13.04.2010

Ver­let­zung der ärzt­li­chen Sorg­falts­pflicht nicht hun­dert­pro­zen­ti­ge Ursa­che des Suizids

PRO ASYL: Die Fra­ge nach der poli­ti­schen Ver­ant­wor­tung stellt sich dennoch

Das Land­ge­richt Frank­furt am Main hat heu­te die Beru­fung gegen den Frei­spruch im Fall des Fach­arz­tes für Psych­ia­trie Hein­rich W. abge­wie­sen. W. hat­te sei­ne ärzt­li­chen Sorg­falts­pflich­ten – so nun auch das Land­ge­richt – mas­siv ver­letzt, indem er den kur­di­schen Abschie­be­häft­ling Mus­ta­fa Alca­li nach einem ein­zi­gen Gespräch als nicht sui­zid­ge­fähr­det ein­ge­stuft hat­te und es dabei nicht für nötig hielt, sich mit den Dia­gno­sen der Ärz­te, die Alca­li zuvor meh­re­re Wochen behan­delt hat­ten, ernst­haft aus­ein­an­der­zu­set­zen. Alca­li hat­te sich spä­ter in der Zel­le erhängt.

Der Vor­wurf der fahr­läs­si­gen Tötung sei Hein­rich W. den­noch nicht zu machen, so das Land­ge­richt. Vor­aus­set­zung hier­für wäre die hun­dert­pro­zen­ti­ge Ursäch­lich­keit des ärzt­li­chen Fehl­ver­hal­tens für den spä­te­ren Sui­zid des Abschie­be­häft­lings. Einen von Hein­rich W. in Gang gesetz­ten Auto­ma­tis­mus, der zur Selbst­tö­tung Alca­lis hät­te füh­ren müs­sen, habe es nicht gegeben.

Wie in der Vor­in­stanz wur­den in der Ver­hand­lung eine Viel­zahl von Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Orga­ni­sa­ti­ons­män­geln der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung im hes­si­schen Jus­tiz­voll­zug deut­lich. Die tru­gen zum ver­häng­nis­vol­len Ablauf und damit zur Ent­las­tung W.s bei. So ent­schied ein in der JVA Frank­furt am Main-Pre­un­ges­heim ein­ge­setz­ter Arzt nach einem 5‑Mi­nu­ten-Gespräch, die Psy­cho­phar­ma­ka, mit denen der Abschie­bungs­häft­ling vor­her wochen­lang behan­delt wor­den war, plötz­lich abzu­set­zen – ohne wei­te­re Infor­ma­tio­nen eine medi­zi­nisch pro­ble­ma­ti­sche und für die Erhö­hung des Sui­zid­ri­si­kos bedeut­sa­me Fehlentscheidung.

Eine Mit­ver­ant­wor­tung für den tra­gi­schen Ablauf trägt aber auch die Jus­tiz. Das Land­ge­richt Hanau hat­te sich nach der Rück­über­stel­lung von Alca­li aus der JVA Kas­sel in die JVA Frank­furt I mit der Fra­ge der Recht­mä­ßig­keit der Inhaf­tie­rung Alca­lis aus­ein­an­der­zu­set­zen. Alca­lis Rechts­an­walt hat­te die Ein­ho­lung eines Ober­gut­ach­tens bean­tragt. Das Land­ge­richt Hanau lehn­te dies expli­zit unter Ver­weis auf die Ein­deu­tig­keit der ärzt­li­chen Stel­lung­nah­me des Kas­se­ler Arz­tes ab. Dies war eben­so ein Ver­stoß gegen die ober­ge­richt­li­che Recht­spre­chung, nach der es sich für Rich­ter ver­bie­tet, die begrenz­te eige­ne Sach­kun­de an die Stel­le ärzt­li­cher Fach­kun­de zu set­zen wie ein wei­te­rer Bei­trag dazu, dass Alca­lis Situa­ti­on voll­ends aus­weg­los wur­de. Dem Ober­lan­des­ge­richt liegt noch eine – sozu­sa­gen post­hu­me – Beschwer­de gegen die­se Ent­schei­dung vor, über die auch trotz des Todes des Häft­lings zu ent­schei­den sein wird.

Das Land­ge­richt Frank­furt hat ohne Zwei­fel recht­lich kor­rekt ent­schie­den: Ohne hun­dert­pro­zen­ti­ge Kau­sa­li­tät kei­ne fahr­läs­si­ge Tötung. Was in den bei­den münd­li­chen Ver­hand­lun­gen vor dem Amts­ge­richt und vor dem Land­ge­richt offen­bar gewor­den ist, ist der Alp­traum der psych­ia­tri­schen Man­gel­ver­sor­gung im hes­si­schen Jus­tiz­voll­zug. Es stellt sich die Fra­ge nach der poli­ti­schen Ver­ant­wor­tung. Wich­ti­ge Dia­gno­sen wur­den offen­bar nur nach dem Zufalls­prin­zip oder unvoll­stän­dig wei­ter­ge­ge­ben, Ver­dachts­dia­gno­sen ohne Rück­spra­che zur Gewiss­heit erho­ben. Der zum Tat­zeit­punkt 79 Jah­re alte Hein­rich W. muss­te im Rah­men einer 12-Stun­den-Stel­le als Kon­si­li­ar­arzt de fac­to den gesam­ten psych­ia­tri­schen Sach­ver­stand der JVA Kas­sel und ihrer Außen­stel­len ver­tre­ten. Er stell­te dies in der heu­ti­gen Ver­hand­lung vor dem Land­ge­richt zwar als Über­for­de­rung dar, han­del­te jedoch selbst­herr­lich und feh­ler­haft. Die vor­be­han­deln­den Ärz­te hielt er für eine Art „Gefäl­lig­keits­gut­ach­ter“, sein eige­nes Bild der Rea­li­tät für die unum­stöß­li­che Wahrheit.

Hein­rich W. wie die Rich­ter der 3. Kam­mer des Land­ge­richts Hanau sind Sym­pto­me der poli­ti­schen Krank­heit Abschie­bungs­wahn. Dass es immer wie­der Ärz­te gibt, die ohne ernst­haf­te Unter­su­chung von Men­schen in Minu­ten­schnel­le Rei­se- und Abschie­bungs­fä­hig­keit dia­gnos­ti­zie­ren, dass es Rich­ter gibt, die sol­chen Dia­gno­sen begie­rig fol­gen und sich ärzt­li­che Kom­pe­ten­zen anma­ßen, ist einem poli­ti­schen Kli­ma geschul­det, in dem tote Abschie­bungs­häft­lin­ge und Tote bei Abschie­bun­gen blo­ße Neben­wir­kun­gen des poli­tisch Gewoll­ten sind.

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