02.07.2013

Vor sechs Jahren erhängte sich Mustafa Alcali in Abschiebungshaft. Zuvor hatte ihn ein Psychiater für nicht suizidgefährdet erklärt. Vor dem Landgericht Frankfurt wird jetzt zum dritten Mal versucht, den Fall juristisch aufzuarbeiten.

Am 27. Juni 2007 erhäng­te sich der 30jährige kur­di­sche Abschie­bungs­häft­ling Mus­ta­fa Alca­li mit Hil­fe eines zer­ris­se­nen T‑Shirts in der Abschie­bungs­haft in der JVA Frank­furt am Main I. Zuvor hat­te ihn der dama­li­ge Kon­si­li­ar­arzt des Zen­tra­len Haft­kran­ken­hau­ses Kas­sel und Fach­arzt für Psych­ia­trie Hein­rich W. für nicht sui­zid­ge­fähr­det beur­teilt – eine Fehl­dia­gno­se mit offen­bar töd­li­chen Folgen.

Das Land­ge­richt Frank­furt hat sich nun­mehr erneut mit den Umstän­den des Falls aus­ein­an­der­zu­set­zen. Auf der Ankla­ge­bank sitzt wie­der der mitt­ler­wei­le über 80jährige Psych­ia­ter Hein­rich W., ange­klagt ist er der fahr­läs­si­gen Tötung. Der Pro­zess wird mor­gen in Frank­furt fortgesetzt.

Das Amts­ge­richt  Frank­furt hat­te W. im August 2009 frei­ge­spro­chen. Zwar habe der Arzt in erheb­li­chem Maße sei­ne ärzt­li­chen Sorg­falts­pflich­ten ver­letzt, indem er Alca­li nach einem ein­zi­gen Gespräch als nicht sui­zid­ge­fähr­det ein­stuf­te. Unter ande­rem sei der Grund­satz der Psych­ia­trie miss­ach­tet wor­den, dass eine län­ger dau­ern­de Beob­ach­tung Vor­aus­set­zung einer aus­sa­ge­kräf­ti­gen Dia­gno­se ist. Die­ses Fehl­ver­hal­ten sei jedoch nicht direk­te und ein­deu­ti­ge Ursa­che für den Sui­zid gewe­sen, so das Gericht. 

In der Beru­fungs­ent­schei­dung bestä­tig­te das Land­ge­richt Frank­furt am Main im April 2010 den Frei­spruch. Vor­aus­set­zung einer Ver­ur­tei­lung wäre die 100 Pro­zen­ti­ge Ursäch­lich­keit des ärzt­li­chen Fehl­ver­hal­tens für den spä­te­ren Sui­zid gewe­sen. Einen von Hein­rich W. in Gang gesetz­ten Auto­ma­tis­mus bis zur Selbst­tö­tung Alca­lis habe es jedoch nicht gegeben.

Doch im Rah­men einer Revi­si­ons­ent­schei­dung ver­wies das Ober­lan­des­ge­richt Frank­furt die Sache zur erneu­ten Ver­hand­lung an das Land­ge­richt zurück. Es hät­te geprüft wer­den müs­sen, ob es zu einem Sui­zid des Abschie­bungs­häft­lings auch gekom­men wäre, wenn sich der Arzt ent­spre­chend der ihm auf­ge­ge­be­nen Sorg­falts­pflich­ten ver­hal­ten hät­te. Daher ver­han­delt das Land­ge­richt Frank­furt des­halb den Fall nun erneut.

Und wie­der wird im Pro­zess deut­lich, wie deso­lat die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung im hes­si­schen Jus­tiz­voll­zug war – und mög­li­cher­wei­se noch immer ist. Wich­ti­ge Dia­gno­sen wur­den nur nach dem Zufalls­prin­zip oder unvoll­stän­dig wei­ter­ge­ge­ben, Ver­dachts­dia­gno­sen ohne Rück­spra­che zur Gewiss­heit erho­ben, medi­zi­ni­sche Doku­men­ta­tio­nen man­gel­haft geführt, Dia­gno­sen unzu­rei­chend begründet.

Der zum Tat­zeit­punkt 79 Jah­re alte Hein­rich W. hat­te im Rah­men einer 12-Stun­den-Stel­le als Kon­si­li­ar­arzt de fac­to den gesam­ten psych­ia­tri­schen Sach­ver­stand der JVA Kas­sel und einer Rei­he von Außen­stel­len zu ver­tre­ten. Er hat­te dies bereits in den Vor­in­stan­zen als Über­for­de­rung dar­ge­stellt, trat jedoch jedes Mal selbst­herr­lich vor dem Hin­ter­grund sei­ner über 50jährigen Berufs­er­fah­rung für sei­ne Sicht der Din­ge ein.

Sein eige­nes Bild der Rea­li­tät setzt er noch heu­te ohne nach­voll­zieh­ba­re Begrün­dung an die Stel­le der Dia­gno­se der vor­be­han­deln­den Ärz­te. Die­se hat­ten die vor­läu­fi­ge Dia­gno­se einer schi­zo­phre­nen Psy­cho­se gestellt und auf ein deut­li­ches Sui­zid­ri­si­ko hin­ge­wie­sen. Auch die aktu­el­le Ver­hand­lung leg­te offen, dass der ange­klag­te Arzt Alca­li ein ein­zi­ges Mal im Rah­men eines dia­gnos­ti­schen Gesprä­ches gese­hen hat.

Je mehr orga­ni­sier­te Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit, je mehr Orga­ni­sa­ti­ons­ver­sa­gen – umso weni­ger Ver­ant­wor­tung für den Ein­zel­nen. So bit­ter hat­te PRO ASYL die Erfah­run­gen mit eini­gen Pro­zess­be­ob­ach­tun­gen zum The­ma „Abschie­bun­gen und ihre Fol­gen“ resü­miert. Dank der büro­kra­tisch opti­ma­len Ver­tei­lung des Dilet­tan­tis­mus in der tota­len Insti­tu­ti­on Jus­tiz­voll­zug könn­te es auch dies­mal wie­der so aus­ge­hen, wie es Kurt Tuchol­sky ein­mal ähn­lich schrieb: Die Ver­ant­wor­tung ist in vie­le Tei­le zer­teilt und am Ende ist es kei­ner – oder jeder nur ein biss­chen gewesen.

Wenn man an dem Ver­fah­ren etwas Tröst­li­ches fin­den will, so wäre es viel­leicht die Tat­sa­che, dass der Ange­klag­te seit 2007 nicht mehr ärzt­lich tätig ist. Mus­ta­fa Alca­li hat­te ihm im ein­zi­gen Gespräch – ent­ge­gen der Erin­ne­rung des Ange­klag­ten an wei­te­re Gesprä­che ist nur dies eine akten­kun­dig – vie­les erzählt über sei­ne rea­le Angst vor einer Abschie­bung in die Tür­kei und was man ihm dort zur Last leg­te. Doch prak­tisch alles, was auch im Asyl­ver­fah­ren Alca­lis akten­kun­dig wur­de, hielt W. für einen Aus­druck von Alca­lis über­stei­ger­tem Geltungsbedürfnis.

Die Fort­set­zung der Ver­hand­lung vor dem Land­ge­richt Frank­furt fin­det mor­gen am 3. Juli 2013 um 9.30 Uhr im Saal 20 statt.

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