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Ukrainische Kriegsflüchtlinge in Moldau: Zwischen Solidarität und Weiterreise
Seit Kriegsbeginn ist fast eine halbe Million Ukrainer*innen in die angrenzende Republik Moldau geflohen. Auch wenn die meisten Schutzsuchenden weiter in die EU fliehen, steht Moldau, das als ärmstes Land Europas gilt, dennoch vor immensen Herausforderungen und ist dringend auf die Solidarität der EU-Staaten angewiesen.
Der Staat Moldau existiert seit 1991, als sich die ehemalige Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik für unabhängig erklärt hatte. In Moldau leben aktuell 2,6 Millionen Menschen. Fast eine Million Menschen ist in den letzten zehn Jahren aufgrund der wirtschaftlich angespannten Situation ausgewandert. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag im Jahr 2020 bei knapp unter 4.400 US-Dollar und erreichte damit nur etwa ein Zehntel des deutschen Wertes. Mehr als ein Viertel der moldauischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Die politische Situation ist seit Langem durch den Konflikt um die Region Transnistrien gekennzeichnet, die sich bereits kurz nach der Unabhängigkeit Moldaus abgespalten hatte. Seitdem existiert Transnistrien als ein nach Russland orientierter de-facto Staat, der allerdings von keinem Land der Welt anerkannt wurde, auch nicht von Russland. Dennoch sind in Transnistrien etwa 2.000 russische Soldat*innen stationiert. Zudem befindet sich dort ein großes Munitionslager.
Moldau im Spannungsfeld zwischen Russland und der EU
Ende April 2022 gab es in Transnistrien Anschläge auf ein Regierungsgebäude, zwei Funkmasten und eine Kaserne. Die Urheber*innen sind bisher unbekannt. Die Anschläge verschärften die Angst vor einem russischen Angriff auf Moldau, wobei auch ein innenpolitischer Konflikt zwischen dem russlandfreundlichen Ex-Präsidenten, Igor Dodon, und der amtierenden, EU-orientierten, Präsidentin Maia Sandu eine Rolle spielt. Igor Dodon wurde im Mai 2022 unter Hausarrest gestellt. Seine Anhänger*innen riefen in der Folge zu Demonstrationen auf.
Die gesellschaftliche Spaltung des Landes, der Konflikt um Transnistrien und die dort stationierten russischen Soldat*innen erklären die Nervosität, mit der die moldauische Regierung umgehend auf den Angriff Russlands auf die Ukraine reagierte: Bereits am 24. Februar 2022 schloss Moldau seinen Luftraum (der zwischenzeitlich wieder geöffnet wurde) und verhängte den Ausnahmezustand, der unter anderem Sonderregelungen für die Ein- und Ausreise und den Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine ermöglicht. Weiterhin stellte das Land, wie die Ukraine, einen formellen Antrag zur Aufnahme in die EU.
Seit Kriegsbeginn reiste fast eine halbe Million Ukrainer*innen ein
An der über 1.200 Kilometer langen Grenze zwischen Moldau und der Ukraine existieren zahlreiche Grenzübergänge. Laut Angaben der moldauischen Regierung sind im Zeitraum vom 24. Februar 2022 bis zum 23. Mai 2022 über 430.000 ukrainische Staatsangehörige nach Moldau gekommen, von denen knapp 270.00 nach Rumänien weitergereist sind. Etwa 70.000 Menschen kehrten mittlerweile in die Ukraine zurück. Ungefähr 80.000 Ukrainer*innen sind in Moldau geblieben. Zu Beginn des Kriegs reisten täglich mehrere Tausend Ukrainer*innen, der Großteil davon Frauen und Kinder, nach Moldau ein. Auch ausländische Studierende konnten nach Ausbruch des Krieges nach Moldau einreisen. Mitte Juni 2022 werden etwa 1.000 Einreisen pro Tag registriert.
