11.07.2017
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Flüchtlinge wärmen sich am Feuer in einer der Baracken am Belgrader Hauptbahnhof. ©Erik Marquardt

Seit Schließung der Balkanroute hat sich die Situation der Flüchtlinge stark verschlechtert. Sie leben oft unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die Schlepper machen ein gutes Geschäft. Die Reportage beschreibt die Lage in Belgrad Anfang 2017.

Es ist eine Höl­le. Unweit des Bel­gra­der Zen­trums hat sich in alten Lager­hal­len das größ­te infor­mel­le Flücht­lings­la­ger Euro­pas gebil­det. 1.200 Men­schen leben in den Rui­nen, die meis­ten von ihnen kom­men aus Afgha­ni­stan. An die alten Lager­hal­len sind Graf­fi­tis gesprüht: »Plea­se, don’t for­get about us« und »Refu­gees are not ter­ro­rists« steht dort in gro­ßen Let­tern geschrieben.

Vor den ver­fal­le­nen Hal­len ste­hen Män­ner in einer klei­nen Schlan­ge an einer der bei­den Was­ser­quel­len der Bel­gra­der Trüm­mer­land­schaft. Einer putzt sich die Zäh­ne, ein ande­rer wäscht sich die Füße. Neben dem Schlauch, aus dem das Was­ser kommt, steht ein ros­ti­ges Fass über einer Feu­er­stel­le. Einer der Män­ner zeigt lächelnd dar­auf und sagt: »Das ist unse­re Dusche.« Sani­tä­re Anla­gen gibt es nicht. Not macht erfinderisch.

Hier lebt auch der 26-jäh­ri­ge Mie­lad, der wie die meis­ten in den Lager­hal­len aus dem Osten Afgha­ni­stans kommt. Aus der Pro­vinz Kunar, unweit von Kabul, wo die Tali­ban sehr aktiv sind. Er trägt eine hel­le Leder­ja­cke mit Spu­ren von Ruß, sie sieht nicht so aus, als könn­te sie vor der Käl­te schüt­zen. Mie­lad betont, dass er ein gutes Leben in Afgha­ni­stan hat­te, bis er ins Visier der Tali­ban geriet, weil er im Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um für die Regie­rung gear­bei­tet hat.

Unhaltbare Zustände

Die Pro­vinz Kunar hat er vor sie­ben Mona­ten ver­las­sen, seit vier Mona­ten lebt er nun hier. Er führt durch die her­un­ter­ge­kom­me­nen Lager­hal­len. In den Rui­nen steigt bei­ßen­der Rauch auf, weil mit Holz aus alten Bal­ken der Schie­nen­an­la­gen, Müll und Plas­tik geheizt wird. Rich­tig warm wird es trotz­dem nicht. Die Lun­gen begin­nen schon nach weni­gen Minu­ten zu schmer­zen und die Augen zu tränen.

»War­um müs­sen wir hier leben? Haben wir unse­re Häu­ser und unser Land ver­las­sen und sind vor dem Krieg geflüch­tet, nur um hier zu erfrieren?«

Mie­lad, afgha­ni­scher Flüchtling

Zwi­schen zwei Erhö­hun­gen wur­de mit einer Lei­ter eine klei­ne Brü­cke auf­ge­baut, auf der ein selbst gebau­tes Dixi-Häus­chen steht, um ein wenig Pri­vat­sphä­re zu ermög­li­chen. Dar­un­ter bil­det sich ein gro­ßer Hau­fen Kot, der gefro­ren ist. Mie­lad deu­tet mit dem Fin­ger auf die­se Zustän­de und stellt Fra­gen: »War­um müs­sen wir hier leben? Haben wir unse­re Häu­ser und unser Land ver­las­sen und sind vor dem Krieg geflüch­tet, nur um hier zu erfrie­ren?« Unweit der impro­vi­sier­ten Toi­let­te hält er sich die Nase zu und sagt: »Das ist doch wider­lich. Ich kann hier nicht län­ger bleiben.«

Täg­lich kom­men rund 100 neue Flücht­lin­ge aus Maze­do­ni­en und Bul­ga­ri­en in Ser­bi­en an. Hier blei­ben sie ste­cken, weil die Gren­zen zu Ungarn und Kroa­ti­en dicht sind. Laut Euro­pol hat sich Bel­grad zum Epi­zen­trum für die Schlep­per auf der Bal­kan-Rou­te entwickelt.

