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#offengeht: Fünf Jahre nach dem Sommer der Flucht
»Menschen sind gekommen und das war gut so!« ziehen 27 zivilgesellschaftliche Organisationen fünf Jahre nach dem Sommer der Flucht Bilanz. Die Flüchtlingsaufnahme wurde dank des Einsatzes von Haupt- und Ehrenamtlichen und des Engagements der Geflüchteten selbst zu einer Erfolgsgeschichte. #offengeht ist eine Erklärung für eine offene Gesellschaft.
Menschen sind gekommen. Ohne dass wir sie gerufen hätten. Menschen sind gekommen, weil sie vor Bomben und Kugeln, vor Terror und politischer Verfolgung, vor Folter und Misshandlung fliehen mussten. Sie flohen aus den Kriegs- und Krisengebieten in Syrien, Afghanistan, dem Irak, Eritrea oder Somalia. Sie flohen, weil sie dort keine Perspektive hatten und die Türkei als Durchgangsland kein Staat ist, der dauerhaft Schutz gewährt.
Menschen sind gekommen mit der vagen und auf ihren Fluchtwegen oft hart geprüften Hoffnung, hier etwas Besseres zu finden. Menschen sind gekommen, weil andere EU-Staaten geltendes Recht brechen und keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Sie sind gekommen, weil Deutschland ein demokratischer Rechtsstaat ist, in dem die Menschenrechte und das EU-Recht geachtet werden, ein Staat, der seine Grenzen nicht rechtswidrig geschlossen hat.
Menschen sind gekommen. Und Menschen haben sie aufgenommen.
Menschen sind gekommen. Und Menschen haben sie aufgenommen. Schon das allein ist eine Erfolgsgeschichte. Dieser lange Sommer der Flucht im Jahr 2015 traf auf eine lebendige Humanität, Empathie und die Idee der Menschenrechte verwirklichenden Zivilgesellschaft. Und dann wurde aus der Aufnahme Geflüchteter sogar noch in vielen anderen Hinsichten ein Erfolg.
Aus Flüchtlingen sind neue Nachbar*innen und Freund*innen geworden – und häufig auch neue Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz oder an der Universität.
Aus Flüchtlingen sind neue Nachbar*innen und Freund*innen geworden – und häufig auch neue Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz oder an der Universität, die Deutschland vielfältiger, offener und erfahrungsreicher machen. Anfang März 2020 ist die Hälfte der seit 2013 eingereisten Geflüchteten erwerbstätig – das ging viel schneller als prognostiziert. Ebenso korrigiert werden musste die Prognose der Ausgaben.
Mehr Arbeitstätige und weniger Kosten als erwartet
2015 schätzten Experten des Instituts für Weltwirtschaft, dass die Integration der Flüchtlinge mindestens 20 Mrd. Euro jährlich kosten wird. Die tatsächlichen Ausgaben des Bundes für Flüchtlinge in Deutschland im Jahr 2019 beliefen sich auf 14,7 Mrd. Euro (inklusive Kostenerstattungen an die Bundesländer in Höhe von 6,3 Mrd. Euro). Zum Vergleich: Auch für »Fluchtursachenbekämpfung« außerhalb Deutschlands (darunter fallen auch zweifelhafte Maßnahmen, mit dem Ziel, Geflüchtete fernzuhalten) wurden 8,4 Mrd. Euro ausgegeben.
Gänzlich dabei fehlt außerdem die Gegenrechnung, z.B. die zusätzlichen Steuereinnahmen durch arbeitende Geflüchtete oder die Entlastung von Krankenkassen, weil die neuen Versicherten jünger sind und weniger Leistungen in Anspruch nehmen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und die von der Bundesregierung gebildete Flüchtlingsrücklage in Höhe von mittlerweile 35 Milliarden Euro wurde bisher nicht angetastet. Das alles macht deutlich: Wir sind nicht nur – unabhängig von den Kosten – verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen, weil das individuelle Recht auf Asyl unbedingt gilt. Wir können uns die Aufnahme Schutz suchender Menschen ökonomisch auch gut leisten.
Ein Grundstein: Zivilgesellschaftliches Engagement
Der Sommer der Flucht löste eine Welle der Solidarität aus. Während die Politik debattierte, machten sich Zehntausende in Deutschland buchstäblich über Nacht auf, um gravierende Leerstellen in der Aufnahme und Versorgung der Geflüchteten zu füllen.
Dieses ehrenamtliche Engagement wurde seitens der politisch Verantwortlichen zwar zunächst gelobt – doch dem »Sommer des Willkommens« folgte unmittelbar eine Politik der Abschreckung, Ausgrenzung und Entrechtung von Flüchtlingen.
