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Perspektivlos & entrechtet in Bosnien: Die Folgen der Abschottungspolitik
Allein im ersten Halbjahr 2019 wurden rund 10.000 Geflüchtete in Bosnien-Herzegowina registriert. Die allermeisten benötigen dringend Unterstützung: Kurzfristig geht es um Verpflegung, Unterbringung & ärztliche Versorgung. Mittelfristig bedarf es einer Perspektive. Stattdessen werden Schutzsuchende im Auftrag der EU jedoch systematisch entrechtet.
Seit langem werden Pushbacks, also Zurückweisungen ohne jedes rechtsstaatliches Verfahren, aus Kroatien nach Bosnien und auch die dabei eingesetzte Gewalt der kroatischen Grenzpolizei dokumentiert. Praktisch alle Geflüchteten, die in Bosnien stranden, berichten, Opfer solcher Zurückweisungen geworden zu sein. Aktivist*innen vor Ort, wie Border Violence Monitoring, und NGOs – etwa Ärzte ohne Grenzen, Human Rights Watch und Amnesty International – sowie Journalist*innen haben unzählige Belege für die Praktiken der Entrechtung und Gewalt veröffentlicht. Im Mai 2019 konnte das Schweizer Fernsehen Pushbacks selbst filmen.
Gewaltsame Pushbacks sind zur selbstverständlichen Praxis geworden
Ungeachtet der Nachweise hatte die kroatische Regierung monatelang abgestritten, dass es illegale Pushbacks gäbe und dass die kroatische Polizei Gewalt einsetzen würde. Erneut mit den Berichten konfrontiert, gab die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović die Pushbacks und den Einsatz von Gewalt dann im Juli zu, zeigte sich allerdings unbeeindruckt von dem Vorwurf der Rechtswidrigkeit: »Illegale Push-Backs? Weshalb denken Sie, dass sie illegal sind? […] Natürlich gibt es ein bisschen Gewalt, wenn man Menschen abschiebt. Mir wurde vom Innenminister, vom Polizeichef und von den Polizisten vor Ort, die ich getroffen habe immer wieder versichert, dass sie nicht zu viel Gewalt anwenden.«
Kroatische Grenzpolizist*innen beschweren sich über völkerrechtswidrige Befehle
Das Ausmaß der bei den Pushbacks durch die kroatische Polizei eingesetzten Gewalt ist erschreckend – doch auch seitens einiger Grenzpolizist*innen regt sich Kritik, wie ein anonymer Brief vom März diesen Jahres an die kroatische Ombudsfrau Lora Vidović zeigt. In dem Schreiben, das die Ombudsfrau Mitte Juli 2019 veröffentlicht hat, beklagen sich Grenzpolizist*innen darüber, gezwungen zu sein, Menschen auf der Flucht unmenschlich zu behandeln. Sie müssten auf Anweisungen übergeordneter Stellen illegale Aktionen durchführen. Jede Nacht würden über ihre Polizeistation 50 Geflüchtete nach Bosnien abgeschoben, andere Polizist*innen würden Gewalt einsetzen.
Im August 2018 würdigte Bundeskanzlerin Merkel die »Sicherung« der Grenzen durch Kroatien.
Nach einer Änderung der Praktiken sieht es nicht aus, zumal es an internationalen Druck auf Kroatien fehlt. Das Schweigen der EU ist nicht verwunderlich: Kroatien setzt mit den Pushbacks die gemeinsame EU Abschottungspolitik praktisch um. Wie die Grenzpolizei dabei vorgeht, ist EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten durch die Berichterstattung bekannt. Bei einem Treffen mit dem kroatischen Ministerpräsidenten Andrej Plenkovic im August 2018 würdigte Bundeskanzlerin Merkel die kroatische Migrationspolitik dennoch und lobte die »Sicherung« der Grenzen durch Kroatien
Seit 2018 hat die EU rund 24 Millionen Euro für »Migrationskontrolle«, Camps und Grenzsicherung in Bosnien-Herzegowina sowie für die Förderung »freiwilliger Rückkehr« bereitgestellt. Die jüngste Kritik der EU-Kommission, dass Bosnien keine geeigneten Standorte für weitere Aufnahmeeinrichtungen vorgeschlagen habe, erscheint wohlfeil in Anbetracht der Tatsache, dass die EU mit ihrer Politik überhaupt erst dafür sorgt, dass das überforderte Bosnien so viele Menschen unterbringen muss.
Kein angemessenes Asyl- und Aufnahmesystem in Bosnien
Angesichts der vielfältigen internen Probleme in dem politisch zutiefst gespaltenen, weitgehend dysfunktionalen Land, vermögen es die bosnischen Behörden nicht, eine angemessene Unterstützung der Schutzsuchenden sicherzustellen. Ein funktionierendes Asylsystem existiert lediglich auf dem Papier; ein Asylverfahren gibt es in der Praxis nur in wenigen Einzelfällen. Für Menschen auf der Flucht ist Bosnien kein sicherer, schützender Ort.
IOM, die Internationale Organisation für Migration, betreibt fünf Camps, deren Unterhalt die EU finanziert: vier davon im Kanton Una-Sana (Miral in Velika Kladuša, Borici und Bira in Bihać sowie Sedra in Cazin) und eines bei Sarajevo (Usivak). Die Kapazitäten der Einrichtungen reichen jedoch bei weitem nicht aus. Vor dem Camp Usivak bei Sarajevo warten Geflüchtete mitunter tagelang darauf, registriert und aufgenommen zu werden. Auch Familien mit Kindern müssen, so berichten Geflüchtete, hier tagelang warten, bis sie im Camp unterkommen.