Für die Einreise ukrainischer Geflüchteter sind insbesondere die kleinen Orte Otaci im Norden und Palanca im östlichsten Teil des Landes relevant. Palanca ist dabei wegen der Nähe zu Odessa, das gerade einmal 60 Kilometer entfernt liegt, von herausragender Bedeutung: Etwa 150.000 Menschen haben hier allein in den ersten zwei Monaten des Krieges die Grenze überquert. Wie viele Ukrainer*innen nach Transnistrien eingereist sind, lässt sich nur schätzen: Einem Team der UN wurde bei einem Besuch der Region am 6. April 2022 mitgeteilt, dass sich insgesamt 8.000 Geflüchtete in Transnistrien aufhalten würden.
Ukrainische Grenzbeamt*innen auf moldauischem Staatsgebiet
Eine Besonderheit des Grenzübergangs bei Palanca ist, dass er sich einige Kilometer innerhalb des moldauischen Staatsgebietes an der Abzweigung einer Schnellstraße befindet, die Eigentum der Ukraine ist, obwohl sie auf moldauischem Staatsgebiet verläuft. Die Straße verbindet das ukrainische Staatsgebiet mit einem kleinen südlich von Moldau gelegenen Landesteil. Dies bringt mit sich, dass die ukrainischen Grenzbeamt*innen innerhalb des moldauischen Staatsgebietes tätig sind.
In den ersten Tagen des Krieges führte diese komplexe Grenzsituation dazu, dass ukrainische Grenzbeamt*innen das Ausreiseverbot für ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren nur schwer durchsetzen konnten. Mittlerweile ist die Ausreise für ukrainische Männer wegen der Straßensperren auf ukrainischem Gebiet jedoch nicht mehr möglich, sie können nur noch informell über die Grüne Grenze nach Moldau einreisen. Gelingt ihnen das, werden sie – zumindest bisher – nicht in die Ukraine abgeschoben und können auch einen Asylantrag stellen.
Einreise für Ukrainer*innen gut organisiert
Ausreiseberechtigte Ukrainer*innen können den Grenzübergang bei Palanca entweder mit dem eigenen Auto oder zu Fuß überqueren. Wer ohne eigenen Wagen kommt, wird in der Regel mit Bussen direkt an Grenzübergang gebracht. Nach dem Passieren des moldauischen Grenzpostens werden die Geflüchteten innerhalb kürzester Zeit in kostenlosen Kleinbussen zu einem improvisierten Busbahnhof gebracht, der nur wenige Kilometer entfernt am Rand von Palanca gebaut wurde.
Hier befindet sich auch einer der insgesamt sieben sogenannten »Blue Dots«, die zwischenzeitlich in Moldau etabliert wurden. Diese werden von UNICEF und dem UNHCR zusammen mit lokalen Behörden und Partnerorganisationen betrieben und sind in den Nachbarstaaten der Ukraine mittlerweile an nahezu allen wichtigen Knotenpunkten der Ein- und Weiterreise zu finden. In den »Blue Dots« werden die ukrainischen Kriegsflüchtlinge nicht nur materiell versorgt, sondern erhalten bei Bedarf auch eine erste psychologische und rechtliche Beratung, wobei ein besonderer Fokus auf der Hilfe für gefährdete Frauen und Kinder liegt. Zudem können sich ukrainische Geflüchtete in Palanca über die konkreten Umstände eines weiteren Aufenthalts in Moldau und über die umgehende Weiterreise nach Rumänien informieren. Weiterhin wurde vor Ort ein großes Zeltlager errichtet, das aufgrund der effizienten Weiterreiseoptionen bisher allerdings kaum genutzt wird.
Weiterreise in die EU bisher leicht möglich
Kostenlose Reisebusse bringen die Geflüchteten aus Palanca entweder in die moldauische Hauptstadt Chișinău, wo auf dem Messegelände ebenfalls ein »Blue Dot« eingerichtet wurde, oder direkt nach Rumänien. Dort wurde in der Grenzstadt Huși ein weiteres Zeltlager aufgebaut. Möglich macht die schnelle Weiterreise per Bus die Initiative »Green Corridor« der moldauischen und der rumänischen Regierung , an der auch der UNHCR und die IOM beteiligt sind. Bis zum 24. Mai 2022 reisten nach Angaben der IOM knapp über 10.000 ukrainische Geflüchtete über den Korridor direkt von Palanca nach Rumänien weiter.