Kein Teil der Erfolgsgeschichte: Den Rechtspopulist*innen hinterherlaufen
Eine Verschärfung des Asylrechts oder der Behördenpraxis folgte seither auf die andere. Erhöhte Stimmanteile für Rechtspopulist*innen sorgten dafür, dass auch die Regierungsparteien Wortwahl und Agenda von rechts außen teilweise übernommen und in Gesetzesform gegossen haben. Die Liste der Verschärfungen zu Lasten von Geflüchteten ist lang:
Den Anfang machte das »Asylpaket I« schon Ende September 2015. Dort wurden Geflüchtete aufgrund ihrer Herkunft für die Teilnahme an Integrationskursen pauschal in Menschen mit »guter« oder »schlechter« Bleibeperspektive geteilt, Arbeitsverbote gegen Personen aus angeblich »sicheren Herkunftsstaaten« verhängt, die Liste dieser »sicheren Herkunftsstaaten« auf Albanien, Kosovo und Montenegro ausgeweitet und eine Streichung aller Leistungen über das »unabdingbar Notwendige« hinaus für abgelehnte Asylbewerber*innen erlassen. Der Aufenthalt in Erstaufnahmeeinrichtungen (EAEs) wurden von drei auf sechs Monate erhöht, für Personen aus »sicheren Herkunftsstaaten« gilt keine zeitliche Befristung. Der Termin der Abschiebung darf den Betroffenen nicht mehr mitgeteilt werden.
Im »Asylpaket II« Anfang 2016 wurde dann der Familiennachzug für einen großen Teil von Geflüchteten bis 2018 ausgesetzt, Schnellverfahren in »Besonderen Aufnahmeeinrichtungen« verabschiedet und die Abschiebung von kranken Menschen erleichtert. Der damalige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Christoph Strässer trat aus Protest zurück.
Mitte 2017 wurde schließlich das »erste Hau-Ab-Gesetz« (»Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht«) verkündet. Die Bundesländer können seit dem Geflüchtete bis zum Ende ihres Asylverfahrens (maximal zwei Jahre) in Erstaufnahmeeinrichtungen unterbringen anstatt sie auf die Kommunen zu verteilen und Ausreisegewahrsam ist nun länger möglich. Wieder einmal wurden die Regeln zur Abschiebungshaft verschärft, um diese auszuweiten.
Bis 2018 war für subsidiär Schutzberechtige, viele davon aus Syrien geflohen, der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt. Anstatt diese Beschränkung 2018 auslaufen zu lassen und das Recht auf Familieneinheit grundsätzlich wieder herzustellen, wurde lediglich ein monatliches Kontingent von 1.000 Angehörigen eingeführt, die zu ihren Verwandten nach Deutschland einreisen dürfen.
Im »Desintegrationsgesetz«, das im August 2018 folgte und sogar von der damaligen Sozialministerin Nahles kritisiert wurde, wurde schließlich eine Kürzung des Existenzminimums bei Asylbewerber*innen, die angeblich ihre Mitwirkungspflicht verletzen, beschlossen. Außerdem wurde das Aufenthaltsrecht verschärft und eine Wohnsitzauflage für die Zeit nach einer Anerkennung eingeführt – bis heute ein Instrument, das vielen Geflüchteten das Ankommen und bspw. die Arbeitssuche erschwert.
2019 wurde mit dem Migrationspaket das vorerst letzte Maßnahmenpaket geschnürt. Besonders viele Verschärfungen sind in dem zweiten »Hau-Ab-Gesetz« enthalten, welches euphemistisch vom Bundesinnenministerium »Geordnete-Rückkehr-Gesetz« getauft wurde. In dem umfangreichen Paket werden Beschlüsse aus der Vergangenheit, wie bei Attesten, die vor Abschiebung bewahren könnten, oder der Abschiebungshaft, weiter verfestigt und verschärft. Auch gelten Abschiebevorhaben nun als »Dienstgeheimnis« – was auch die unterstützende Zivilgesellschaft einschüchtern soll, die mittlerweile gerne als »Anti-Abschiebe-Industrie« (Unwort des Jahres 2018) diffamiert wird. Also genau die Menschen, deren Engagement 2015 noch gelobt und teilweise gar gefordert wurde.
Für manche Menschen können die Behörden Duldungen nun zu einer »Duldung light« herabstufen, die ein Weg in ein Bleiberecht versperrt. Alle Asylbewerber*innen (bis auf Familien mit Kindern) können außerdem nun bis zu 18 Monate in Erstaufnahmeeinrichtungen festgehalten werden und noch mehr Gruppen als bisher sogar darüber hinaus. Das sind nur einige Auszüge aus den neuen, die Integration erschwerenden Maßnahmen.
Politik behindert Engagement
All das sorgt nicht nur dafür, dass das Ankommen für Flüchtlinge in Deutschland immer weiter erschwert wurde, sondern behindert auch die tolle Unterstützung der vielen engagierten Menschen. Ein Beispiel: Einige Arbeitgeber*innen, die auch auf Appelle aus der Politik hin Geflüchtete angestellt und in Ausbildung gebracht haben, müssen sich nun immer noch mit bürokratischen Hürden beschäftigen. Und immer wieder werden Betrieben dringend benötigte Mitarbeiter*innen durch Abschiebungen entrissen.
