14.08.2009
Image

Massive Sorgfaltspflichtverletzung war nicht allein die Todesursache - Je größer das Organisationsversagen, desto geringer die individuelle Schuld.

Das Amts­ge­richt Frank­furt hat heu­te den Fach­arzt für Psych­ia­trie Hein­rich W. vom Vor­wurf der fahr­läs­si­gen Tötung frei­ge­spro­chen. W. habe in erheb­li­chem Maße sei­ne ärzt­li­chen Sorg­falts­pflich­ten ver­letzt, indem er den kur­di­schen Abschie­be­häft­ling Mus­ta­fa Alca­li nach einem ein­zi­gen Gespräch als nicht sui­zid­ge­fähr­det ein­stuf­te. Dabei sei der Grund­satz der Psych­ia­trie miss­ach­tet wor­den, das eine län­ger dau­ern­de Beob­ach­tung Vor­aus­set­zung einer aus­sa­ge­kräf­ti­gen Dia­gno­se ist. Die­ses Fehl­ver­hal­ten sei jedoch nicht die direk­te und ein­deu­ti­ge Ursa­che für den Sui­zid Alca­lis gewe­sen. Viel­mehr habe der Arzt den wei­te­ren Fort­gang der Ursa­chen­ket­te bis zum Tode nicht mehr wesent­lich beein­flus­sen können.

Ein bezeich­nen­des Licht warf das Ver­fah­ren auf die Orga­ni­sa­ti­ons­män­gel der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung im hes­si­schen Jus­tiz­voll­zug. Einer der Sach­ver­stän­di­gen wies in sei­ner Aus­sa­ge auf die Sum­me von Feh­lern in der Orga­ni­sa­ti­on des Arbeits­ab­lau­fes hin. Obwohl alle fach­lich aus­ge­bil­de­ten Ärz­te, die in der Kli­nik tätig waren, im Urlaub waren, als Alca­li in das Haft­kran­ken­haus Kas­sel über­stellt wur­de, soll­te psych­ia­trisch behan­delt wer­den. Der Ange­klag­te, 79 Jah­re alt, muss­te mit einer 12-Stun­den-Stel­le de fac­to den gesam­ten psych­ia­tri­schen Sach­ver­stand der Ein­rich­tung vertreten.

Die Über­stel­lung in die JVA Frank­furt, wo Alca­li sich schließ­lich das Leben nahm, erfolg­te an einem Frei­tag und das zu einer Zeit, wo kein Fach­arzt greif­bar war. So blieb W.s Dia­gno­se unhin­ter­fragt. Nach einem kur­zen Tele­fo­nat eines All­ge­mein­me­di­zi­ners wur­den star­ke Psy­cho­phar­ma­ka abrupt abge­setzt, ein Kunst­feh­ler. Die vor­sit­zen­de Rich­te­rin wies dar­auf hin, dass ein Beschluss des Land­ge­rich­tes Hanau mög­li­cher­wei­se eben­so ein Bei­trag zum Sui­zid Alca­lis war. Drei Berufs­rich­ter hat­ten offen­bar nicht wahr­ge­nom­men, dass die Dia­gno­sen der Ärz­te völ­lig von­ein­an­der abwi­chen und des­halb dem Antrag des Rechts­an­wal­tes fol­gend ein Ober­gut­ach­ten hät­te ver­an­lasst wer­den müssen.

Nach­dem im Ver­fah­ren die Ket­te der Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­kei­ten im hes­si­schen Jus­tiz­voll­zug immer­hin her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den konn­te, stellt sich die Fra­ge der poli­ti­schen Ver­ant­wor­tung. Der hes­si­sche Jus­tiz­mi­nis­ter Ban­zer muss klar­stel­len, ob die Schnitt­stel­len­pro­ble­ma­ti­ken, die Män­gel in der medi­zi­ni­schen Doku­men­ta­ti­on und der Orga­ni­sa­ti­ons­ab­läu­fe heu­te besei­tigt sind.

Nur am Ran­de berührt hat die­ser Pro­zess das Milieu, in dem sich der töd­li­che ärzt­li­che Dilet­tan­tis­mus abspiel­te: Wo Abschie­bun­gen vor­be­rei­tet wer­den, blüht die Zunft der begna­de­te­ten Schnell­dia­gnos­ti­ker. Es erscheint im Rück­blick gera­de­zu unglaub­lich, dass ein 79jähriger Psych­ia­ter mit einem 12-Stun­den-Arbeits­ver­trag für die psych­ia­tri­sche Ver­sor­gung meh­re­rer Jus­tiz­voll­zugs­an­stal­ten zustän­dig war. Das Fazit zieht PRO ASYL unter Nut­zung einer leicht vari­ier­ten Aus­sa­ge von Kurt Tuchol­sky: die Ver­ant­wor­tung ist in vie­le Tei­le zer­teilt und am Ende ist es jeder nur ein biss­chen gewe­sen. Je grö­ßer das Orga­ni­sa­ti­ons­ver­sa­gen, des­to gerin­ger die indi­vi­du­el­le Schuld.

 Sui­zid in Abschie­bungs­haft: Fehl­ver­hal­ten bleibt unge­sühnt (04.07.13)