Gewalt gegen Flüchtlinge

ca. 3.000

Euro neh­men Schlep­per für den Weg nach Ungarn

Die Afgha­nen in den Lager­hal­len sind im Schnitt deut­lich ärmer als die Flücht­lin­ge, die noch vor der Schlie­ßung der Bal­kan-Rou­te ver­gan­ge­nes Jahr im März in Bel­grad aus­harr­ten. Vie­len ist das Geld aus­ge­gan­gen, auch weil sie von den Schlep­pern betro­gen wer­den. Rund 3.000 Euro kos­tet es der­zeit, nach Ungarn zu kom­men. Für vie­le ist es ein Rück­fahr­schein, weil die unga­ri­sche Regie­rung Push-Backs durch­führt. Die Rui­nen von Bel­grad sind vol­ler Män­ner, die behaup­ten, bereits in Ungarn gewe­sen und dann von der Poli­zei geschla­gen, miss­han­delt und zurück­ge­schickt wor­den zu sein. Auch der bul­ga­ri­schen Poli­zei wird in zahl­rei­chen doku­men­tier­ten Fäl­len die Miss­hand­lung von Flücht­lin­gen vorgeworfen.

Bel­grad Anfang 2017: Ein Ölfass auf einer offe­nen Feu­er­stel­le dient den Flücht­lin­gen als pro­vi­so­ri­sche Dusche. ©Erik Marquardt
Über 1.000 Geflüch­te­te »woh­nen« Anfang 2017 in den Bara­cken hin­ter dem Bel­gra­der Bus­bahn­hof. ©Erik Marquardt
Gra­fit­ti in den Bel­gra­der Bara­cken. Unge­fähr 10.000 Geflüch­te­te sit­zen im Win­ter 2016/17 in Ser­bi­en fest, seit die Bal­kan­rou­te geschlos­sen wur­de. ©Erik Marquardt
Bei bis zu minus 16 Grad ste­hen die Geflüch­te­ten Schlan­ge für die täg­li­che Essens­ra­ti­on. ©Erik Marquardt

40 Prozent der Flüchtlinge sind minderjährig

Der neun­jäh­ri­ge Ham­raz wärmt sei­ne Hän­de am Feu­er und hus­tet. Seit zwei Mona­ten lebt der Jun­ge in den Rui­nen. Er ist mit einer klei­nen Grup­pe unter­wegs, aber ohne Eltern und Fami­lie. Ham­raz kommt aus der afgha­ni­schen Regi­on Nan­gar­har, die zwi­schen Kabul und der paki­sta­ni­schen Gren­ze liegt; Tali­ban-Gebiet. Er sagt, sei­ne Eltern hät­ten ihn los­ge­schickt, weil die Tali­ban mehr­fach ver­sucht hät­ten, sei­nen Vater zu töten: »Ich kann auch nicht in die Schu­le gehen, weil die oft von den Tali­ban ange­grif­fen wird.«

Die NGO »Save the Child­ren« schätzt, dass sich rund 900 unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge in Ser­bi­en auf­hal­ten. 200 bis 300 von ihnen sol­len in den Lager­hal­len schla­fen. Als die Tem­pe­ra­tu­ren in Bel­grad im Win­ter auf bis zu minus 16 Grad san­ken, warn­te die NGO, dass die Kin­der zu erfrie­ren droh­ten. Als die Tem­pe­ra­tu­ren stie­gen, wur­de die Situa­ti­on ein wenig erträglicher.