Rassistische Haltungen fragen nicht danach, mit welchem Aufenthaltsstatus ein Mensch hier lebt. Sie treffen alle in unserem Land, die als fremd markiert werden.
Dabei ist es ist ein Irrtum, zu denken, dass man gegenüber Flüchtlingen die Grenzen schließt, Stimmung schürt und eine Gesetzesverschärfung nach der anderen auf den Weg bringt, und gleichzeitig Hochqualifizierte mit offenen Armen empfangen kann. Rassistische Haltungen fragen nicht danach, mit welchem Aufenthaltsstatus ein Mensch hier lebt. Sie treffen alle in unserem Land, die als fremd markiert werden.
Trotz Restriktionen und Rassismus: Immer mehr Arbeitnehmende und Studierende
Und trotzdem: Viele Geflüchtete konnten all diese Hürden überwinden. Nicht nur, dass (wie schon erwähnt) zunehmend Menschen mit Fluchterfahrungen in regulären Arbeitsverhältnissen sind, auch sind mehrere Tausend Geflüchtete mittlerweile an deutschen Universitäten immatrikuliert – 18 mal so viele, wie noch 2016.
Zeitgleich wurden mit den Menschen, die neu zu uns gekommen sind, bestehende gesellschaftliche Probleme offengelegt: Eklatanter Mangel an bezahlbarem Wohnraum, über Jahrzehnte hinweg entstanden durch ungehemmte Bodenspekulation und die systematische Vernichtung von Sozialwohnungen; die Vernachlässigung des ländlichen Raums und ein marodes und chronisch unterfinanziertes Bildungssystem.
Unser Ansinnen ist es, gemeinsam eine solidarische Gesellschaft auf dem Fundament der Menschenrechte zu schaffen.
Für all das sind die Geflüchteten jedoch weder Ursache noch verantwortlich. Unser Ansinnen ist es, gemeinsam mit ihnen eine solidarische Gesellschaft auf dem Fundament der Menschenrechte zu schaffen. Denn die Erfahrungen seit 2015 zeigen: #offengeht! Deshalb fordern die Unterzeichnenden, unter anderen der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Neuen Deutschen Medienmacher, landesweite Flüchtlingsräte sowie zahlreiche weitere Organisationen der Asyl- und Integrationsarbeit auf Bundes- und Landesebene:
#offengeht: Der Zugang zum Asylrecht muss an Europas Grenzen gewährleistet sein. Menschenrechtswidrige Push-Backs (direkte Abschiebungen ohne Prüfung eines Asylantrages) durch Griechenland oder andere EU-Mitgliedstaaten müssen aufhören.
#offengeht: Wir können und wir sollten eine erhebliche Zahl von Geflüchteten aufnehmen, die heute in Elendslagern auf den griechischen Inseln und an anderen Orten der europäischen Außengrenze verzweifeln.
#offengeht: Viele Flüchtlingsunterkünfte in den Kommunen stehen zurzeit leer. Andere können kurzfristig reaktiviert werden. Es gibt hinreichend Ressourcen, Kapazitäten und Kompetenzen in Deutschland, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen und unserer internationalen Verantwortung für den Flüchtlingsschutz nachzukommen.
#offengeht: Die Situation in den Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen wird in absehbarer Zeit nicht besser werden, weder in Syrien, noch im Irak, Afghanistan, Eritrea, Somalia oder in der Türkei. Darum sollte nicht auf Abschiebungen gesetzt werden, sondern auf Integration vom ersten Tag an.
#offengeht: Asylsuchende müssen so schnell wie möglich in die Kommunen verteilt werden, um ihre Unterstützung und Integration zu fördern.
#offengeht: Die Vielfaltsfähigkeit zentraler Institutionen und Einrichtungen muss in einer heterogener werdenden Migrationsgesellschaft gezielt gefördert werden, nicht nur im Blick auf neu ankommende Geflüchtete, sondern für alle.
#offengeht: Unterschiedliche Rechtsstatus hier lebender Menschen müssen möglichst zügig angeglichen werden. Statt neue und noch schlechtere Duldungsstatus einzuführen, sollte jede*r spätestens nach fünf Jahren Aufenthalt den »Langheimischen« rechtlich gleichgestellt werden.
#offengeht: Damit alle gleichberechtigt an der Gestaltung der Lebensverhältnisse im Gemeinwesen teilnehmen können, sollten demokratische Rechte nicht an der Staatsangehörigkeit, sondern am Wohnort anknüpfen. Eine »Wohnbürgerschaft« bedeutet unter anderem, dass jede*r ein bedingungsloses Wahlrecht hat an dem Ort, an dem sie*er lebt.
#offengeht: Das hat die Gesellschaft in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt bewiesen, während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren zum Beispiel, als Deutschland hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen hat, nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 und bei der Aufnahme von mehr als 12 Millionen Geflüchteter nach dem Zweiten Weltkrieg. In einer viel wohlhabenderen Gesellschaft als damals bekräftigen wir: #offengeht auch heute!