31. Dezember 2022 zu verlängern.
Besonders positiv ist hervorzuheben, dass Ukrainer*innen, denen ein Aufenthaltsrecht gemäß der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz gewährt wurde, in Polen bereits neun Monate nach ihrer Einreise ein dreijähriges Aufenthaltsrecht beantragen können – sogar unabhängig davon, ob sie einen Job gefunden haben. Allerdings wird aktuell diskutiert, diesen speziellen Aufenthaltstitel für ukrainische Kriegsflüchtlinge wieder abzuschaffen.
Kaum Perspektiven für ausländische Studierende
Besonders große Aufmerksamkeit richtete sich kurz nach Beginn des Krieges auf den Umgang mit Drittstaatsangehörigen, die sich in der Ukraine aufgehalten hatten und denen die Einreise nach Polen verweigert wurde. In Reaktion auf heftige Kritik an diesem Vorgehen, von dem insbesondere die etwa 60.000 ausländischen Studierenden in der Ukraine betroffen waren, wurde nach kurzer Zeit eine Regelung eingeführt, die vorsieht, dass auch Drittstaatsangehörige nach Polen einreisen dürfen und sich anschließend bis zu 15 Tage legal dort aufhalten können. Eine längerfristige Aufenthaltsgewährung gemäß der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz ist für Drittstaatsangehörigen jedoch nur möglich, wenn sie sich bereits vor dem 24. Februar 2022 mit einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis in der Ukraine aufgehalten haben.
Bei Asylantrag kann Inhaftierung drohen
Ausländische Studierende sind von einer Aufenthaltsgewährung gemäß Richtlinie zum vorübergehenden Schutz somit in aller Regel ausgeschlossen, da sie nur einen befristeten Aufenthaltsstatus in der Ukraine hatten. Für sie und andere Drittstaatsangehörige, die keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine vorweisen können, sind die Aufenthaltsmöglichkeiten in Polen äußerst begrenzt: Ihnen bleibt, wenn sie nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren wollen, in vielen Fällen nur die Option, einen Asylantrag zu stellen. Dabei muss man wissen, dass Asylantragsteller*innen in Polen grundsätzlich Gefahr laufen, inhaftiert zu werden.
Nur Mindeststandards für Drittstaatsangehörige
Für Drittstaatsangehörige, die eine Aufenthaltserlaubnis gemäß der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz beantragen, wurde zudem ein gesondertes Prüfverfahren eingeführt: Im Gegensatz zur Regelung für ukrainische Staatsangehörige ist die polnische Migrationsbehörde für die Prüfung zuständig. Diese prüft dann, ob der/die Antragsteller*in tatsächlich Inhaber*in einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis war und ob die Möglichkeit besteht, sicher in das Herkunftsland zurückzukehren. Falls die polnische Migrationsbehörde ein Aufenthaltsrecht gemäß der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz gewährt, gelten darüber hinaus lediglich die in der EU-Richtlinie definierten Mindeststandards. Konkret bedeutet das, dass zwar unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt besteht, der Zugang zu medizinischer Versorgung und Sozialleitungen jedoch im Vergleich zu ukrainischen Staatsangehörigen deutlich eingeschränkt ist.
Nur wenige Geflüchtete leben in Sammelunterkünften
Nur relativ wenige ukrainische Geflüchtete leben in Polen in Sammelunterkünften. Der stellvertretende Innenminister Paweł Szefernaker äußerte diesbezüglich Anfang Oktober 2022, dass landesweit etwa 80.000 ukrainische Geflüchtete in Sammelunterkünften leben würden, davon etwa 2.000 im Messezentrum in Nadarzyn. Dieses befindet sich vor den Toren Warschaus und galt zeitweilig als das größte Flüchtlingslager Europas. Hauptsächlich dient es der kurzfristigen Versorgung und Unterbringung neu ankommender Geflüchteter, bis diese innerhalb Polens oder in andere EU-Länder weiterreisen. Hierzu wurde eigens ein Busbahnhof eingerichtet, von dem aus jeden Tag etliche kostenfreie Busse in die verschiedensten Länder Europas abfuhren. Mittlerweile fahren von dort jedoch kaum noch Busse ab.
Ähnliches gilt für einen riesigen, ehemaligen Tesco-Supermarkt am Rande von Przemyśl, der nach Ausbruch des Krieges kurzerhand zum Aufnahmelager umfunktioniert wurde. Auch hier reihten sich Tausende Feldbetten aneinander, auf denen sich ukrainische Geflüchtete vor ihrer Weiterreise mit Reisebussen und privaten PKWs ausruhen konnten. Organisiert wurde der Weitertransport nicht zuletzt von freiwilligen Helfer*innen, die aus ganz Europa angereist waren. Nachdem das Aufnahmelager Ende August 2022 für einige Zeit geschlossen wurde, steht es nun unter der Verwaltung des Roten Kreuzes und nur noch wenige große Organisation wie UNICEF oder die IOM haben Zutritt.
