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Rumänien: Über die »Spielzeugbrücke« nach Europa

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist Rumänien zu einem wichtigen Drehkreuz für ukrainische Kriegsflüchtlinge geworden. Die Hilfsbereitschaft ist groß, jedoch kaum auf eine dauerhafte Integration der Geflüchteten ausgelegt. Die meisten Ukrainer*innen verlassen das Land deswegen schnell wieder.
Es herrscht geschäftiges Treiben am Bahnhof von Bukarest. Freiwillige in Warnwesten sind unterwegs und lotsen ankommende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in verschiedene Wartebereiche, in denen Kinder in eigens eingerichteten Spielecken spielen. Daneben essen die Erwachsenen hastig von den bereitgestellten Lebensmitteln. Seit Kriegsausbruch ist der Bahnhof ein zentrales Drehkreuz für die Flucht aus der Ukraine geworden und nach wie vor kommen hier jeden Tag Hunderte Menschen an. Die vor allem von Freiwilligen bereitgestellte Infrastruktur ist beeindruckend (siehe auch das Interview mit dem ehrenamtlichen Helfer Teodor Nemțeanu.)
Rumänien und die Ukraine verbindet eine über 600 Kilometer lange Grenze. Im Norden Rumäniens existieren drei große Grenzübergänge. Der nur 40 Kilometer von der ukrainischen Großstadt Czernowitz entfernte Grenzübergang in Siret ist der mit Abstand bedeutsamste für die Einreise von Geflüchteten aus der Ukraine. Neben Siret gibt es noch Grenzübergänge in Halmeu und in Sighetu Marmației.
Eine Brücke voller Kuscheltiere
Sighetu Marmației ist mittlerweile bekannt für seine »Spielzeugbrücke«: Auf der historischen Holzbrücke über den Fluss Theiß, die Sighetu Marmației mit der Ukraine verbindet, sitzen unzählige gespendete Plüschtiere, um den ankommenden Kindern etwas Trost zu spenden. Exemplarisch steht die Bücke damit auch für die Offenheit und Solidarität gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine, die sich seit Kriegsbeginn in ganz Rumänien beobachten lässt.
Eine Besonderheit stellt der im Donaudelta gelegene Grenzübergang bei Isaccea dar. Eine Einreise aus der Ukraine ist hier ausschließlich mit der Fähre möglich. Es sind vor allem Geflüchtete aus der umkämpften Südukraine, die hier nach Rumänien einreisen. In den ersten Tagen nach Ausbruch des Krieges kam es hier zu Situationen, die stark an überfüllte Flüchtlingsboote im Mittelmeer erinnern.
Eine weitere wichtige Fluchtroute nach Rumänien führt über die Republik Moldau, die auf einer Länge von fast 700 Kilometern an Westrumänien grenzt und ansonsten von der Ukraine umschlossen ist. Wie schon im Juni berichtet, ist die Weiterreise von Moldau nach Rumänien in der Regel unproblematisch und wird von den Regierungen beider Staaten sowie der EU und dem UNHCR sogar aktiv gefördert.
Tödliche Flucht über die »Grüne Grenze«
Da die ukrainische Regierung seit Kriegsbeginn Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise nur noch in Ausnahmefällen erlaubt, ist die »Grüne Grenze« zwischen der Ukraine und Rumänien zu einem Schauplatz für den informellen Grenzübertritt geworden. Regelmäßig werden dort aus der Ukraine geflüchtete Männer von der rumänischen Grenzpolizei aufgegriffen, die anschließend Schutz in Rumänien beantragen können.
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Temporärer Schutz in Rumänien
Neben ukrainischen Staatsangehörigen können auch Drittstaatsangehörige, die in der Ukraine Schutz erhalten haben oder eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis hatten und nicht sicher in ihren Herkunftsstaat zurückkehren können, temporären Schutz gemäß der sogenannten Massenzustromrichtlinie für zunächst ein Jahr beantragen. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die nicht unter diese Kriterien fallen, aber zumindest im Besitz eines gültigen Passes sind, erhalten ein drei Monate gültiges Transitvisum.
Seit Kriegsausbruch bis Ende Juli haben knapp über 50.000 Personen temporären Schutz in Rumänien erhalten, darunter auch etwas mehr als 600 Drittstaatsangehörige. Über 80 Prozent der Menschen, die in Rumänien temporären Schutz erhalten, sind Frauen und Kinder. Mit Abstand die meisten Aufenthaltserlaubnisse wurden in Bukarest ausgestellt. Danach folgen die Regionen, in denen sich größere Städte befinden. Daraus lässt sich schließen, dass die Mehrheit der Kriegsflüchtlinge in urbanen Zentren untergekommen ist.