Die Situation in den Aufnahmezentren 

In den Rui­nen hat sich eine rei­ne Män­ner­welt gebil­det, weil Frau­en und Mäd­chen in den ser­bi­schen Auf­nah­me- und Asyl­zen­tren unter­kom­men. In Ser­bi­en befin­den sich rund 8.000 Flücht­lin­ge. Die meis­ten leben in den offi­zi­el­len Flücht­lings­la­gern, in denen die Situa­ti­on etwas bes­ser ist als in den Bel­gra­der Baracken.

Allei­ne im Camp «Krn­jača» am Ran­de Bel­grads leben cir­ca 1300 Flücht­lin­ge. Wäh­rend die Bel­gra­der Rui­nen eine rei­ne Män­ner­welt sind, leben in den offi­zi­el­len Lagern auch vie­le Fami­li­en, Frau­en und Mäd­chen. Im Haus Num­mer 13 des Camps leben aus­schließ­lich unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge im Alter von 11 bis 17 Jah­ren. Die meis­ten besu­chen die Schu­le und spre­chen bereits etwas Ser­bisch. Die meis­ten schla­fen in Vier­bett­zim­mern. Die Kin­der im Alter bis zu 13 Jah­ren müs­sen zu zehnt in einem Zim­mer schla­fen. Es ist warm, es gibt einen Spiel­platz und drei­mal am Tag etwas zu essen.

Die ser­bi­sche Regie­rung bemüht sich nach außen, ein huma­nes Gesicht zu zei­gen, aber das ist nur die hal­be Wahr­heit. Lan­ge Zeit hat­te sich der ser­bi­sche Staat gewei­gert, aus­rei­chend Schlaf­plät­ze zur Ver­fü­gung zu stel­len und Geflüch­te­te damit in die Obdach­lo­sig­keit gezwun­gen. War­um vie­le Flücht­lin­ge nicht in die Auf­nah­me­zen­tren wol­len, hat aber einen ande­ren Hintergrund.

Abschiebungen aus den Aufnahmezentren 

Dem UNHCR zufol­ge wer­den Flücht­lin­ge aus Ser­bi­en ver­mehrt über die Gren­ze nach Maze­do­ni­en und Bul­ga­ri­en abge­scho­ben. Die­se Pra­xis ist rechts­wid­rig, hat sich aber auf der west­li­chen Bal­kan­rou­te inzwi­schen eta­bliert. Niko­la Kovače­vić vom Bel­gra­der Zen­trum für Men­schen­rech­te sagt: »Wir haben Berich­te, laut denen uni­for­mier­te Män­ner Flücht­lin­ge aus dem Bus an die Gren­ze gebracht haben. Dort wur­den ihre Papie­re zer­ris­sen und die Men­schen bei Tem­pe­ra­tu­ren von minus elf Grad im Wald ausgesetzt.«

Auch Human Rights Watch berich­tet von ille­ga­len Push- Backs. Dem­nach soll­ten an einem Tag 40 Flücht­lin­ge von der ser­bisch-unga­ri­schen an die ser­bisch-maze­do­ni­sche Gren­ze gebracht wer­den. Doch die Men­schen wur­den ein­fach auf maze­do­ni­schem Gebiet raus­ge­schmis­sen. NGOs schät­zen, dass bis­lang über 1000 Men­schen Opfer die­ser ille­ga­len Push-Backs aus Ser­bi­en gewor­den sind. Es ist die Angst vor die­sen bru­ta­len Push-Backs, die Men­schen in die Bel­gra­der Bara­cken treibt.

Krsto Lazare­vić, Jour­na­list bei »Jib Coll­ec­ti­ve«

(Die­ser Arti­kel erschien zuerst im Juni 2017 im Heft zum Tag des Flücht­lings 2017).


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