Einst Müllhalde, jetzt Flüchtlingslager: Das Camp Vucjak bei Bihać
In Bihać leben seit Frühjahr 2018 mehrere tausend Geflüchtete, die meisten von ihnen in den Camps Bira und Borici. Mitte Juni 2019 begann die bosnische Polizei damit, Geflüchtete, die neben dem überfüllten Bira-Camp übernachten mussten oder private Unterkünfte gefunden hatten, festzunehmen. Anschließend wurden die Menschen auf das Gelände der ehemaligen Müllhalde Vucjak in den Bergen westlich von Bihać transportiert. Dort, zwei Stunden Fußmarsch von Bihać entfernt, errichteten die lokalen Behörden eilig ein neues »Camp«. Seither werden immer wieder Geflüchtete in Bihać von der Polizei aufgegriffen und in Kolonnen nach Vucjak gebracht.
Beim »Camp« Vucjak handelt es sich um eine Ansammlung von Zelten mit notdürftigster Infrastruktur. In der Umgebung liegen Landminen aus dem Bürgerkrieg der 1990er Jahre. Nach der Eröffnung gab es wochenlang weder Toiletten noch Duschen. Die Menschen werden auf der ehemaligen Müllhalde weitgehend sich selbst überlassen. Humanitäre Hilfe leistet vor Ort das lokale Rote Kreuz. Freiwillige übernehmen eine medizinische Notversorgung.
Der lang andauernde Aufenthalt schürt zunehmend Spannungen: Zum einen sind die Konflikte um Unterbringung und Versorgung ein Katalysator der ohnehin tiefgehenden politischen Gräben im Land. Zum anderen verhärtet sich auch in Bosnien der Umgang mit Geflüchteten. Berichteten Schutzsuchende im vergangenen Jahr noch von einer zumeist positiven Aufnahme und einem weitgehend korrekten Verhalten bosnischer Polizist*innen, beklagen sie nun vermehrt Polizeigewalt und willkürliches Verhalten von Behörden.
Welche Rolle übernimmt IOM?
In Bosnien-Herzegowina ist nicht das Flüchtlingshilfswerk UNHCR für die Versorgung von Menschen auf der Flucht federführend tätig. Vor Ort aktiv und mit der Unterbringung von Flüchtlingen betraut ist IOM, die Organisation im UN-System, die gegenwärtig insbesondere durch die Schwerpunkte Migrationskontrolle und Rückführung auffällt. Das hat Konsequenzen für die Menschen auf der Flucht. Unterstützung und Vertrauen finden sie in den Lagern nicht.
Die Bedingungen in den IOM-Camps sind miserabel und widersprechen internationalen Standards.
Der IOM-Koordinator für den Westbalkan, Peter van der Auweraert, der sich öffentlich nicht deutlich zu den kroatischen Pushbacks und der Gewalt der kroatischen Grenzpolizei äußert, schätzt in Interviews, »dass wir hier etwa 80 bis 85 Prozent Wirtschaftsmigranten haben und kaum Menschen, die internationalen Schutzes bedürfen.« Dabei prüft IOM den individuellen Schutzbedarf der Geflüchteten nicht einmal. Die Berichte über gewaltsame Pushbacks und Misshandlungen durch kroatische Grenzpolizist*innen werden weder dokumentiert noch weitergegeben.
IOM nennt die Lager »Temporary Reception Centres«, diese haben sich de facto jedoch bereits zu Dauereinrichtungen entwickelt. Die Bedingungen in den IOM-Camps sind miserabel und widersprechen internationalen Standards: Sie sind überfüllt, es fehlt an Privatsphäre und Maßnahmen zur Gewaltprävention, zudem gibt es Berichte über gewaltsames Vorgehen der eingesetzten Sicherheitsdienste gegenüber Schutzsuchenden und unterlassene Hilfeleistung. Hinzu kommt die Perspektivlosigkeit: Menschen in den IOM-Camps berichten, keinerlei Informationen über Rechte und Perspektiven zu erhalten. Beratungsangebot gibt es lediglich zum Thema »freiwillige Rückkehr«. IOM agiert damit ganz im Sinne der EU und als Element der EU-Abschottungspolitik.
Menschenrechte einhalten – auch auf dem Balkan!
Um die Rechte von Menschen auf der Flucht zu gewährleisten, ist ein Ende der EU-Abschottungspolitik unabdingbar. Die Pushbacks aus Kroatien und die Gewalt der kroatischen Grenzpolizei müssen umgehend eingestellt werden. Schutzsuchende dürfen nicht daran gehindert werden, einen Asylantrag in Kroatien zu stellen und das Verfahren in einem EU Mitgliedsstaat zu durchlaufen, das angemessene Unterstützung garantiert. Auch hier muss das Solidaritätsprinzip greifen: Kroatien darf als Land an der EU-Außengrenze nicht alleine für die Umsetzung des Rechts auf Asyl verantwortlich sein.
Die EU Mitgliedsstaaten müssen sicherstellen, dass die in Bosnien-Herzegowina und Serbien gestrandeten Schutzsuchenden Zugang zu einem fairen Asylverfahren in der EU erhalten und dabei persönliche Bindungen und Aufnahmekapazitäten berücksichtigen.
Dringend geboten ist darüber hinaus eine Evaluation der IOM-Camps, um die Einhaltung internationale Unterbringungsstandards sowie die Verwendung der EU-Mittel zu überprüfen.
Dr. Sascha Schießl, Flüchtlingsrat Niedersachen