Vor Beginn des Krieges nur wenige Geflüchtete in Rumänien
Bis zum Ausbruch des Krieges in der Ukraine kamen nur wenige Geflüchtete nach Rumänien. Dies liegt auch daran, dass die rumänische Regierung auf einen plötzlichen Anstieg der irregulären Einreisen an der Grenze zu Serbien so reagierte, wie dies mittlerweile viele EU-Staaten machen: Seitdem Anfang des Jahres 2020 zunehmend vor allem afghanische Geflüchtete aus Serbien über die »Grüne Grenze« nach Rumänien kamen, sind auch an dieser Grenze brutale und völkerrechtswidrige Push-Backs zur gängigen Praxis geworden. Mittlerweile schaffen es kaum noch Geflüchtete über die Balkanroute nach Rumänien.
Im Gegensatz dazu können Geflüchtete aus der Ukraine in der Regel problemlos nach Rumänien einreisen. Dies gilt nicht nur für ukrainische Staatsangehörige, sondern auch für Drittstaatsangehörige, die sich zuvor in der Ukraine aufgehalten haben. Seit Kriegsbeginn bis Ende Juli sind etwa 1,5 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine nach Rumänien geflohen, davon etwa zwei Drittel direkt aus der Ukraine und ein Drittel über die Republik Moldau. Seit April bewegt sich die Zahl der täglichen Einreisen auf relativ einheitlichem Niveau: Etwa 5.000 Ukrainer*innen kommen täglich direkt aus der Ukraine nach Rumänen, weitere 1.000 Ukrainer*innen reisen über Moldau nach Rumänien ein. Kurz nach Kriegsausbruch wurden bis zu 30.000 Einreisen pro Tag verzeichnet.
Nur wenige bleiben in Rumänien
Nur wenige Geflüchtete jedoch bleiben dauerhaft in Rumänien. Bisher haben gerade einmal 50.000 Menschen den temporären Schutz gemäß der sogenannten Massenzustromrichtlinie beantragt. Die überwiegende Mehrheit der Ukrainer*innen verlässt Rumänien schnell wieder – entweder über Ungarn in westeuropäische Staaten oder nach Bulgarien und in die Türkei.
Zudem entscheidet sich eine beträchtliche Zahl von Ukrainer*innen, aus der EU in die Ukraine zurückzukehren. Das ist mittlerweile auch an den rumänischen Grenzübergängen zur Ukraine beziehungsweise zu Moldau spürbar, die täglichen Aus- und Einreisen halten sich schon seit längerem in etwa die Waage.
Enge Kooperation mit dem UNHCR
Innerhalb Rumäniens können ukrainische Staatsangehörige kostenlos mit dem Zug fahren, und der Bukarester Nordbahnhof entwickelte sich schnell zu einem wichtigen Drehkreuz für die Weiterreise. Es verkehren Direktzüge nach Wien und Budapest, für die ukrainische Staatsangehörige kostenfreie Tickets erhalten können. Zudem existiert eine kostenpflichtige Zugverbindung nach Sofia, und es halten regelmäßig aus Odessa kommende Busse kommerzieller Anbieter am Bahnhof. Inzwischen hat sich dort eine beeindruckende Hilfsstruktur etabliert, die von Ehrenamtlichen und großen Organisationen wie dem Roten Kreuz und Save the Children getragen wird.
Anfänglich waren es vor allem freiwillige Helfer*innen, die die Geflüchteten an den Grenzübergängen versorgten, eine Unterkunft organisierten oder bei der Weiterreise halfen. Es dauerte, bis auch der rumänische Staat und hier insbesondere das im Innenministerium angesiedelte Department for Emergency Situations aktiv wurde. Dabei setzt die rumänische Regierung auf eine im Vergleich zu den Nachbarstaaten enge Kooperation mit dem UNHCR und diversen NGOs.
So hat der UNHCR sein Personal vor Ort seit Kriegsbeginn von zehn auf 80 Mitarbeiter*innen erhöht, die in unterschiedlichen Arbeitsgruppen organisiert sind und gemeinsam mit UNICEF auch zwölf Blue Dots in den großen Städten Rumäniens und an den Grenzübergängen betreiben. Die Blue Dots sind erste Anlaufstellen und sichere Orte für besonders schutzbedürftige Gruppen, wie beispielsweise Familien mit Kindern.
Mehr als 1.000 Notunterkünfte in ganz Rumänien
Nach Ausbruch des Krieges gab es auch in Rumänien eine Welle der Hilfsbereitschaft. Viele Rumän*innen nahmen Ukrainer*innen bei sich auf. Mittlerweile steht eine offizielle Vermittlungsplattform zur Verfügung. Privatpersonen, die ukrainische Geflüchtete bei sich aufnehmen, können für jede aufgenommene Person einen staatlichen Zuschuss von etwa vier Euro pro Tag zur Deckung der Verpflegungskosten beantragen. Der Jesuit Refugee Service berichtete allerdings, dass es in der Praxis oft zu Problemen bei der Auszahlung kommt und der Zuschuss möglicherweise als Einkommen zu versteuern ist.
