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»Es war unglaublich, so viele Leute haben ihre Hilfe angeboten«
Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine sind mehr als 1,5 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Rumänien geflohen. Am Bahnhof in Bukarest kümmern sich seit Monaten freiwillige Helfer*innen um Ruhezonen, eine erste Versorgung mit Nahrung und Windeln sowie die Weiterreise der Geflüchteten. Teodor Nemțeanu ist von Beginn an dabei.
Kannst du kurz beschreiben, wie dein Engagement am Bukarester Nordbahnhof begonnen hat?
In der Nacht auf den 26. Februar, kurz nach Ausbruch des Krieges, war ich am Bahnhof, um Obdachlose zu versorgen. Ich bin ausgebildeter Sanitäter und fahre mit meiner Ambulanz seit drei Jahren regelmäßig zum Bahnhof. Ich mache das ehrenamtlich, vor allem nachts. Um vier Uhr morgens wollte ich eigentlich schon nach Hause fahren. Dann kamen die Leute vom städtischen Sozialdienst und fragen mich, ob ich nicht noch eine Stunde länger bleiben kann. Sie sagten, in der Ukraine sei Krieg ausgebrochen und bald würden die ersten Geflüchteten am Bahnhof ankommen. Bis dahin hatte ich den Kriegsausbruch gar nicht richtig mitbekommen.
Was passierte dann?
Um kurz nach fünf Uhr kam der erste Zug an. Aus ihm stiegen 45 Geflüchtete aus. Im nächsten Zug saßen dann schon 100, im dritten Zug 400 Menschen. Fast nur Frauen und Kinder. Alle hatten große Angst, viele haben geweint. Plötzlich waren sie in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht verstanden haben. Im ersten Zug waren gerade einmal zwei Frauen, die Englisch sprechen konnten. Und von uns konnte niemand russisch oder ukrainisch sprechen. Deswegen haben wir die Kriegsflüchtlinge zunächst mit Zeichensprache in den Warteraum für Passagiere der zweiten Klasse geleitet.
Wie wurden die Geflüchteten versorgt?
Es hat nicht lange gedauert, bis Restaurants und Hotels Essen vorbeigebracht haben. Mobilfunkanbieter haben kostenlose Sim-Karten verteilt. Das war sehr wichtig, damit die Frauen ihre Ehemänner in der Ukraine kontaktieren können. Auch ganz normale Bürger*innen sind mit Nahrungsmitteln vorbeigekommen, die sie extra gekauft hatten. Es war unglaublich. So viele Leute sind gekommen und haben ihre Hilfe angeboten. In den ersten Wochen wurden die Menschen ausschließlich durch private Spenden versorgt. Von der Stadt, dem Staat oder den großen Organisationen kam fast nichts, obwohl permanent Züge mit Geflüchteten angekommen sind. Es gab Züge, aus denen mehr als 1.000 Geflüchtete gestiegen sind. Einen Monat lang habe ich den Bahnhof fast nicht mehr verlassen. Ich habe in meinem Ambulanzwagen geschlafen, der am Bahnhof geparkt war.
Wie konnte das Verständigungsproblem gelöst werden?
In Bukarest gibt es viele Studierende aus Moldau, die russisch sprechen können und zum Bahnhof gekommen sind, um ihre Hilfe anzubieten. In der ersten Zeit waren es vor allem die Studierenden, die die Verständigung ermöglicht haben. Später sind dann auch Geflüchtete aus der Ukraine dazu gekommen, die in Bukarest geblieben sind und jetzt beim Übersetzen helfen.
»Ich glaube, dass die Hilfe durch staatliche und städtische Stellen immer weniger werden wird. Wir wollen auf alle Fälle weitermachen.«
Kannst du noch was zu den verschiedenen Bereichen für die Geflüchteten sagen, die am Bahnhof eingerichtet wurden?
Ganz am Anfang gab es nur den Warteraum für Passagiere der zweiten Klasse, der zu einem Aufenthaltsraum ausschließlich für Geflüchtete umfunktioniert wurde. Ich kenne viele Club- und Barbesitzer, weil ich lange in diesem Bereich gearbeitet habe. Vor dort haben wir innerhalb kürzester Zeit Dinge wie Heizungen, Kaffeemaschinen und Kabel bekommen, um den Raum auszustatten. Eines Nachts, Anfang März, war dieser Raum vollkommen überfüllt und es sind immer mehr Leute gekommen. Ich habe dann die Tür zu einem leerstehenden Schnellrestaurant direkt daneben aufgebrochen. Dieser Raum wird von uns bis heute als Aufenthaltsraum für Mütter mit kleinen Kindern genutzt. Wir verteilen dort auch Getränke, Lebensmittel, Babynahrung, Windeln und Hygieneartikel. Es gibt noch einen weiteren Aufenthaltsraum für Familien mit Kindern, der von Save the Children und dem Roten Kreuz betrieben wird. Davor war dies der Warteraum für Passagiere der ersten Klasse.
Was hat es mit dem besonderen Bereich für Schwangere und Frauen mit Babys in eurem Raum auf sich?
Dieser Bereich ist im ersten Stock und ausschließlich für schwangere Frauen und Frauen mit Babys zugänglich. Viele sind tagelang unterwegs gewesen, extrem erschöpft und konnten sich lange nicht waschen. Deswegen haben wir diesen geschützten Bereich eingerichtet. Es gibt dort zwei Toiletten, eine Dusche, eine Waschmaschine und eine Wickelkommode. Es ist unglaublich wichtig, dass sich die Frauen und die Babys waschen und ein paar Stunden ausruhen können, nachdem sie in Bukarest ankommen sind.
Wie geht es weiter mit den Geflüchteten, die am Bukarester Bahnhof ankommen?
Diejenigen, die in Bukarest bleiben wollen, werden von der Feuerwehr in Notunterkünfte gebracht. Viele wollen jedoch schnell weiter. Nach Italien, nach Spanien, nach Deutschland, in alle möglichen Länder. Aus Bukarest verkehren Direktzüge nach Wien, Budapest und Sofia. Von dort aus können sie dann weiter fahren. Die Tickets für die Züge nach Budapest und Wien sind umsonst. Wir helfen ihnen dabei, das richtige Ticket zu bekommen und bringen sie oft auch zum Zug.
Was erwartest du von der Zukunft?
Ich glaube, dass die Hilfe durch staatliche und städtische Stellen immer weniger werden wird. Wir wollen auf alle Fälle weitermachen. Dafür ist es natürlich wichtig, dass wir einen Raum haben. Wie lange wir noch in unserem Raum bleiben können, ist allerdings unklar. Es kann sein, dass der bald wieder vermietet werden soll. Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass wir den Raum offiziell anmieten.
Das Interview führte Marc Speer, der im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situation von ukrainischen Geflüchteten in den Nachbarstaaten der Ukraine berichtet, zum Beispiel auch über die Lage in Rumänien.