Zudem wurde Moldau, auf Initiative der deutschen Regierung, Anfang April 2022 zugesichert, 12.000 Ukrainer*innen mit Direktflügen in EU-Staaten auszufliegen. Bis Ende Mai fanden 29 Flüge im Rahmen der Luftbrücke statt, die meisten davon nach Österreich und Deutschland. Bis Mitte Mai wurden etwas mehr als 1.000 Ukrainer*innen ausgeflogen.
Diese Zahl ist im Vergleich zu denjenigen, die Moldau über den »Green Corridor« oder selbstorganisiert verlassen haben, augenscheinlich relativ gering. Das dürfte vor allem daran liegen, dass die Ausreise über die Luftbrücke für die Betroffenen mit einem zeitaufwendigen bürokratischen Prozess verbunden ist. Eigenständig oder mit Bussen des »Green Corridor« weiterzureisen, geht in der Praxis einfach wesentlich schneller. Daher ist die Luftbrücke der EU-Staaten vor allem für Menschen eine wichtige Option, die einen besonderen Schutzbedarf haben oder nicht in der Lage sind, ihre Weiterreise selbst zu bewältigen. Sowohl der »Green Corridor« als auch die Luftbrücke der EU-Staaten zeigen, dass Geflüchteten relativ schnell und pragmatisch die Weiterreise in die EU ermöglicht werden kann – wenn der politische Wille vorhanden ist.
Große Welle der Solidarität auch in Moldau
Innerhalb der moldauischen Gesellschaft ließ sich eine große Welle der Hilfsbereitschaft mit den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine beobachten: Neben der direkten Unterstützung nach der Ankunft und bei der Weiterreise öffneten auch in Moldau viele Menschen ihre Türen, um ukrainische Geflüchtete aufzunehmen. Schätzungsweise 15.000 Familien haben ukrainische Geflüchtete bei sich aufgenommen. Sogar ein luxuriöses Weingut in der Nähe von Palanca brachte kurzerhand ukrainische Geflüchtete unter. Zudem existieren etwa 90 staatliche Aufnahmezentren, die sich über das ganze Land verteilen und eine Kapazität von insgesamt etwa 7.500 Plätzen haben. Gegenwärtig sind diese Plätze nur zur Hälfte belegt.
Grundsätzlich dürfen sich ukrainische Staatsangehörige bis zu 90 Tagen ohne spezielle Erlaubnis in Moldau aufhalten, wobei davon auszugehen ist, dass diese Frist vor dem Hintergrund der Verlängerung des Ausnahmezustandes zwischenzeitlich verlängert beziehungsweise aufgehoben wurde. Da Moldau kein EU-Mitglied ist, gilt die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz (auch »Massenzustromsrichtlinie« genannt) dort nicht. Ukrainischen Geflüchteten bleibt somit nur, einen Asylantrag beim »Asylum and Integration Directorate« zu stellen, welches über die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus oder eines humanitären Schutzstatus entscheidet.
Sprunghafter Anstieg der Asylanträge
Laut Angaben der moldauischen Regierung wurden bis zum 23. Mai 2022 insgesamt 7.573 Asylanträge gestellt. Zum Vergleich: Im Gesamtjahr 2020 wurden gerade einmal 86 Asylanträge in Moldau gestellt. In rechtlicher Hinsicht haben anerkannte Flüchtlinge und die mit humanitärem Schutzstatus nahezu dieselben Rechte wie moldauische Staatsangehörige, was etwa den Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Gesundheitsversorgung angeht. Wie viele Ukrainer*innen bisher tatsächlich einen Schutzstatus erhalten haben, ist nicht bekannt.
