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Suizid in Abschiebungshaft: Fehlverhalten bleibt ungesühnt
Wegen "Geringfügigkeit der Schuld" hat das Landgericht Frankfurt das Verfahren gegen den Psychiater Heinrich W. eingestellt. Heinrich W. hatte Mustafa Alcali vor seinem Suizid in Abschiebungshaft für gesund und abschiebungstauglich befunden. Das Fehlverhalten des Arztes bleibt ungesühnt.
Wenn die Verantwortungslosigkeit ganz große Ausmaße annimmt, weil sie in einer bürokratischen Struktur auf ganz viele Figuren aufgeteilt ist, dann macht sie sich am Ende ungreifbar. Da gibt es dann einen Toten, viele Versäumnisse und keine justiziabel greifbare Schuld. So könnte man das absehbare Ende des Verfahrens vor dem Landgericht Frankfurt am Main zusammenfassen, in dem es zum dritten Mal um die Verantwortung für den Tod von Mustafa Alcali in der Abschiebungshaft in Frankfurt ging.
Das Verfahren gegen den zum Todeszeitpunkt vor sechs Jahren als Konsiliararzt des Haftkrankenhauses Kassel arbeitenden Psychiater Heinrich W. wurde am 3. Juli 2013 gem. § 153 StPo eingestellt. Das Gericht sah lediglich ein geringfügiges Verschulden.
Die vorsitzende Richterin wies darauf hin, dass keine Wiederholungsgefahr bestehe, auch weil der Psychiater seit 2007 im Ruhestand sei.
In einer Erklärung anlässlich der Einstellung wies der Staatsanwalt darauf hin, dass es möglicherweise eine ganze Reihe von Ärzten und Stellen gebe, die u.U. eine Teilverantwortung für den Tod von Alcali zuzuordnen sei. So habe ein Arzt in der JVA Frankfurt Main I offenbar keine Rücksprache mit der JVA Kassel genommen, bevor er bis dahin verabreichte Psychopharmaka absetzte. Zu fragen sei auch, ob das Land Hessen seiner Fürsorgepflicht für den Häftling, aber auch für das beschäftigte Personal, gerecht geworden sei. Im Verfahren sei die Überforderung des zum Tatzeitpunkt 79jährigen Psychiaters sichtbar geworden, der als Konsiliararzt für mehrere Haftanstalten in Nordhessen zuständig war. Auch in Hinsicht auf die Ärzte der JVA Kassel sei fraglich, ob ihr Verhalten ärztlichen Standards genügt habe. Vor diesem Hintergrund stelle sich das Ausmaß des Verschuldens in anderem Licht, sodass die Staatsanwaltschaft der Einstellung zustimmen konnte.
Der Verteidiger des Psychiaters wies darauf hin, dass sein Mandant auch eine Entscheidung in der Sache hätte anstreben können: Da davon auszugehen, dass eine Ursächlichkeit des Verhaltens seines Mandanten für den Tod Alcalis nicht nachgewiesen worden sei, hätte der Mandant auch mit einem Freispruch rechnen können.
Der Vertreter der Nebenklage, der Verwandten Alcalis, äußerte seine abweichende kritische Einschätzung. Der Psychiater habe in erheblichem Maße zentrale ärztliche Sorgfaltspflichten verletzt, indem er z.B. seiner Pflicht zur Dokumentierung von Behandlungen und Begründung von Diagnosen nicht gerecht geworden sei. Ohne Rücksprache mit den vorbehandelnden Ärzten habe er Alcali Abschiebungsfähigkeit „bis in das Flugzeug“ hinein attestiert. Wenn man, wie Heinrich W. zu seiner Verteidigung, von einem „Bilanzselbstmord“ ausgehe, dann dürfe man nicht ausblenden, dass Alcali zuvor durch das Verhalten des Psychiaters in die Lage gebracht worden sei, in der er dann keinen Ausweg mehr sah. Ein lediglich geringes Verschulden sehe er deshalb nicht.
Das Verfahren gab Einblicke in offenbar systemische Mängel des hessischen Justizvollzuges. So war es noch am letzten Verhandlungstag überraschend, dass aus der Akte, die sich die Richterin hatte kommen lassen, nicht hervorging, welche Art von Unterbringung (Gemeinschafts- oder Einzelzelle) für den Abschiebungshäftling angeordnet worden war – offensichtlich ein Verstoß gegen Dokumentationspflichten.
Man darf bezweifeln, dass Diagnosen, Behandlungen und Dokumentationspflichten heute ernster genommen werden und die Abläufe heute so organisiert sind, dass Vergleichbares nicht erneut passieren kann.
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