Darüber hinaus wurden über 1.300 Notunterkünfte eingerichtet, die sich über das ganze Land verteilen. Ende Juni standen dort insgesamt über 50.000 Plätze zur Verfügung, die lediglich zu 17 Prozent belegt waren.
Nur wenige ukrainische Kinder gehen zur Schule
Der temporäre Schutz gilt zunächst für ein Jahr und berechtigt auch zur Arbeitsaufnahme. Weiterhin haben Inhaber*innen des temporären Schutzes denselben Zugang zu Gesundheitsversorgung wie rumänische Staatsangehörige, die versichert sind. Dies gilt auch dann, wenn sie keine Beiträge zur Krankenkasse leisten. Minderjährige sind darüber hinaus berechtigt, Kindergärten beziehungsweise Schulen zu besuchen.
Studierende können ihr Studium in Rumänien fortsetzten, wenn sie einen Studienplatz finden. Im Juli waren jedoch nur gut 2.500 ukrainische Kinder in rumänischen Schulen eingeschrieben, obwohl fast achtmal so viele Minderjährige temporären Schutz in Rumänien erhalten haben.
Finanzielle Unterstützung für maximal drei Monate
Die reguläre Sozialhilfe ist in Rumänien extrem niedrig. Eine Einzelperson erhält nicht einmal 30 Euro pro Monat. Zudem müssen eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein, die es Geflüchteten sehr schwer machen, überhaupt Zugang zu Sozialhilfe zu bekommen. Das gilt auch für das Kindergeld, das ab einem Kindesalter von zwei Jahren gerade einmal 40 Euro beträgt.
Vor diesem Hintergrund ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass der UNHCR ein Programm zur finanziellen Unterstützung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Rumänien eingeführt hat. Ausgezahlt werden monatlich 115 Euro pro Person – unabhängig davon, ob jemand bereits temporären Schutz erhalten hat oder nicht. Allerdings ist der Bezugszeitraum auf maximal drei Monate begrenzt.
Antragsberechtigt sind neben ukrainischen Staatsangehörigen auch Drittstaatsangehörige, die aus der Ukraine nach Rumänien geflohen sind. Die Unterstützung kann von Familien und Alleinerziehenden mit mindestens einem minderjährigen Kind beantragt werden. Darüber hinaus gibt es weitere Kriterien wie Schwangerschaft und schwere Krankheit, die zur Antragstellung berechtigen. Auch alleinstehende Frauen sind antragsberechtigt. Von Beginn des Krieges bis Ende Juli haben etwa 11.000 Personen Leistungen aus dem UNHCR-Programm erhalten.
Nicht mehr als der Notfallmodus
Trotz der großen Solidarität, die die rumänische Gesellschaft gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine bisher gezeigt hat, haben sich bisher nur wenige Ukrainer*innen dazu entschieden, dauerhaft in Rumänien zu bleiben. Nachvollziehbar wird das, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die verfügbaren Hilfsangebote in der Regel nicht auf Dauer ausgelegt sind, sondern eine im Krisenmodus operierende, zeitlich begrenzte Soforthilfe darstellen.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Rumänien zu den ärmsten Ländern Europas zählt und das Sozialsystem des Landes kaum in der Lage ist, ein Leben in Würde zu gewährleisten. Wer keine Arbeit oder Ersparnisse hat und auch nicht die Hilfe von Familie, Freund*innen oder Bekannten in Anspruch nehmen kann, dem droht ein Leben unterhalb des Existenzminimums.
Zielgerichtete Unterstützung notwendig
Die erfolgreiche Integration von Geflüchteten in die Gesellschaft ist ein langfristiger Prozess, der mehr voraussetzt als ein Bett in einer Notunterkunft, die Ausgabe von Essens- und Sachspenden und eine auf drei Monate begrenzte finanzielle Unterstützung. Wichtig wären vor allem Sprachkurse, die fachkundige Begleitung bei der Arbeitsplatzsuche und eine funktionierende Kinderbetreuung.
Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, können sich Ukrainer*innen, die dauerhaft in Rumänien bleiben möchten, dort auch eine Zukunft aufbauen. Es wird nicht zuletzt an der EU liegen, durch eine zielgerichtete Mittelvergabe dazu beizutragen, dass Rumänien von einem Land des Transits zu einer echten Aufnahmegesellschaft wird.
Marc Speer (bordermonitoring.eu)
Marc Speer berichtet im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situation von ukrainischen Geflüchteten in den Nachbarstaaten der Ukraine.