Als finanzielle Unterstützung können ukrainische Familien oder besonders schutzbedürftige Personen unabhängig davon, ob sie einen Asylantrag gestellt haben, eine monatliche Zahlung von 110 Euro pro Person beantragen. Alleinreisende Personen ohne besonderen Schutzbedarf erhalten keine finanzielle Unterstützung. Die monatliche Zahlung wird vom UNHCR auf eine Prepaid-Karte ausgezahlt, die ausschließlich in Moldau verwendet werden kann. Weiterhin können Haushalte, die mindestens zwei ukrainische Geflüchtete bei sich aufgenommen haben, zwei Zuschüsse von jeweils 170 Euro beantragen, die vom »UN World Food Programme« ausgezahlt werden. Bis Mai 2022 haben 55.000 ukrainische Geflüchtete und 10.500 Aufnahmefamilien Leistungen erhalten.
Internationale Unterstützung bei Gesundheitsversorgung
Die Gesundheitsversorgung in Moldau ist sowohl für Moldauer*innen als auch für ukrainische Geflüchtete problematisch, das staatliche Gesundheitssystem gilt als schwach. Die WHO entsandte daher sechs »Emergency Medical Teams« nach Moldau. Weitere 14 Teams können bei Bedarf aktiviert werden. Auch andere Organisationen, wie etwa Ärzte ohne Grenzen, schickten medizinische Teams nach Moldau. Finanzielle Unterstützung erhält die moldauische Gesundheitsbehörde seit Mitte April zudem vom »United Nations Populations Fund«. Mit diesen Mitteln soll sichergestellt werden, dass ukrainische Frauen medizinische Versorgung hinsichtlich Familienplanung, Schwangerschaft und Geburt nicht nur im Notfall erhalten und sich auf Gebärmutterhalskrebs testen lassen können.
Äußerst problematisch ist, dass ukrainische Kinder zwar Kindergärten und Grundschulen besuchen können, nicht jedoch weiterführende Schulen. Stattdessen werden sie auf Online-Unterricht aus der Ukraine verwiesen.
Zudem wies Human Rights Watch vor Kurzem auf den diskriminierenden Umgang der moldauischen Behörden mit Rom*nja hin, die aus der Ukraine geflüchtet sind: In dem Bericht kritisierte Human Rights Watch besonders, dass Rom*nja in einem speziellen Aufnahmezentrum getrennt von anderen Geflüchteten aus der Ukraine untergebracht werden, in dem die Bedingungen weitaus schlechter seien.
Entwicklungen in Moldau sind untrennbar mit Odessa verknüpft
Dass sich der moldauische Staat entschieden hat, ungeachtet der ökonomisch und politisch schwierigen Lage des kleinen Landes die Grenzen für Geflüchtete aus der Ukraine offen zu halten, ist trotz aller Defizite positiv zu bewerten. Dabei ist vor allem das Engagement der lokalen Zivilgesellschaft von herausragender Bedeutung. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass Moldau trotz des Engagements diverser internationaler Organisationen kaum in der Lage gewesen wäre, eine halbe Million Ukrainer*innen dauerhaft aufzunehmen und adäquat zu versorgen. Die Möglichkeit der unkomplizierten Weiterreise in EU-Staaten ist daher elementar.
Wie sich die Situation in Moldau entwickeln wird, hängt untrennbar vom weiteren Verlauf des Krieges ab.
Diesen Korridor auch weiterhin offen zu halten, liegt dabei nicht nur im Interesse Moldaus, sondern auch der EU, die wenig Interesse an einer sich zuspitzenden Situation in Moldau haben dürfte. Dabei sollte auch bedacht werden, dass sich eine durchaus beachtliche Zahl von Ukrainer*innen dazu entschieden hat, in Moldau zu bleiben oder in die Ukraine zurückzukehren.
Wie sich die Situation in Moldau entwickeln wird, hängt untrennbar vom weiteren Verlauf des Krieges ab: Sollte das Gebiet um Odessa, so wie vielfach befürchtet, tatsächlich zum Kriegsgebiet werden, ist damit zu rechnen, dass innerhalb kürzester Zeit Hunderttausende Menschen nach Moldau fliehen werden. Dies wiederum brächte gänzlich neue Herausforderungen nicht nur für Moldau, sondern auch für die EU mit sich.
Marc Speer (bordermonitoring.eu)
Marc Speer berichtet im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situation von ukrainischen Geflüchteten in den Nachbarstaaten der Ukraine.