11.07.2014
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Hier in Debrecen befindet sich eine Haftanstalt für Flüchtlinge innerhalb eines offenen Lagers. Ein Teil der Betroffenen wird inhaftiert, andere im offenen Lager untergebracht. Wer und warum inhaftiert wird, ist undurchsichtig. Foto: Hungarian Helsinki Committee

Verstoßen Abschiebungen von Flüchtlingen nach Ungarn gegen die Menschenrechte? Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof urteilte neulich in einem Fall eines afghanischen Flüchtlings, dass sei nicht der Fall. Dabei ist die Menschenrechtssituation von Flüchtlingen in Ungarn nach wie vor desaströs. Das zeigt ein neuer Bericht des Ungarischen Helsinki Komitees.

Sind Abschie­bun­gen von Flücht­lin­gen nach Ungarn mit der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ver­tret­bar? Das sug­ge­riert ein Gerichts­ur­teil des Euro­päi­schen Men­schen­rechts­ge­richts­hofs (EGMR), der am 3. Juli 2014 über den Fall eines min­der­jäh­ri­gen afgha­ni­schen Flücht­lings urteil­te, der von Öster­reich nach Ungarn abge­scho­ben wer­den soll.

Die Fra­ge ist bri­sant – sie betrifft Tau­sen­de Flücht­lin­ge in der EU, denen im Rah­men der Dub­lin-Ver­ord­nung die Abschie­bung aus ande­ren EU-Staa­ten nach Ungarn droht, weil sie in Ungarn erst­mals die EU betre­ten haben. Allein Deutsch­land hat 2013 Ungarn um die „Über­nah­me“ von 2441 Flücht­lin­gen gebe­ten – ihnen allen droht damit die Abschie­bung nach Ungarn.

„Migra­ti­ons­haft“ heißt jetzt „Asyl­haft“

Ein Bericht des PRO ASYL-Pro­jekt­part­ners Hun­ga­ri­an Hel­sin­ki Com­mit­tee (HHC), der noch nicht in das Urteil des EGMR ein­ging, zeigt, dass die Situa­ti­on von Flücht­lin­gen und Schutz­su­chen­den in Ungarn nach wie vor gra­vie­rend ist: Zwar hat­te Ungarn nach schar­fer Kri­tik von HHC, UNHCR, dem EGMR und der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on Anfang 2013 die soge­nann­te „Migra­ti­ons­haft“ been­det, die Asyl­su­chen­de in Ungarn regel­mä­ßig ins Gefäng­nis brach­te – aber mitt­ler­wei­le wird wie­der inhaf­tiert: Im Juli 2013 wur­de in Ungarn ein neu­es „Asyl­haft­re­gime“ eingeführt.

Etli­che Asyl­su­chen­de, die zum ers­ten Mal einen Asyl­an­trag in Ungarn stel­len – mit­in­be­grif­fen Schutz­su­chen­de, die im Rah­men von Dub­lin nach Ungarn abge­scho­ben wur­den –, wer­den nun wie­der inhaf­tiert, teil­wei­se wäh­rend ihres gesam­ten Asyl­ver­fah­rens. Zwi­schen dem 1. Juli 2013 und dem 17. April 2014 hat die zustän­di­ge Behör­de ins­ge­samt 2.372 Haft­an­ord­nun­gen erlas­sen, Anfang April 2014 waren über 40 Pro­zent aller männ­li­chen neu­en Asyl­su­chen­den inhaftiert.

Haft wird will­kür­lich verhängt

Und wer ein­mal in Haft ist, kommt nicht so schnell wie­der frei: Zwar erfolgt eine regel­mä­ßi­ge recht­li­che Über­prü­fung der Asyl­haft, aber das nur alle 60 Tage, und in der Pra­xis ist die Prü­fung wir­kungs­los: Bei der Ver­län­ge­rung der Haft wer­den pau­schal Text­bau­stei­ne anein­an­der gereiht – es wird nicht im Ein­zel­fall geprüft bzw. begrün­det, war­um die Haft ver­län­gert wird. Und das ist auch schon bei der Haft­an­ord­nung der Fall – eine indi­vi­du­el­le Prü­fung, ob und war­um der oder die Betrof­fe­ne in Haft genom­men wird, fin­det nicht statt.

Die Grün­de, aus denen Haft ange­ord­net wer­den kann, wur­den im Zuge der Geset­zes­än­de­rung im Juli 2013 mas­siv aus­ge­wei­tet und ori­en­tie­ren sich an der EU-Auf­nah­me­richt­li­nie, die 2013 über­ar­bei­tet wur­de: Die Befürch­tung, dass die in der Richt­li­nie fest­ge­leg­ten Grün­de zu einer Aus­wei­tung der Inhaf­tie­rung von Asyl­su­chen­den füh­ren wer­de, hat sich am Bei­spiel Ungarn lei­der voll bestätigt.

Dub­lin-Abschie­bun­gen nach Ungarn sofort aussetzen

Die maxi­ma­le Dau­er der „Asyl­haft“ beläuft sich auf sechs Mona­te. Trotz des Ver­bots der Inhaf­tie­rung von unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen hat HHC immer wie­der Fäl­le doku­men­tiert, in denen min­der­jäh­ri­ge Asyl­su­chen­de gemein­sam mit Erwach­se­nen inhaf­tiert wur­den. Die hygie­ni­schen Bedin­gun­gen in Haft gel­ten als sehr schlecht. Inhaf­tier­te berich­ten immer wie­der über Schlä­ge und Miss­hand­lun­gen durch das Gefäng­nis­per­so­nal. Immer wie­der kommt es zu Pro­tes­ten von Flücht­lin­gen und Akti­vis­tin­nen und Akti­vis­ten gegen das Haftregime.

Neben den mise­ra­blen Lebens­be­din­gun­gen, unter denen Asyl­su­chen­de und Flücht­lin­ge in Ungarn lei­den, ist die Inhaf­tie­rung von Schutz­su­chen­den der zen­tra­le Grund, wei­ter­hin eine sofor­ti­ge Aus­set­zung von Dub­lin-Abschie­bun­gen nach Ungarn zu for­dern. Flucht ist kein Verbrechen.

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