Große ukrainische Community und private Aufnahme
Dass in Polen, auch im Vergleich zu den anderen osteuropäischen Staaten, nur relativ wenige Geflüchtete aus der Ukraine in Sammellagern leben, hat mehrere Gründe: Zunächst einmal ist hervorzuheben, dass viele Geflüchtete bei Angehörigen der großen ukrainischen Community untergekommen sind, die bereits vor Ausbruch des Krieges in Polen lebten. Darüber hinaus begegnet die polnische Gesellschaft ukrainischen Geflüchteten bisher mit offenen Armen.
Beeindruckend viele Menschen haben Ukrainer*innen bei sich aufgenommen. Bei einer Telefonumfrage des »Polish Economic Institute«, die zwischen April und Mai 2022 stattfand, gaben ganze sieben Prozent der Befragten an, ukrainische Geflüchtete bei sich untergebracht zu haben. Bei einer Befragung ukrainischer Geflüchteter durch den UNHCR im August 2022 gab jeweils etwa ein Drittel der Befragten an, bei Gastgeber*innen zu wohnen oder selbst Wohnraum angemietet zu haben. Der Rest gab an, entweder in Sammellagern zu leben oder nicht dauerhaft in Polen bleiben zu wollen.
Die große Aufnahmebereitschaft der polnischen Gesellschaft wurde auch dadurch befördert, dass Privathaushalte für die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter einen staatlichen Zuschuss in Höhe von 40 Złoty (etwa 8,50 Euro) pro Tag und aufgenommener Person beantragen konnten. Laut Schätzungen der polnischen Regierung haben von diesem Zuschuss alleine im April 2022 etwa 600.000 Ukrainer*innen profitiert. Mittlerweile wurde dieses Förderprogramm jedoch beendet. Darüber hinaus plant die polnische Regierung, dass sich diejenigen Geflüchteten, die sich länger als vier Monate in Sammelunterkünften aufhalten, zukünftig an der Hälfte der Unterbringungskosten beteiligen müssen. Zudem wird diskutiert, den Zugang zu Sozialleistungen und hier insbesondere zu dem im Vergleich relativ hohen Erziehungsgeld »500+« zu beschränken.
Viele Ukrainer*innen gehen bereits einer Beschäftigung nach
Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, dass es für ukrainische Geflüchtete zukünftig von noch größerer Bedeutung sein wird, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Laut Regierungsangaben haben bis September 2022 400.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge eine Arbeitsstelle in Polen gefunden. Eine durchaus beachtliche Zahl, wenn man bedenkt, dass es sich bei etwa 40 Prozent der aus der Ukraine stammenden Geflüchteten um Minderjährige handelt und weitere sieben Prozent bereits älter als 60 Jahre sind. Dies bedeutet, dass etwa die Hälfte der ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die dem polnischen Arbeitsmarkt grundsätzlich zu Verfügung stehen, bereits einer Beschäftigung nachgehen.
Problematisch ist jedoch, dass viele Jobs im Niedriglohnsektor angesiedelt sind, mit denen der Lebensunterhalt für eine Familie nur schwer bestritten werden kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass vor allem in den Großstädten die Mieten aufgrund der deutlich erhöhten Nachfrage stark gestiegen sind.
Weiterhin ist Kinderbetreuung für viele ukrainische Geflüchtete von elementarer Bedeutung, um überhaupt einer Arbeit nachgehen zu können: Kindergartenplätze sind auch in Polen Mangelware und längst nicht alle ukrainischen Kinder im schulpflichtigen Alter besuchen eine Schule. Im letzten Schuljahr haben etwa 180.000 geflüchtete Kinder am polnischen Schulunterricht teilgenommen, mit 200.000 bis 300.000 weiteren ukrainischen Schüler*innen wird für dieses Schuljahr gerechnet.
Kommende Herausforderungen im Winter
Trotz aller berechtigten Kritik am Umgang Polens mit Drittstaatsangehörigen, die nicht die ukrainische Staatsangehörigkeit haben, hat die große Welle der Solidarität gegenüber ukrainischen Geflüchteten in Polen durchaus Anerkennung verdient. Im Gegensatz zu anderen Nachbarstaaten der Ukraine wie etwa Ungarn ist das Land keineswegs primär ein Transitland für die Weiterreise nach Westen, sondern der mit Abstand wichtigste Aufnahmestaat für Ukrainer*innen innerhalb der EU. Ursächlich dafür ist vor allem, dass es in Polen bereits vor Kriegsausbruch eine große ukrainische Community gab.
Ob die Welle der Solidarität auch in den kommenden Monaten Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. Denn es zeigt sich bereits jetzt, dass zunehmend weniger Bereitschaft besteht, ukrainische Geflüchtete, die nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt in Polen eigenständig durch Erwerbstätigkeit zu sichern, dauerhaft zu unterstützen.
Dies gibt Anlass zur Sorge: Vieles spricht dafür, dass im Winter angesichts der zunehmenden Zerstörung der Infrastruktur in der Ukraine erneut viele Menschen aus der Ukraine flüchten müssen. Darunter könnten auch zahlreiche Menschen aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen sein, die sich nicht leicht in den polnischen Arbeitsmarkt integrieren lassen, sondern dringend auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Es bleibt zu hoffen, dass die polnische Gesellschaft auch diesen Menschen gegenüber aufnahmebereit bleibt.
Marc Speer (bordermonitoring.eu)
Marc Speer berichtet im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situation von Geflüchteten aus der Ukraine in den Nachbarstaaten der Ukraine.