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Suizid in Abschiebungshaft – Anklage wegen Fahrlässiger Tötung
Vor sechs Jahren erhängte sich Mustafa Alcali in Abschiebungshaft. Zuvor hatte ihn ein Psychiater für nicht suizidgefährdet erklärt. Vor dem Landgericht Frankfurt wird jetzt zum dritten Mal versucht, den Fall juristisch aufzuarbeiten.
Am 27. Juni 2007 erhängte sich der 30jährige kurdische Abschiebungshäftling Mustafa Alcali mit Hilfe eines zerrissenen T‑Shirts in der Abschiebungshaft in der JVA Frankfurt am Main I. Zuvor hatte ihn der damalige Konsiliararzt des Zentralen Haftkrankenhauses Kassel und Facharzt für Psychiatrie Heinrich W. für nicht suizidgefährdet beurteilt – eine Fehldiagnose mit offenbar tödlichen Folgen.
Das Landgericht Frankfurt hat sich nunmehr erneut mit den Umständen des Falls auseinanderzusetzen. Auf der Anklagebank sitzt wieder der mittlerweile über 80jährige Psychiater Heinrich W., angeklagt ist er der fahrlässigen Tötung. Der Prozess wird morgen in Frankfurt fortgesetzt.
Das Amtsgericht Frankfurt hatte W. im August 2009 freigesprochen. Zwar habe der Arzt in erheblichem Maße seine ärztlichen Sorgfaltspflichten verletzt, indem er Alcali nach einem einzigen Gespräch als nicht suizidgefährdet einstufte. Unter anderem sei der Grundsatz der Psychiatrie missachtet worden, dass eine länger dauernde Beobachtung Voraussetzung einer aussagekräftigen Diagnose ist. Dieses Fehlverhalten sei jedoch nicht direkte und eindeutige Ursache für den Suizid gewesen, so das Gericht.
In der Berufungsentscheidung bestätigte das Landgericht Frankfurt am Main im April 2010 den Freispruch. Voraussetzung einer Verurteilung wäre die 100 Prozentige Ursächlichkeit des ärztlichen Fehlverhaltens für den späteren Suizid gewesen. Einen von Heinrich W. in Gang gesetzten Automatismus bis zur Selbsttötung Alcalis habe es jedoch nicht gegeben.
Doch im Rahmen einer Revisionsentscheidung verwies das Oberlandesgericht Frankfurt die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landgericht zurück. Es hätte geprüft werden müssen, ob es zu einem Suizid des Abschiebungshäftlings auch gekommen wäre, wenn sich der Arzt entsprechend der ihm aufgegebenen Sorgfaltspflichten verhalten hätte. Daher verhandelt das Landgericht Frankfurt deshalb den Fall nun erneut.
Und wieder wird im Prozess deutlich, wie desolat die medizinische Versorgung im hessischen Justizvollzug war – und möglicherweise noch immer ist. Wichtige Diagnosen wurden nur nach dem Zufallsprinzip oder unvollständig weitergegeben, Verdachtsdiagnosen ohne Rücksprache zur Gewissheit erhoben, medizinische Dokumentationen mangelhaft geführt, Diagnosen unzureichend begründet.
Der zum Tatzeitpunkt 79 Jahre alte Heinrich W. hatte im Rahmen einer 12-Stunden-Stelle als Konsiliararzt de facto den gesamten psychiatrischen Sachverstand der JVA Kassel und einer Reihe von Außenstellen zu vertreten. Er hatte dies bereits in den Vorinstanzen als Überforderung dargestellt, trat jedoch jedes Mal selbstherrlich vor dem Hintergrund seiner über 50jährigen Berufserfahrung für seine Sicht der Dinge ein.
Sein eigenes Bild der Realität setzt er noch heute ohne nachvollziehbare Begründung an die Stelle der Diagnose der vorbehandelnden Ärzte. Diese hatten die vorläufige Diagnose einer schizophrenen Psychose gestellt und auf ein deutliches Suizidrisiko hingewiesen. Auch die aktuelle Verhandlung legte offen, dass der angeklagte Arzt Alcali ein einziges Mal im Rahmen eines diagnostischen Gespräches gesehen hat.
Je mehr organisierte Verantwortungslosigkeit, je mehr Organisationsversagen – umso weniger Verantwortung für den Einzelnen. So bitter hatte PRO ASYL die Erfahrungen mit einigen Prozessbeobachtungen zum Thema „Abschiebungen und ihre Folgen“ resümiert. Dank der bürokratisch optimalen Verteilung des Dilettantismus in der totalen Institution Justizvollzug könnte es auch diesmal wieder so ausgehen, wie es Kurt Tucholsky einmal ähnlich schrieb: Die Verantwortung ist in viele Teile zerteilt und am Ende ist es keiner – oder jeder nur ein bisschen gewesen.
Wenn man an dem Verfahren etwas Tröstliches finden will, so wäre es vielleicht die Tatsache, dass der Angeklagte seit 2007 nicht mehr ärztlich tätig ist. Mustafa Alcali hatte ihm im einzigen Gespräch – entgegen der Erinnerung des Angeklagten an weitere Gespräche ist nur dies eine aktenkundig – vieles erzählt über seine reale Angst vor einer Abschiebung in die Türkei und was man ihm dort zur Last legte. Doch praktisch alles, was auch im Asylverfahren Alcalis aktenkundig wurde, hielt W. für einen Ausdruck von Alcalis übersteigertem Geltungsbedürfnis.
Die Fortsetzung der Verhandlung vor dem Landgericht Frankfurt findet morgen am 3. Juli 2013 um 9.30 Uhr im Saal 20 statt.
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